Abweichende Standpunkte der Instanzgerichte im Nachbarstreit
BGH Beschluss vom 6.6.2024 – V ZR 201/23
Der Fall dreht sich um einen Nachbarschaftsstreit zwischen den Eigentümern eines Grundstücks (Kläger) und den Eigentümern/Nutznießern des benachbarten Grundstücks (Beklagte).
Konkret geht es um:
Die Kläger wollten die Beklagten dazu verpflichten, die Verkleidung der gemeinsamen Giebelwand zu dulden.
Die Beklagten forderten ihrerseits, dass die Kläger Entlüftungs- und Abwasserrohre entfernen, die von ihrem Gebäude aus über die Grundstücksgrenze ragen.
Der Streit durchlief drei Instanzen (Amtsgericht, Landgericht, Bundesgerichtshof), wobei die Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen, besonders in Bezug auf die Rohre:
Verurteilte die Beklagten zur Duldung der Fassadenarbeiten.
Wies die Forderung der Beklagten auf Rohrentfernung (Widerklage) ab.
Das Gericht sah den Anspruch der Beklagten auf Rohrentfernung als verjährt an, weil die Rohre schon lange installiert waren und das Bestreiten der Beklagten, davon Kenntnis gehabt zu haben, nicht ausreichte.
Verurteilte die Beklagten zur Duldung der Arbeiten nur „Zug um Zug“ gegen die Beseitigung der Rohre.
Verurteilte die Kläger, die Rohre zu entfernen.
Das Gericht hielt den Anspruch auf Rohrentfernung nicht für verjährt. Es war der Ansicht, die Beklagten hätten zulässig mit „Nichtwissen“ bestreiten dürfen, wann die Rohre installiert wurden und damit wann die Verjährung begann.
Hob das Urteil des Landgerichts auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung an das LG zurück.
Das LG hat das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) der Kläger verletzt, indem es ihren nachträglichen Vortrag zur Verjährung nicht berücksichtigt hat.
Der BGH hat den Fall nicht aufgrund der Frage entschieden, ob die Rohre bleiben dürfen oder nicht, sondern wegen eines Verfahrensfehlers des Landgerichts.
Die Kläger hatten in der ersten Instanz (Amtsgericht) gewonnen, da dieses ihren Vortrag zur Verjährung als ausreichend ansah. Für die Kläger gab es daher keinen Anlass, weiter zur Verjährung vorzutragen.
Das Landgericht (als Berufungsgericht) sah die Sache aber anders: Es war der Meinung, das Bestreiten der Beklagten sei zulässig und der Vortrag der Kläger zur Verjährung unzureichend.
Weicht ein Berufungsgericht von der Rechtsansicht der ersten Instanz ab und könnte dies zum Verlust des Prozesses führen, muss es die betroffene Partei rechtzeitig darauf hinweisen (§139 ZPO). Nur so kann die Partei ihren Vortrag noch ergänzen und Beweise anbieten. Das ist eine Konsequenz aus dem Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art.103 GG).
Der BGH stellte fest, dass das Landgericht diesen Hinweis zu spät erteilte – nämlich erst in der mündlichen Verhandlung und nicht rechtzeitig vorher.
Obwohl die Kläger daraufhin einen Schriftsatz mit neuem Vortrag (z.B. einem Brief des Beklagten von 2018, der auf eine Duldung hindeutet, sowie dem regelmäßigen Besuch des Grundstücks) einreichten, berücksichtigte das Landgericht diesen nicht. Es meinte, der Vortrag sei verfristet oder vom gewährten Schriftsatznachlass nicht umfasst.
Der BGH hat klargestellt:
Wird der notwendige Hinweis verspätet erteilt, muss das Gericht der Partei Gelegenheit zur Reaktion geben (z.B. durch Vertagung oder Übergang ins schriftliche Verfahren).
Geschieht das nicht, muss der Vortrag, der als Reaktion auf den verspäteten Hinweis erfolgte, berücksichtigt werden.
Dieser Vortrag ist selbst dann zuzulassen, wenn er neu ist und schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können (die sogenannten Beschränkungen des §531 Abs. 2 ZPO greifen hier nicht). Grund: Die Partei soll nicht gezwungen sein, Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, die aus Sicht des erstinstanzlichen Gerichts gar nicht relevant waren.
Der BGH hat damit ausdrücklich eine frühere, missverständlich formulierte Aussage in einem eigenen Urteil korrigiert (Leitsatz zu NJW-RR 2006,1292). Er bekräftigt: Die Parteien sollen nicht zu Darlegungen gezwungen werden, die vom Rechtsstandpunkt des erstinstanzlichen Gerichts aus betrachtet unerheblich sind.
Der BGH sah den unberücksichtigten Vortrag der Kläger als entscheidungserheblich an, da er die Verjährungsfrage neu bewerten lässt. Insbesondere der Brief von 2018 könnte zeigen, dass die Beklagten die Rohre kannten und deshalb nicht mit „Nichtwissen“ bestreiten dürfen.
Im Nachbarstreit zwischen den Klägern und den Beklagten wurde die Entscheidung des Landgerichts aufgehoben, weil es ein Grundrecht der Kläger verletzt hat: das Recht auf rechtliches Gehör.
Ein Gericht darf einer Partei, die in der Vorinstanz gewonnen hat, nicht ohne rechtzeitige Warnung in der Berufung den Prozess aufgrund einer abweichenden Rechtsansicht verlieren lassen. Die Partei muss die Möglichkeit haben, ihre Argumente und Beweise entsprechend der neuen Sichtweise des Gerichts anzupassen. Die Sache muss nun vom Landgericht erneut verhandelt werden, wobei es den nachträglichen Vortrag der Kläger berücksichtigen muss, um die Frage der Verjährung des Anspruchs auf Rohrentfernung abschließend zu klären.
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