BFH Urteil vom 22. Juli 2020, II R 42/17

April 11, 2021

BFH Urteil vom 22. Juli 2020, II R 42/17

Keine Steueranrechnung im Billigkeitswege wegen Aufgabe der Rechtsprechung zur “Überprogression”

vorgehend FG Münster, 12. Oktober 2017, Az: 3 K 1625/15 Erb
Leitsätze

NV: Die Nichtanrechnung der für einen Vorerwerb fehlerhaft festgesetzten Schenkungsteuer im Rahmen des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist nicht unbillig, wenn die fehlerhafte Festsetzung auf einer aufgegebenen Rechtsprechung beruht, auf deren Fortbestand der Steuerpflichtige nicht vertrauen durfte.
Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 12.10.2017 – 3 K 1625/15 Erb wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhielt von seinem Vater in den Jahren 1988, 1995, 2000, 2005, 2006 und 2008 freigebige Zuwendungen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) setzte für den Erwerb 1995 Schenkungsteuer in Höhe von X DM fest, die entrichtet wurde. Der Erwerb 1988 war dabei als Vorerwerb nach § 14 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG) damaliger Fassung berücksichtigt.

Für den Erwerb 2000 setzte das FA Schenkungsteuer in Höhe von X DM fest. Dabei berücksichtigte es den Erwerb 1995 in der Weise, dass es u.a. für den Vorerwerb 1995 die festgesetzte Steuer in Höhe von X DM abzog. Der Kläger zahlte die Steuer. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Für den Erwerb 2005 setzte das FA Schenkungsteuer in Höhe von X € fest.

Für den Erwerb 2006 setzte es zuletzt Schenkungsteuer in Höhe von X € fest. Dabei zog es für die Vorerwerbe 2000 und 2005 gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG die höhere fiktive Steuer von X € ab. Die tatsächlich für diese Vorerwerbe zu entrichtende Steuer nach § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG berechnete es mit X DM/X € (Vorerwerb 2000) und X € (Vorerwerb 2005), d.h. insgesamt mit X €, da der Bundesfinanzhof (BFH) seine bisherige Rechtsprechung zur “Überprogression” mit Urteil vom 02.03.2005 – II R 43/03 (BFHE 209, 153, BStBl II 2005, 728) aufgegeben hatte. Bei der Berechnung für den Vorerwerb 2000 berücksichtigte es ebenfalls nach Maßgabe dieses Urteils den Vorerwerb 1995 nunmehr mit einer fiktiven Steuer gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG von X DM. Der Bescheid ist mit diesem Inhalt bestandskräftig.

Der Kläger beantragte am 04.11.2011, die Schenkungsteuer für den Erwerb 2006 gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO) aus Billigkeitsgründen abweichend festzusetzen. Im Rahmen der Besteuerung des Erwerbs 2006 sei anstelle der fiktiven Steuer nach § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG die tatsächlich für die Vorerwerbe 2000 und 2005 zu entrichtende Steuer gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG abzuziehen. Dies sei die festgesetzte und gezahlte Steuer, für den Vorerwerb 2000 mithin X DM, für den Vorerwerb 2005 wie bisher berechnet X €. Die Nichtanrechnung der für den Vorerwerb 2000 festgesetzten Steuer sei unbillig; sie bedeute, dass er Schenkungsteuer in Höhe von X € doppelt zahlen müsse.

Das FA lehnte den Antrag mit Bescheid vom 23.07.2012 ab und wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 23.04.2015 zurück. Der Zweck des § 163 AO bestehe darin, Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen, die der Gesetzgeber bei der Besteuerung nicht bedacht habe. Eine Billigkeitsmaßnahme dürfe daher nicht auf Erwägungen gestützt werden, die die gesetzlich vorgesehene Besteuerung allgemein oder für bestimmte Fallgruppen außer Kraft setzen würden. Die Umsetzung des BFH-Urteils in BFHE 209, 153, BStBl II 2005, 728 durch die Finanzbehörden habe zu einer Änderung der Berechnung der fiktiven Abzugssteuer nach § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG geführt, die auch für die anschließenden Erwerbe des Klägers gelten müsse. Dass die für einen Vorerwerb gezahlte Steuer von der nach § 14 ErbStG anzurechnenden Steuer abweichen könne, habe der Gesetzgeber in Kauf genommen.

Für den Erwerb 2008 setzte das FA mit Bescheid vom 15.04.2015 Schenkungsteuer in Höhe von X € fest. Für die Vorerwerbe 2000, 2005 und 2006 zog es gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG eine fiktive Steuer von X € ab. Die tatsächlich zu entrichtende Steuer i.S. von § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG berechnete es mit X € und damit wiederum niedriger. Dieser Betrag setzte sich aus den Steuerbeträgen in Höhe von X DM/X € (für den Vorerwerb 2000), X € (für den Vorerwerb 2005) und X € (für den Vorerwerb 2006) zusammen. Mit seinem Einspruch machte der Kläger erneut geltend, im Rahmen der Berechnung der tatsächlich für den Vorerwerb 2000 zu entrichtenden Steuer gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG seien nicht X DM, sondern die festgesetzte und gezahlte Steuer in Höhe von X DM/X € zu berücksichtigen. Bei der Besteuerung des Erwerbs 2008 sei demzufolge eine Steuer auf die Vorerwerbe 2000, 2005 und 2006 von insgesamt X € anzurechnen.

Das FA wies diesen Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 26.05.2015 zurück. Als tatsächlich zu entrichtende Abzugssteuer i.S. des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG sei die Steuer anzusehen, die bei zutreffender Beurteilung der Rechtslage für den Vorerwerb festzusetzen gewesen wäre, nicht die tatsächlich festgesetzte Steuer.

Mit der Klage verfolgte der Kläger sein Begehren, die für den Vorerwerb 2000 festgesetzte Steuer zu berücksichtigen, weiter. Er beantragte, die Schenkungsteuer für den Folgeerwerb 2006 gemäß § 163 AO niedriger festzusetzen; hilfsweise focht er die Schenkungsteuerfestsetzung für den Folgeerwerb 2008 an. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Die Voraussetzungen für die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit lägen nicht vor. Der Umstand, dass die Steuerfestsetzung für einen Vorerwerb unerkannt rechtswidrig gewesen sei, könne nicht dazu führen, dass die rechtsprechungskonforme Anwendung der Anrechnungsvorschriften bei der Besteuerung der Folgeerwerbe unterbleibe. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2017, 1957 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung der § 163 AO und § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG.

Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Vorentscheidung, der Einspruchsentscheidung vom 23.04.2015 und des Ablehnungsbescheids vom 23.07.2012 das FA zu verpflichten, die Schenkungsteuer für den Erwerb vom 00.00.2006 gemäß § 163 AO aus sachlichen Billigkeitsgründen um X € herabzusetzen, hilfsweise neu zu verbescheiden,
hilfsweise, die Vorentscheidung aufzuheben und den Bescheid vom 15.04.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.05.2015 dahingehend zu ändern, dass die Schenkungsteuer für den Erwerb vom 00.00.2008 um X € herabgesetzt wird.

Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe
II.

Die Revision hat keinen Erfolg und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Haupt- und Hilfsantrag sind unbegründet.

1. Zutreffend hat das FG einen Anspruch des Klägers auf abweichende Festsetzung der Schenkungsteuer für den Erwerb 2006 aus Billigkeitsgründen wie auch einen Anspruch auf erneute Bescheidung des Antrags verneint. Das FA hat den Billigkeitsantrag ermessensfehlerfrei abgelehnt.

a) Gemäß § 163 Satz 1 AO in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung (a.F.) können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre.

aa) Der Zweck des § 163 AO liegt darin, sachlichen und persönlichen Besonderheiten des Einzelfalls, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt hat, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst ändernde Korrektur des Steuerbetrags insoweit Rechnung zu tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen (BFH-Urteile vom 22.10.2014 – II R 4/14, BFHE 247, 170, BStBl II 2015, 237, Rz 12, und vom 26.09.2019 – V R 36/17, BFH/NV 2020, 86, Rz 19, jeweils m.w.N.).

bb) Die Entscheidung über die abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO), die gemäß § 102 Satz 1 FGO, ggf. i.V.m. § 121 Satz 1 FGO nur daraufhin überprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Stellt das Gericht eine Ermessensüberschreitung oder einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine einzige Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null), ist es befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen und nach § 101 Satz 1 FGO eine Verpflichtung zum Erlass auszusprechen (ständige Rechtsprechung, BFH-Urteile vom 27.02.2019 – VII R 34/17, BFHE 264, 563, BFH/NV 2019, 736, Rz 14, und vom 26.09.2019 – V R 13/18, BFHE 266, 16, BFH/NV 2020, 35, Rz 12, jeweils m.w.N.).

cc) § 163 Satz 1 AO a.F. gewährt der Finanzbehörde allerdings kein voraussetzungsloses Ermessen. Eine abweichende Steuerfestsetzung nach dieser Vorschrift setzt vielmehr voraus, dass die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Der Begriff “unbillig” ragt in den Ermessensbereich hinein und bestimmt damit zugleich Inhalt und Grenzen der Ermessensausübung (vgl. Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971 – GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603, unter 6.). Da das Merkmal “unbillig” danach ein im gerichtlichen Verfahren überprüfbarer Rechtsbegriff ist, kommt ein dieses Merkmal einschließendes behördliches Ermessen nicht in Betracht (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 28.11.2016 – GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, Rz 98 ff., 106; BFH-Beschluss vom 11.07.2018 – XI R 33/16, BFHE 262, 114, BStBl II 2019, 258, Rz 32; BFH-Urteil in BFHE 264, 563, BFH/NV 2019, 736, Rz 17).

dd) Die Festsetzung einer Steuer ist aus –im Streitfall allein in Betracht kommenden– sachlichen Gründen unbillig, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint. Das ist der Fall, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage –wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte– im Sinne der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte. Dies wiederum kann seinen Grund entweder in Gerechtigkeitsgesichtspunkten oder in einem Widerspruch zu dem der gesetzlichen Regelung zu Grunde liegenden Zweck haben (ständige Rechtsprechung, BFH-Urteil in BFH/NV 2020, 35, Rz 11, m.w.N.).

Eine Billigkeitsentscheidung darf jedoch die generelle Geltungsanordnung des den Steueranspruch begründenden Gesetzes nicht unterlaufen. Sie darf nicht die Wertung des Gesetzes durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem –sich lediglich in einem Einzelfall zeigenden– ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestands abhelfen. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt keine Billigkeitsmaßnahme (ständige Rechtsprechung, BFH-Urteile vom 21.12.2016 – I R 24/15, BFH/NV 2017, 923, Rz 9, und in BFH/NV 2020, 35, Rz 11, jeweils m.w.N.; BFH-Beschluss vom 30.08.2017 – II B 16/17, BFH/NV 2017, 1611, Rz 8, m.w.N.).

b) Die Nichtanrechnung der für einen Vorerwerb fehlerhaft festgesetzten Schenkungsteuer im Rahmen des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist materiell-rechtlich zutreffend und auch nicht unbillig, wenn die Fehlerhaftigkeit der Festsetzung auf einer erst später aufgegebenen Rechtsprechung beruht, auf deren Bestand der Steuerpflichtige jedoch nicht vertrauen durfte.

aa) Die tatsächlich zu entrichtende Steuer i.S. des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist diejenige Steuer, die bei zutreffender Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den Zeitpunkt des Vorerwerbs festzusetzen gewesen wäre. Es ist nicht maßgebend, welche Steuer bestandskräftig festgesetzt oder entrichtet worden ist.

Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 ErbStG werden mehrere innerhalb von zehn Jahren von derselben Person anfallende Vermögensvorteile in der Weise zusammengerechnet, dass dem letzten Erwerb die früheren Erwerbe nach ihrem früheren Wert zugerechnet werden. Von der Steuer für den Gesamtbetrag wird gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG die Steuer abgezogen, die für die früheren Erwerbe nach den persönlichen Verhältnissen des Erwerbers und auf der Grundlage der geltenden Vorschriften zur Zeit des letzten Erwerbs zu erheben gewesen wäre. Anstelle dieser fiktiven anrechenbaren Steuer ist nach § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG die tatsächlich für die in die Zusammenrechnung einbezogenen früheren Erwerbe zu entrichtende Steuer abzuziehen, wenn diese höher ist als die fiktive anrechenbare Steuer nach Satz 2 der Vorschrift. Durch diese Regelungen soll verhindert werden, dass mehrere Teilerwerbe durch Kumulation von Freibeträgen (§ 16 Abs. 1 ErbStG) und/oder Vermeidung der Progression (§ 19 Abs. 1 ErbStG) gegenüber einem einheitlichen Erwerb steuerlich begünstigt werden (vgl. BFH-Urteil vom 08.05.2019 – II R 18/16, BFHE 264, 287, BStBl II 2019, 681, Rz 12, m.w.N.).

Die “tatsächlich für die in die Zusammenrechnung einbezogenen früheren Erwerbe zu entrichtende Steuer” i.S. des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist die Steuer, die bei zutreffender Beurteilung der Sach- und Rechtslage für diese Erwerbe festzusetzen gewesen wäre, nicht die dafür wirklich festgesetzte Steuer. Der Gesetzgeber wollte mit § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG unbillige Folgen vermeiden, die sich aus für den Steuerpflichtigen günstigen Gesetzesänderungen wie höheren Freibeträgen oder niedrigeren Steuersätzen ergeben können. Derartige Änderungen können bewirken, dass die nach § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG anrechenbare fiktive Steuer niedriger ausfällt als die für den Vorerwerb tatsächlich zu entrichtende Steuer. § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG verfolgt hingegen nicht das Ziel, eine Korrekturmöglichkeit für Fehler zu eröffnen, die bei der Steuerfestsetzung für die Vorerwerbe zugunsten oder zulasten des Steuerpflichtigen unterlaufen sind (vgl. BFH-Urteil vom 09.07.2009 – II R 55/08, BFHE 225, 498, BStBl II 2009, 969, unter II.1.b).

bb) Die Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzung für einen Vorerwerb rechtfertigt grundsätzlich keine Steueranrechnung im Billigkeitswege. Eine Unbilligkeit i.S. des § 163 AO liegt nicht vor, wenn die fehlerhafte Festsetzung auf einer aufgegebenen Rechtsprechung beruht, auf deren Bestand der Steuerpflichtige nicht vertrauen durfte.

Bestandskräftig festgesetzte Steuern können im Billigkeitsverfahren nur dann sachlich überprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der Festsetzung zu wehren (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 13.01.2005 – V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, unter II.1., m.w.N.; BFH-Beschlüsse vom 08.10.2014 – X B 24/14, BFH/NV 2015, 153, Rz 26, m.w.N., und vom 08.02.2017 – X B 80/16, BFH/NV 2017, 760, Rz 18). Dieser Grundsatz gilt nicht nur für diejenige Festsetzung, für die der Steuerpflichtige eine Billigkeitsmaßnahme begehrt, sondern auch dann, wenn der Steuerpflichtige die Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzung für einen Vorerwerb im Rahmen der Steueranrechnung nach § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG beanstandet.

Ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs im Hinblick auf eine –später geänderte– höchstrichterliche Rechtsprechung unterblieben, war die Rechtsverfolgung jedenfalls dann nicht unzumutbar, wenn das Vertrauen in den Fortbestand der früheren Rechtsprechung nicht schützenswert war. Vertrauensschutz ist nur dann und solange zu gewähren, als die Steuerpflichtigen nicht mit einer Änderung der Rechtslage rechnen oder ihnen zumindest Zweifel kommen müssen (vgl. BFH-Urteile vom 23.02.1979 – III R 16/78, BFHE 127, 476, BStBl II 1979, 455, unter 2.f, und vom 31.10.1990 – I R 3/86, BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610, unter II.4.a cc, m.w.N.). Daran kann es insbesondere dann fehlen, wenn die frühere Rechtsprechung auf einer zwischenzeitlich geänderten Gesetzeslage beruhte.

c) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das FG die Ablehnung des Antrags durch das FA zu Recht nicht beanstandet. Die Voraussetzungen für eine abweichende Festsetzung der Schenkungsteuer für den Erwerb 2006 aus Billigkeitsgründen liegen nicht vor.

Die Nichtanrechnung der für den Vorerwerb 2000 fehlerhaft zu hoch festgesetzten Steuer nach § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG ist nicht unbillig. Die Rechtswidrigkeit der Festsetzung beruht zwar auf einer Auslegung des § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG, die mit der früheren Rechtsprechung des BFH im Einklang stand und von der der BFH erst nach Bestandskraft des Bescheids mit seinem Urteil in BFHE 209, 153, BStBl II 2005, 728 ausdrücklich abgekehrt ist. Bereits aus der Aufnahme des § 14 Abs. 1 Satz 3 in das ErbStG durch das Jahressteuergesetz 1997 vom 20.12.1996 (BGBl I 1996, 2049) hatten sich aber Zweifel an der Fortgeltung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Überprogression (grundlegend BFH-Urteil vom 17.11.1977 – II R 66/68, BFHE 124, 216, BStBl II 1978, 220) ergeben. Diese Gesetzesänderung bildet eine Zäsur. Es gab keine Hinweise darauf, dass die bisherige Rechtsprechung fortgelten würde. Vielmehr hat der BFH in seinem Urteil vom 30.01.2002 – II R 78/99 (BFHE 197, 280, BStBl II 2002, 316, unter II.5.) ausgeführt, die Neuregelung des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG werfe die Frage auf, ob sie die künftige Anwendung seiner Rechtsprechung zu § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG ausschließe, diese Frage aber offen gelassen. In der Literatur wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Neuregelung möglicherweise zur Aufgabe der bestehenden BFH-Rechtsprechung führen werde (Viskorf, Finanz-Rundschau 2002, 688, 691). Auch wenn diese Äußerungen nach dem Erwerb 2000 getätigt wurden, zeigen sie doch, dass bereits mit der Gesetzesänderung 1997 Zweifel am Fortbestand der Rechtsprechung zur Überprogression aufkommen mussten.

Entgegen der Auffassung des Klägers bedeutet die Nichtanrechnung der rechtswidrig festgesetzten Steuer auch keine doppelte Besteuerung. Vielmehr wird der dem Kläger durch die rechtswidrige Festsetzung entstandene Nachteil lediglich nicht korrigiert.

2. Das FG hat auch zu Recht entschieden, dass die Festsetzung der Schenkungsteuer für den Erwerb 2008 rechtmäßig ist. Nach den unter II.1.b aa dargestellten Grundsätzen hat das FA die Vorerwerbe 2000, 2005 und 2006 mit einer fiktiven anrechenbaren Steuer in Höhe von X € nach § 14 Abs. 1 Satz 2 ErbStG zutreffend berücksichtigt. Die tatsächlich für den Vorerwerb 2000 zu entrichtende Steuer i.S. des § 14 Abs. 1 Satz 3 ErbStG hat es zu Recht mit X DM und nicht mit X DM berechnet.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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