Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar

April 22, 2025

Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar

RA und Notar Krau

Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 25. Juni 2010 (Az.: 2 StR 454/09) befasst sich mit der strafrechtlichen Beurteilung der Beihilfe zum Abbruch einer lebenserhaltenden künstlichen Ernährung bei einer Patientin im Wachkoma.

Der Fall erlangte breite öffentliche Aufmerksamkeit und trug maßgeblich zur Klärung der rechtlichen Rahmenbedingungen in Bezug auf Sterbehilfe und Patientenautonomie in Deutschland bei.

Sachverhalt

Der Angeklagte, ein auf Medizinrecht spezialisierter Rechtsanwalt, beriet die beiden Kinder der seit 2002 im Wachkoma liegenden E. K..

Frau K. wurde künstlich über eine PEG-Sonde ernährt und war nicht mehr ansprechbar.

Bereits 2002 hatte sie gegenüber ihrer Tochter geäußert, im Falle einer Bewusstlosigkeit keine lebensverlängernden Maßnahmen wie künstliche Ernährung oder Beatmung zu wünschen.

Nachdem der zunächst bestellte Ehemann und später eine Berufsbetreuerin die Entfernung der Magensonde ablehnten,

bemühten sich die Kinder, unterstützt vom Angeklagten, um die Einstellung der künstlichen Ernährung. Im August 2007 wurden die Kinder zu Betreuern ihrer Mutter bestellt.

Der behandelnde Hausarzt befürwortete den Abbruch der künstlichen Ernährung, da aus seiner Sicht keine medizinische Indikation mehr bestand.

Die Heimleitung und das Pflegepersonal widersetzten sich zunächst der Einstellung der Ernährung.

Schließlich wurde ein Kompromiss vereinbart, wonach das Personal die Pflege im engeren Sinne übernehmen sollte,

während die Kinder die künstliche Ernährung selbst beenden und die Palliativversorgung sicherstellen sollten.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar

Am 20. Dezember 2007 beendete die Tochter die Nahrungszufuhr über die Sonde und reduzierte die Flüssigkeitszufuhr.

Am folgenden Tag ordnete die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens jedoch die sofortige Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung an und drohte den Kindern mit Hausverbot.

Daraufhin riet der Angeklagte den Kindern telefonisch, den Schlauch der Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen,

da ein kurzfristiger effektiver Rechtsschutz gegen die rechtswidrige Fortsetzung der Ernährung nicht zu erlangen sei.

Er ging davon aus, dass keine Klinik eigenmächtig eine neue Sonde einsetzen würde, sodass Frau K. sterben könnte.

Die Tochter befolgte den Rat und durchtrennte mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch.

Das Pflegepersonal entdeckte dies nach wenigen Minuten, und die Polizei wurde eingeschaltet.

Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft wurde Frau K. gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde.

Sie verstarb dort am 5. Januar 2008 eines natürlichen Todes aufgrund ihrer Erkrankungen.

Entscheidung des Landgerichts Fulda

Das Landgericht Fulda verurteilte den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Mittäterschaft mit der Tochter zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Es sah das Durchtrennen des Schlauchs als aktives Tun an, das weder durch die mutmaßliche Einwilligung der Mutter noch durch Nothilfe oder rechtfertigenden Notstand gerechtfertigt sei.

Einen Erlaubnisirrtum des als Spezialisten tätigen Angeklagten schloss das Landgericht aus.

Die Tochter wurde freigesprochen, da sie sich aufgrund des Rechtsrats des Angeklagten in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden habe.

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Revision des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft

Der Angeklagte legte Revision gegen seine Verurteilung ein und beantragte seinen Freispruch.

Die Staatsanwaltschaft legte Revision gegen die Strafzumessung ein.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der BGH hob das Urteil des Landgerichts auf und sprach den Angeklagten frei.

Die Revision der Staatsanwaltschaft wurde als unbegründet verworfen.

Begründung des BGH

Der BGH stellte fest, dass die vorangegangene Beendigung der künstlichen Ernährung durch die Kinder rechtmäßig war,

da der eindeutige, vor Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit geäußerte Wille der Mutter vorlag und Einvernehmen zwischen den Betreuern und dem behandelnden Arzt bestand.

Unter diesen Umständen durfte die künstliche Ernährung unterlassen werden, ohne dass eine betreuungsgerichtliche Genehmigung erforderlich war.

Die angekündigte Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung durch die Heimleitung stellte somit einen rechtswidrigen Eingriff in die körperliche Integrität und das Selbstbestimmungsrecht der Patientin dar.

Der BGH verneinte eine Rechtfertigung des Durchtrennens des Schlauchs durch Nothilfe, da sich die Handlung

nicht allein gegen Rechtsgüter des Angreifers richtete, sondern primär gegen das hochrangige Rechtsgut Leben der Angegriffenen selbst.

Auch ein rechtfertigender oder entschuldigender Notstand lag nach Ansicht des BGH nicht vor.

Die entscheidende Frage war, ob das aktive Durchtrennen des Schlauchs durch die Einwilligung der Patientin gerechtfertigt sein konnte.

Der BGH stellte fest, dass die bisherige Unterscheidung zwischen erlaubter passiver und verbotener aktiver Sterbehilfe,

die primär auf dem äußeren Erscheinungsbild von Tun und Unterlassen beruhte, nicht länger aufrechterhalten werden kann.

Ein Behandlungsabbruch umfasse regelmäßig aktive und passive Handlungen, deren Einordnung nach den Kriterien des Unterlassungsdelikts problematisch und zufallsabhängig sein könne.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar

Der BGH entwickelte einen normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs, der neben objektiven Handlungselementen auch die subjektive Zielsetzung des Handelnden umfasst,

eine begonnene medizinische Behandlung gemäß dem Willen des Patienten zu beenden oder zu reduzieren.

Eine durch Einwilligung gerechtfertigte Sterbehilfe setze voraus, dass sie objektiv und subjektiv unmittelbar auf eine medizinische Behandlung bezogen ist,

die dem Erhalt oder der Verlängerung des Lebens dient und bei einer lebensbedrohlich erkrankten Person durchgeführt wird.

Erfasst werden das Unterlassen oder der Abbruch einer solchen Behandlung sowie die sogenannte indirekte Sterbehilfe im Rahmen palliativmedizinischer Maßnahmen.

Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen legitimiert die Abwehr nicht gewollter Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und den Fortgang des Lebens und Sterbens, gewährt aber kein Recht,

Dritte zu selbstständigen Eingriffen in das Leben ohne Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung zu veranlassen.

Eine Rechtfertigung durch Einwilligung komme daher nur in Betracht, wenn das Handeln darauf beschränkt ist,

einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen, indem Leiden gelindert, die Krankheit aber nicht mehr behandelt wird.

Im vorliegenden Fall war das Durchtrennen des Schlauchs als Teil des rechtmäßigen Behandlungsabbruchs anzusehen,

der dem zuvor eindeutig geäußerten Willen der Patientin entsprach und darauf abzielte, die rechtswidrige Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung zu verhindern.

Der Angeklagte handelte insofern nicht rechtswidrig, als er die Betreuer in der Durchsetzung des Willens der Patientin beriet.

Der BGH betonte, dass die strafrechtlichen Grenzen des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) unberührt bleiben. Handlungen,

die der Ablehnung einer medizinischen Maßnahme durch den Patienten Rechnung tragen, seien strikt von einer Tötung auf Verlangen zu unterscheiden.

Die Anwendung dieser Grundsätze sei nicht auf Ärzte und Betreuer beschränkt, sondern könne auch das Handeln Dritter erfassen, die als Hilfspersonen hinzugezogen werden.

Da der Angeklagte als beratender Rechtsanwalt der Betreuer handelte und deren Handeln rechtmäßig war, war auch sein Handeln nicht rechtswidrig, weshalb er freizusprechen war.

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen die Strafzumessung war somit unbegründet.

Bedeutung des Urteils

Das Urteil des BGH vom 25. Juni 2010 stellte eine grundlegende Weichenstellung im Bereich der Sterbehilfe in Deutschland dar.

Es bestätigte und präzisierte das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten am Lebensende und stärkte die Position des Patientenwillens

bei Entscheidungen über medizinische Behandlungen, insbesondere den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen.

Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar

Die Aufgabe der strikten Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe in Fällen des Behandlungsabbruchs war ein wesentlicher Aspekt des Urteils.

Der BGH stellte klar, dass es entscheidend auf den Bezug zur medizinischen Behandlung und den Willen des Patienten ankommt, nicht primär auf die Form der Handlung (Tun oder Unterlassen).

Das Urteil trug maßgeblich zur Rechtssicherheit für Patienten, Angehörige, Ärzte und Betreuer bei und beeinflusste die nachfolgende Gesetzgebung, insbesondere im Bereich der Patientenverfügungen.

Es verdeutlichte, dass der Abbruch einer medizinisch nicht mehr indizierten oder vom Patienten nicht gewünschten lebenserhaltenden Maßnahme unter Beachtung des Patientenwillens grundsätzlich rechtmäßig sein kann.

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Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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