Auslegung eines Testaments im Sinne eines Befreiungsvermächtnisses

Juli 15, 2020

BGH, Urteil vom 16. Juli 1997 – IV ZR 356/96
Auslegung eines Testaments im Sinne eines Befreiungsvermächtnisses
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Kammergerichts vom 14. November 1995 aufgehoben, soweit es über die Berufung des Klägers und über die Kosten des Rechtsstreits entschieden hat.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der Zivilkammer 10 des Landgerichts Berlin vom 19. Mai 1994 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Kläger die Kosten des gesamten Rechtsstreits trägt.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Parteien sind die beiden Söhne der am 19. November 1992 verstorbenen Erblasserin. Sie streiten als Erbe – der Kläger – und als Vermächtnisnehmer – der Beklagte – um deren Nachlaß.
Die Erblasserin war Eigentümerin eines Grundstücks in G., das mit einem dem Reichsheimstättengesetz unterliegenden Haus bebaut war. Den halben Miteigentumsanteil daran verkaufte sie am 23. Dezember 1981 dem Beklagten, der damals die Einliegerwohnung des Hauses innehatte, für 150.000 DM. Die Kaufpreisforderung wurde durch Vertrag vom 17. März 1982 in ein unbefristetes Darlehen umgewandelt. Obwohl der Beklagte den Kaufpreis nicht bezahlt hatte, teilte die Erblasserin am 6. Juni 1982 der N-Bank handschriftlich mit, die Bedingungen über den Erwerb des halben Miteigentumsanteils seien vom Beklagten erfüllt worden.
Im Auftrag der Erblasserin schrieb der für G. zuständige Notar am 22. November 1985 an den Kläger unter Hinweis auf diesen Verkauf unter anderem:
“Ihre Frau Mutter beabsichtigt nun, um Sie Ihrem Bruder gleichzustellen, Sie zu ihrem Alleinerben einzusetzen. Sie hätten jedoch vermächtnisweise an Ihren Bruder die Hälfte des Geldvermögens nach Abzug der Nachlaßverbindlichkeiten sowie die Hälfte ihrer zum Nachlaß gehörenden beweglichen Gegenstände hinauszugeben. Ihr Bruder soll ferner auf sein Pflichtteilsrecht gegenüber seiner Mutter verzichten.”
Am 5. Februar 1986 errichtete die Erblasserin vor diesem Notar ein Testament mit der in diesem Schreiben dargestellten Regelung. Gleichzeitig erklärte sie für den Beklagten handelnd dessen Pflichtteilsverzicht. Der inzwischen in B. wohnende Beklagte genehmigte diese Erklärung am 3. März 1986.
Die Hälfte des nach Abzug der Nachlaßverbindlichkeiten verbleibenden Barvermögens der Erblasserin beträgt 28.328,19 DM. Als der Beklagte diesen Betrag im Hinblick auf das Vermächtnis forderte, rechnete der Kläger mit dem entsprechenden Teil der seiner Meinung nach ihm vererbten Kaufpreisforderung auf. Den überschießenden Betrag von 121.671,81 DM fordert er im Klagewege. Der Beklagte meint, die Kaufpreisforderung sei erledigt. Er verlangt widerklagend den unstreitigen Vermächtnisbetrag.
Außerdem geltend gemachte Auskunfts-, Herausgabe- und Rechnungslegungsansprüche sind in den Vorinstanzen rechtskräftig erledigt worden. Das Landgericht hat unter Abweisung des Zahlungsantrags des Klägers diesen zur Zahlung des Widerklagebetrags von 28.328,19 DM verurteilt. Auf die Berufung des Klägers hat das Kammergericht die Widerklage abgewiesen und dem Zahlungsantrag des Klägers stattgegeben. Dagegen richtet sich die Revision des Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit darin über die Zahlungsanträge entschieden worden ist, und auch in diesem Umfang zur Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
1. Dem Vorbringen der Parteien folgend haben sich die Vorinstanzen nur mit einem Erlaßvertrag befaßt. Sie haben erörtert, ob die Erblasserin und der Beklagte möglicherweise auch durch konkludentes Handeln vereinbart haben, daß die Erblasserin auf die Kaufpreiszahlung verzichtet. Dann würde dem Kläger als dem Erben der in eine Darlehensforderung umgewandelte Kaufpreis nicht mehr zustehen. Einen solchen Erlaßvertrag hat das Landgericht bejaht, das Kammergericht aber verneint.
2. Infolge seiner auf eine Verzichtsvereinbarung gerichteten Betrachtung hat das Kammergericht es unterlassen, die Erklärungen der Erblasserin bei der Testamentserrichtung der Regel des § 2084 BGB entsprechend auszulegen. Das kann der Senat nachholen. Sämtliche maßgeblichen Auslegungsgesichtspunkte ergeben sich hinreichend deutlich aus dem im Berufungsurteil in Bezug genommenen Akteninhalt.
Die erforderliche Auslegung der vom Notar beurkundeten Erklärungen der Erblasserin vom 5. Februar 1986 vor dem Hintergrund ihres vorausgegangenen Verhaltens ergibt, daß sie dem Beklagten die Befreiung von der in ein Darlehen umgewandelten Kaufpreisschuld spätestens mit Eintritt des Erbfalls vermächtnisweise zuwenden wollte. Demgemäß kann der Kläger mit dieser Forderung weder aufrechnen noch sie im Klagewege mit Erfolg beanspruchen. Wegen des Vermächtnisses für den Beklagten steht dem der Arglisteinwand entgegen. Also kann der Beklagte die Erfüllung des unstreitigen Vermächtnisses fordern.
3. Ziel der Auslegung von letztwilligen Verfügungen ist, ihren rechtlich maßgeblichen Inhalt zu ermitteln. Dabei ist der wirkliche Wille des Erblassers zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Dafür muß der Richter auch alle ihm aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zugänglichen Umstände außerhalb der Testamentsurkunde heranziehen. Die Frage, ob der so ermittelte Erblasserwille eine hinreichende Stütze im Testament selbst findet, stellt sich erst danach. Ihre Bejahung ist allerdings erforderlich (vgl. zu allem BGHZ 86, 41, 45 ff. m.w.N.). Die Anwendung dieser Grundsätze führt zu dem unter 2 dargestellten Auslegungsergebnis.
a) Als die Erblasserin das Testament errichtete, ging es ihr in erster Linie darum, die beiden Parteien als ihre einzigen Kinder gleich zu behandeln. Das hat sie so deutlich dem später ihr Testament beurkundenden Notar erklärt, daß dieser in seinem Schreiben vom 22. November 1985 unmißverständlich dieses Gleichstellungsbestreben als maßgeblichen Beweggrund für die beabsichtigte letztwillige Regelung mitteilte. Die Absicht völliger Gleichstellung wird unterstrichen durch den im Schreiben folgenden Satz, in dem das zugunsten des Beklagten auszusetzende Vermächtnis angekündigt wird. Sie wird abgesichert durch den vom Beklagten zu erklärenden Pflichtteilsverzicht.
Diese Regelung – Vermächtnis der Hälfte des Bar- und Mobiliarvermögens mit Pflichtteilsverzicht auf seiten des Beklagten, Alleinerbenstellung des Klägers also bezüglich der der Erblasserin verbliebenen Haushälfte – war zur Gleichstellung des Klägers erforderlich. Denn der Beklagte war infolge des Hausanteilkaufvertrags unstreitig schon seit dem 18. August 1982 im Grundbuch als Miteigentümer eingetragen.
b) Vorausgesetzt war dabei selbstverständlich zunächst, daß etwaige vom Beklagten herrührende Belastungen des Hausgrundstücks vorab gelöscht wurden. Dementsprechend wies der Notar im Schreiben vom 22. November 1985 in dem vorhergehenden Absatz darauf hin, daß die “für Rechnung” des Beklagten eingetragene Buchgrundschuld von 260.000 DM aufgrund der dem Notar vorliegenden Bewilligung gelöscht werden könnte. Offenbar auf diese Buchgrundschuld bezog sich die handschriftliche Erklärung der Erblasserin gegenüber der N-Bank vom 6. Juni 1982, der Beklagte habe die Bedingungen des Anteilskaufvertrags erfüllt. Damit hatte sie dem Beklagten die Eintragung ermöglicht.
Von Bedeutung war weiter, daß die öffentlich-rechtlichen Bindungen als Reichsheimstätte nicht mehr bestanden. Als Inhaber eines Flüchtlingsausweises hatte der Beklagte unstreitig während seiner Wohnzeit in G. die Voraussetzung erfüllt, der zur Belegung erforderliche Mieter der Anliegerwohnung zu sein. Unwidersprochen hat er dargetan, durch vorzeitige Tilgung öffentlicher Mittel die vom Landratsamt am 27. Juli 1982 bewilligte Löschung des Heimstättenvermerks und des damit verbundenen Belegungsrechtes herbeigeführt zu haben. Erst danach wurde er als Miteigentümer eingetragen. So konnte die Erblasserin bei der Testamentserrichtung über ein lastenfreies Hausgrundstück verfügen.
c) Ebenso selbstverständlich war aber vorausgesetzt, daß der Beklagte den Kaufpreis nicht mehr bezahlen mußte. Die Erblasserin wollte ihn schon vorher nicht. Das hatte sie mit der Umwandlung in eine unbefristete Darlehensforderung und dem Schreiben an die N-Bank deutlich gemacht. Unstreitig hat sie vom Beklagten darüber hinaus niemals Zahlung der Darlehensbeträge oder auch nur der ausbedungenen Zinsen verlangt.
Wenn aber diese Schuld nach dem Tod der Erblasserin vom Beklagten bezahlt werden mußte, dann war die bei der Testamentserrichtung maßgebliche Gleichstellungsabsicht in ihr Gegenteil verkehrt. Der Kläger bekam dann als Alleinerbe nicht nur den der Erblasserin verbliebenen halben Miteigentumsanteil, sondern auch noch den im Jahre 1982 als angemessen empfundenen Gegenwert des anderen Anteils. Ebenso wie zur Gleichstellung des Klägers dessen Alleinerbenstellung bezüglich der verbliebenen Haushälfte und damit verbunden der Pflichtteilsverzicht des Beklagten erforderlich war, konnte von einer Gleichstellung auch des Beklagten nur dann die Rede sein, wenn bei der Vererbung des nun lastenfreien Hauses der noch nicht bezahlte Kaufpreis als erledigt angesehen wurde. In eben diesem Sinne hat der Beklagte schon in erster Instanz in seinen Schriftsätzen vom 15. Februar 1994 und vom 21. April 1994 jeweils S. 4 argumentiert. Das übersieht der Kläger bei seinem Vorwurf, der Beklagte habe erstinstanzlich Erfüllung, nicht aber Verzicht behauptet.
d) Dieser Erblasserwille, daß spätestens mit dem Erbfall die Kaufpreisforderung vermächtnisweise zu erlassen war, ergibt sich bei einer den Grundsätzen des § 2084 BGB entsprechenden Auslegung. Er hat in den Erklärungen der Erblasserin vom 5. Februar 1986 auch hinreichenden Ausdruck gefunden. Einerseits hat sie unter I des notariellen Testaments bei der Beschreibung ihrer persönlichen Situation betont, daß sie als Witwe zwei Kinder habe und in der Verfügung über ihr Vermögen “in keiner Weise” beschränkt sei. Weiter hat sie unter II 5 die Abkömmlinge dieser Kinder “zu gleichen Teilen” ersatzweise eingesetzt. Offensichtlich kam es ihr noch für die Enkelgeneration auf die Gleichbehandlung an. Schließlich hat sie gewissenhaft den Nachlaß, der nicht durch das Hausgrundstück verkörpert wurde, auf ihre beiden Söhne gleichmäßig verteilt. Andererseits blieb sie unter III des Testaments bei der Alleinerbeneinsetzung des Klägers, obwohl der Notar sie ausdrücklich über das dem Beklagten gegen den Kläger zustehende Pflichtteilsrecht belehrt hatte, weil sie nämlich gleichzeitig für den Beklagten handelnd dessen Pflichtteilsverzicht erklärte.
4. Weil die in den Vorinstanzen zu Ungunsten des Beklagten getroffenen weiteren Entscheidungen keine zusätzlichen Kosten verursacht haben, hat der Kläger die gesamten Kosten des Rechtsstreits zu tragen (§ 92 Abs. 2 ZPO).

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