EuGH Rechtssache C‑617/20

Juni 13, 2022

EuGH Rechtssache C‑617/20 – Verordnung (EU) Nr. 650/2012 – Gültigkeit der Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft

Zusammenfassung von RA und Notar Krau

In der EuGH-Rechtssache C-617/20 ging es um die Gültigkeit der Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft gemäß Verordnung (EU) Nr. 650/2012.

Ein deutsches Gericht hatte Fragen zur Auslegung dieser Verordnung gestellt. Kernfragen waren, ob eine Erklärung zur Ausschlagung, die vor dem Gericht des gewöhnlichen Aufenthalts des Erben abgegeben wurde, vor dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht wirksam ist.

Es gab unterschiedliche Meinungen, ob die Abgabe der Erklärung vor dem Gericht des gewöhnlichen Aufenthalts ausreicht oder ob die Erklärung dem zuständigen Gericht mit bestimmten Formalitäten vorgelegt werden muss.

Der EuGH sollte klären, welche Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Erklärung gelten und ob die Erklärung in der Sprache des zuständigen Gerichts abgegeben werden muss.

Das EuGH-Urteil sollte Klarheit über die rechtlichen Anforderungen bei Erbschaftsausschlagungen in grenzüberschreitenden Fällen schaffen.

Inhaltsverzeichnis:

I. Einleitung

  • Hintergrund der EuGH-Rechtssache C‑617/20
  • Ziel des EuGH-Urteils

II. Rechtlicher Rahmen

  • Verordnung (EU) Nr. 650/2012
  • Deutsches Recht

III. Sachverhalt

  • Der Fall W. N. und E. G.
  • Die Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft

IV. Vorlagefragen an den EuGH

V. Auslegung und Antwort des EuGH

  • Autonome und einheitliche Auslegung des Unionsrechts
  • Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft
  • Substitution der Erklärung vor dem Gericht des gewöhnlichen Aufenthalts
  • Erforderliche Kenntnis des für die Rechtsnachfolge zuständigen Gerichts
  • Sprache und Form der Erklärung

VI. Schlussfolgerung und Klarstellung durch den EuGH

  • Zusammenfassung der EuGH-Antwort auf die Vorlagefragen
  • Klarheit über rechtliche Anforderungen bei Erbschaftsausschlagungen in grenzüberschreitenden Fällen

VII. Fazit und Implikationen

  • Bedeutung des EuGH-Urteils für die Erbschaftsausschlagung in der EU
  • Auswirkungen auf die Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen

VIII. Abschließende Bemerkungen

  • Relevanz und Anwendung des EuGH-Urteils in der Praxis
  • Notwendigkeit der Einhaltung der Unionseinheitlichkeit und des Gleichheitssatzes

Zum Entscheidungstext:

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

2. Juni 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Erbrechtliche Maßnahmen – Verordnung (EU) Nr. 650/2012 – Art. 13 und 28 – Gültigkeit der Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft – Erbe, der seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem des für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gerichts hat – Vor dem Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Erben abgegebene Erklärung“

In der Rechtssache C‑617/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 20. November 2020, in dem Verfahren auf Betreiben von

T. N.,

N. N.,

Beteiligte:

E. G.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis, M. Ilešič (Berichterstatter), D. Gratsias und Z. Csehi,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Greco, Avvocato dello Stato,

– der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch S. Grünheid, W. Wils und M. Wilderspin, dann durch S. Grünheid und W. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2022

folgendes

Urteil Rechtssache C‑617/20

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 13 und 28 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl. 2012, L 201, S. 107).

Es ergeht im Rahmen eines von T. N. und N. N. eingeleiteten Verfahrens, das einen Antrag auf Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins über den Nachlass von W. N., des Ehemanns von E. G. und des Onkels von T. N. und N. N. (im Folgenden: Neffen des Erblassers), betrifft.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Die Erwägungsgründe 7, 32 und 67 der Verordnung Nr. 650/2012 sehen vor:

„(7) Die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug derzeit noch Schwierigkeiten bereitet, sollten ausgeräumt werden, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. In einem europäischen Rechtsraum muss es den Bürgern möglich sein, ihren Nachlass im Voraus zu regeln. Die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger müssen effektiv gewahrt werden.

(32) Im Interesse der Erben und Vermächtnisnehmer, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen als dem Mitgliedstaat haben, in dem der Nachlass abgewickelt wird oder werden soll, sollte diese Verordnung es jeder Person, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht dazu berechtigt ist, ermöglichen, Erklärungen über die Annahme oder Ausschlagung einer Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder zur Begrenzung ihrer Haftung für Nachlassverbindlichkeiten vor den Gerichten des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der Form abzugeben, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen ist. Dies sollte nicht ausschließen, dass derartige Erklärungen vor anderen Behörden dieses Mitgliedstaats, die nach nationalem Recht für die Entgegennahme von Erklärungen zuständig sind, abgegeben werden. Die Personen, die von der Möglichkeit Gebrauch machen möchten, Erklärungen im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, sollten das Gericht oder die Behörde, die mit der Erbsache befasst ist oder sein wird, innerhalb einer Frist, die in dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht vorgesehen ist, selbst davon in Kenntnis setzen, dass derartige Erklärungen abgegeben wurden.

(67) Eine zügige, unkomplizierte und effiziente Abwicklung einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug innerhalb der Union setzt voraus, dass die Erben, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter in der Lage sein sollten, ihren Status und/oder ihre Rechte und Befugnisse in einem anderen Mitgliedstaat, beispielsweise in einem Mitgliedstaat, in dem Nachlassvermögen belegen ist, einfach nachzuweisen. …“

Kapitel II („Zuständigkeit“) dieser Verordnung umfasst u. a. deren Art. 4 und 13.

Art. 4 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung lautet:

„Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“

EuGH Rechtssache C‑617/20

Art. 13 („Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils“) der Verordnung Nr. 650/2012 bestimmt:

„Außer dem gemäß dieser Verordnung für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht sind die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht vor einem Gericht eine Erklärung über die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder eine Erklärung zur Begrenzung der Haftung der betreffenden Person für die Nachlassverbindlichkeiten abgeben kann, für die Entgegennahme solcher Erklärungen zuständig, wenn diese Erklärungen nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vor einem Gericht abgegeben werden können.“

Kapitel III („Anzuwendendes Recht“) der Verordnung Nr. 650/2012 umfasst u. a. deren Art. 21, 23 und 28.

Art. 21 („Allgemeine Kollisionsnorm“) Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes vorgesehen ist, unterliegt die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, in dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“

In Art. 23 („Reichweite des anzuwendenden Rechts“) Abs. 1 und 2 der Verordnung heißt es:

„(1) Dem nach Artikel 21 oder Artikel 22 bezeichneten Recht unterliegt die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen.

(2) Diesem Recht unterliegen insbesondere:

e) der Übergang der zum Nachlass gehörenden Vermögenswerte, Rechte und Pflichten auf die Erben und gegebenenfalls die Vermächtnisnehmer, einschließlich der Bedingungen für die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft oder eines Vermächtnisses und deren Wirkungen;

…“

Art. 28 („Formgültigkeit einer Annahme- oder Ausschlagungserklärung“) der Verordnung bestimmt:

„Eine Erklärung über die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder eine Erklärung zur Begrenzung der Haftung des Erklärenden ist hinsichtlich ihrer Form wirksam, wenn diese den Formerfordernissen entspricht

a) des nach den Artikeln 21 oder 22 auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts oder

b) des Rechts des Staates, in dem der Erklärende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.“

Deutsches Recht

In § 1942 („Anfall und Ausschlagung der Erbschaft“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: BGB) heißt es:

„(1) Die Erbschaft geht auf den berufenen Erben unbeschadet des Rechts über, sie auszuschlagen (Anfall der Erbschaft).

…“

§ 1943 BGB („Annahme und Ausschlagung der Erbschaft“) lautet:

„Der Erbe kann die Erbschaft nicht mehr ausschlagen, wenn er sie angenommen hat oder wenn die für die Ausschlagung vorgeschriebene Frist verstrichen ist; mit dem Ablauf der Frist gilt die Erbschaft als angenommen.“

§ 1944 BGB („Ausschlagungsfrist“) sieht vor:

„(1) Die Ausschlagung kann nur binnen sechs Wochen erfolgen.

(2) Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in welchem der Erbe von dem Anfall und dem Grund der Berufung Kenntnis erlangt. …

(3) Die Frist beträgt sechs Monate, wenn der Erblasser seinen letzten Wohnsitz nur im Ausland gehabt hat oder wenn sich der Erbe bei dem Beginn der Frist im Ausland aufhält.“

§ 1945 BGB („Form der Ausschlagung“) bestimmt:

„Die Ausschlagung erfolgt durch Erklärung gegenüber dem Nachlassgericht; die Erklärung ist zur Niederschrift des Nachlassgerichts oder in öffentlich beglaubigter Form abzugeben.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen EuGH Rechtssache C‑617/20

W. N., ein niederländischer Staatsangehöriger, der seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte, verstarb am 21. Mai 2018 in Bremen (Deutschland).

Am 21. Januar 2019 beantragte E. G., die die Ehefrau von W. N. war und ihren Wohnsitz in Deutschland hat, beim Amtsgericht Bremen (Deutschland) als dem für die Entscheidung über den Nachlass von W. N. zuständigen Gericht die Erteilung eines Erbscheins, ausweislich dessen sie in gesetzlicher Erbfolge 3/4 des Nachlasses von W. N. geerbt habe und die Neffen des Erblassers, die beide in den Niederlanden wohnten, jeweils 1/8 dieses Nachlasses geerbt hätten.

Mit Schreiben vom 19. Juni 2019 informierte das Amtsgericht Bremen die Neffen des Erblassers über das Nachlassverfahren aufgrund gesetzlicher Erbfolge und bat sie um Übermittlung bestimmter Urkunden zur Abwicklung des Nachlasses.

Am 13. September 2019 gaben die Neffen des Erblassers bei der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) eine Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft nach dem Erblasser ab, die am 30. September 2019 in das dortige Nachlassregister eingetragen wurde.

Mit Schreiben vom 22. November 2019 übermittelte das Amtsgericht Bremen den Neffen des Erblassers den Erbscheinsantrag und forderte sie zur Stellungnahme auf.

Mit einem in niederländischer Sprache abgefassten Schreiben vom 13. Dezember 2019 reichten die Neffen des Verstorbenen beim Amtsgericht Bremen Kopien der Urkunden ein, die von der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) im Nachgang zu ihren Erklärungen über die Ausschlagung der Erbschaft nach dem Erblasser erstellt worden waren.

Mit Schreiben vom 3. Januar 2020 teilte das Amtsgericht Bremen den Neffen des Erblassers mit, dass ihr Schreiben einschließlich der übermittelten Urkunden mangels einer Übersetzung ins Deutsche nicht habe berücksichtigt werden können.

Mit einem in deutscher Sprache abgefassten Schreiben vom 15. Januar 2020 teilte N. N. dem Amtsgericht Bremen mit, dass sein Bruder und er die Erbschaft ausgeschlagen hätten, dass die entsprechende Erklärung im Einklang mit dem Unionsrecht von den zuständigen Justizbehörden in niederländischer Sprache registriert worden sei und dass daher keine Übersetzung der betreffenden Urkunden ins Deutsche erforderlich sei.

Als Antwort hierauf entgegnete das vorlegende Gericht, dass es notwendig sei, die in Rede stehenden einschlägigen Urkunden zu übersetzen und die für die Ausschlagung der Erbschaft gesetzten Fristen einzuhalten.

Mit Beschluss vom 27. Februar 2020 stellte das Amtsgericht Bremen die Tatsachen fest, die zur Erteilung des dem Antrag von E. G. entsprechenden Erbscheins notwendig waren, und befand, dass die Erbschaft als von den Neffen des Erblassers angenommen gelte.

Die Neffen des Erblassers fochten diesen Beschluss an und beantragten eine Fristverlängerung, um weitere Nachweise vorzulegen. Am 30. Juli 2020 übermittelten sie dem Amtsgericht Bremen Farbkopien der von der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) ausgestellten Urkunden sowie deren Übersetzung ins Deutsche. Nachdem das Amtsgericht Bremen den genannten Neffen gegenüber beanstandet hatte, dass die Originale dieser Urkunden nicht übermittelt worden seien, gingen diese Originale am 17. August 2020 bei ihm ein.

Mit Beschluss vom 2. September 2020 half das Amtsgericht Bremen der Beschwerde nicht ab und legte das Verfahren dem vorlegenden Gericht, dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen (Deutschland), zur Entscheidung vor; dabei stellte das Amtsgericht fest, dass davon auszugehen sei, dass die Neffen des Erblassers die Erbschaft angenommen hätten, da sie die Erbschaft nach dem Erblasser nicht fristgerecht ausgeschlagen hätten.

Für eine wirksame Erklärung der Ausschlagung der Erbschaft genüge es weder, dass das deutsche Gericht lediglich über die Abgabe dieser Erklärung vor dem betreffenden niederländischen Gericht in Kenntnis gesetzt werde, noch sei es ausreichend, dass an das deutsche Gericht Kopien der einschlägigen Originalurkunden übersandt würden; vielmehr müsse das deutsche Gericht über die fraglichen Originalurkunden verfügen.

Diese Urkunden hätten dem Amtsgericht Bremen aber erst nach Ablauf der sechsmonatigen Ausschlagungsfrist nach § 1944 Abs. 3 BGB vorgelegen.

Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen eine Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft, die nach dem auf den Erbfall anwendbaren Recht binnen einer bestimmten Frist bei dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht abzugeben ist, als rechtzeitig abgegeben gilt, wenn der Erbe gemäß den Art. 13 und 28 der Verordnung Nr. 650/2012 die Ausschlagung der Erbschaft bei dem zuständigen Gericht des Ortes seines gewöhnlichen Aufenthalts erklärt.

In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es in Deutschland unterschiedliche Ansichten in Schrifttum und Rechtsprechung zur Wirksamkeit der Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft gebe, wenn diese Erklärung bei einem anderen mitgliedstaatlichen Gericht als demjenigen abgegeben werde, das grundsätzlich für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig sei. Nach einer ersten und wohl herrschenden Meinung in Schrifttum und Rechtsprechung soll bereits die Abgabe der Ausschlagungserklärung vor dem Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Erben zur Wirksamkeit der Ausschlagung am Gericht des Erbfalles führen.

Nach einer zweiten in Schrifttum und Rechtsprechung vertretenen Auffassung sei die Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft erst wirksam, wenn sie formgerecht an das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht weitergeleitet werde oder diesem jedenfalls zur Kenntnis gebracht werde. Insoweit gehe aus dem 32. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 650/2012 hervor, dass der Unionsgesetzgeber davon ausgegangen sei, dass eine solche Erklärung ihre Wirkungen erst dann entfalten könne, wenn sie diesem Gericht bekannt gegeben worden sei.

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass Art. 13 der Verordnung Nr. 650/2012 anders als das deutsche Recht das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Erben nicht dazu verpflichte, die Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht zur Kenntnis zu bringen.

Folgte man der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Auffassung, gälte im Ausgangsverfahren die in Rede stehende Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als an dem Tag wirksam geworden, an dem sie von den Neffen des Erblassers bei der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) abgegeben wurde, d. h. am 13. September 2019.

Mithin hätten in diesem Fall die Neffen des Erblassers die Sechsmonatsfrist des § 1944 Abs. 3 BGB zur Erbausschlagung gewahrt, deren Lauf mit der Kenntniserlangung des Erben von dem Anfall der Erbschaft beginne.

Nach der anderen, in Rn. 27 des vorliegenden Urteils dargestellten Meinung könnte es für die Wirksamkeit der in Rede stehenden Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft auf denjenigen Zeitpunkt ankommen, zu dem das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht von dieser Erklärung Kenntnis erlangt habe.

Es stelle sich jedoch die Frage, welchen formalen Voraussetzungen die Wirksamkeit einer solchen Erklärung unterliege; insbesondere sei es fraglich, ob es genüge, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht darüber in Kenntnis zu setzen, dass eine solche Erklärung abgegeben worden sei, ob es ausreiche, ihm Kopien der entsprechenden Urkunden oder in der Sprache dieser Erklärung abgefasste Informationen zu übermitteln, oder ob diesem Gericht vielmehr die über die Ausschlagung von dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats erstellten Urkunden im Original mit einer beglaubigten Übersetzung in die Sprache des für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gerichts übersandt werden müssten.

Unter diesen Umständen hat das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ersetzt die Ausschlagungserklärung eines Erben, der diese an dem für seinen gewöhnlichen Aufenthalt zuständigen Gericht eines Mitgliedstaats nach den dort geltenden Formerfordernissen abgibt, die an dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, abzugebende Ausschlagungserklärung in der Weise, dass sie als zum Zeitpunkt der Erklärungsabgabe als wirksam abgegeben gilt (Substitution)?

2. Für den Fall, dass die erste Frage zu verneinen ist:

Ist neben der formwirksamen Erklärung gegenüber dem für den gewöhnlichen Aufenthalt zuständigen Gericht des Ausschlagenden für das Wirksamwerden seiner Ausschlagungserklärung erforderlich, dass dieser das Gericht, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, über die Abgabe der Erklärung in Kenntnis setzt?

3. Für den Fall, dass die erste Frage zu verneinen und die zweite Frage zu bejahen ist:

a) Ist es für ein Wirksamwerden der Ausschlagungserklärung, insbesondere für die Einhaltung der an seinem Ort geltenden Fristen für die Abgabe dieser Erklärung erforderlich, dass das Gericht, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, in der an seinem Gerichtsort geltenden Sprache angesprochen wird?

b) Ist es für ein Wirksamwerden der Ausschlagungserklärung, insbesondere für die Einhaltung der an seinem Ort geltenden Fristen für die Abgabe dieser Erklärung, erforderlich, dass dem Gericht, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, die von dem Gericht, welches für den gewöhnlichen Aufenthalt des Ausschlagenden zuständig ist, die über die Ausschlagung ausgestellten Urkunden im Original mit einer Übersetzung übergeben werden müssen?

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen EuGH Rechtssache C‑617/20

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren

(Urteil vom 26. Oktober 2021, PL Holdings, C‑109/20, EU:C:2021:875, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft im Sinne der Art. 13 und 28 der Verordnung Nr. 650/2012, die der ausschlagende Erbe vor dem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgibt, als wirksam erfolgt gilt.

In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, ob und gegebenenfalls wann und wie eine solche Erklärung dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht zur Kenntnis zu bringen ist.

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Neffen des Erblassers am 13. September 2019 vor einem Gericht des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts, nämlich der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande), erklärt haben, dass sie die Erbschaft nach dem Erblasser ausschlagen.

Am 13. Dezember 2019 haben sie das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige deutsche Gericht mit einem auf Niederländisch abgefassten Schreiben darüber informiert, dass diese Erklärung abgegeben worden sei, und Kopien der von dem niederländischen Gericht erstellten Urkunden beigefügt. Am 15. Januar 2020 haben sie das deutsche Gericht mit einem nunmehr auf Deutsch abgefassten Schreiben erneut über die Existenz der Erklärung informiert.

Die deutsche Übersetzung und die Originale der von dem niederländischen Gericht erstellten Urkunden sind dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge allerdings erst am 17. August 2020 bei dem deutschen Gericht eingegangen, mithin nach Ablauf der Frist, die das anwendbare Erbstatut vorsieht.

EuGH Rechtssache C‑617/20

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 13 und 28 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen sind, dass eine von einem Erben vor einem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgegebene Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als hinsichtlich ihrer Form wirksam gilt, wenn die vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse eingehalten worden sind, ohne dass es für diese Wirksamkeit erforderlich wäre, dass sie die Formerfordernisse erfüllt, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht beachtet werden müssen.

Zur Beantwortung der Vorlagefragen

35 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung nicht nur ihres Wortlauts, sondern auch des Kontexts der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss

(Urteile vom 1. März 2018, Mahnkopf, C‑558/16, EU:C:2018:138, Rn. 32,

und vom 9. September 2021, UM [Vertrag zur Eigentumsübertragung von Todes wegen], C‑277/20, EU:C:2021:708, Rn. 29).

36 Was erstens den Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmungen und ihren Kontext betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass Art. 13 der Verordnung Nr. 650/2012 zu deren Kapitel II gehört, das sämtliche Gerichtsstände in Erbsachen regelt.

Nach dieser Bestimmung sind – außer dem gemäß dieser Verordnung für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht – die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht eine Erklärung über die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder eine Erklärung zur Begrenzung der Haftung der betreffenden Person für die Nachlassverbindlichkeiten abgeben kann, für die Entgegennahme solcher Erklärungen zuständig.

Art. 13 der Verordnung Nr. 650/2012 sieht somit einen alternativen Gerichtsstand vor, der es Erben, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in dem Mitgliedstaat haben, dessen Gerichte gemäß den allgemeinen Regeln der Art. 4 bis 11 dieser Verordnung für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig sind, ermöglichen soll, ihre Erklärungen über die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft vor einem Gericht des Mitgliedstaats abzugeben, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.

38 Diese Regel über die gerichtliche Zuständigkeit wird durch eine Kollisionsnorm in Art. 28 der Verordnung Nr. 650/2012 ergänzt, der zu Kapitel III dieser Verordnung über das anzuwendende Recht gehört und speziell die Formgültigkeit solcher Erklärungen regelt.

Nach diesem Artikel sind diese Erklärungen hinsichtlich ihrer Form wirksam, wenn sie den Erfordernissen des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts (lex successionis) (Art. 28 Buchst. a) oder den Erfordernissen des Rechts des Staates entsprechen, in dem der Erklärende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 28 Buchst. b).

Dem Wortlaut von Art. 28 der Verordnung Nr. 650/2012 lässt sich entnehmen, dass diese Bestimmung so konzipiert ist, dass sie eine Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als wirksam anerkennt, wenn entweder die Voraussetzungen erfüllt sind, die das Erbrecht, wenn es anwendbar ist, aufstellt, oder die Voraussetzungen erfüllt sind, die das Recht des Staates vorsieht, in dem der ausschlagende Erbe seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn dieses Recht anwendbar ist.

Insoweit ergibt sich – wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat – aus Art. 13 in Verbindung mit Art. 28 der Verordnung Nr. 650/2012, dass zwischen diesen beiden Bestimmungen ein enger Zusammenhang besteht, so dass die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Erbe seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, für die Entgegennahme von Erklärungen über die Ausschlagung der Erbschaft von der Voraussetzung abhängt, dass das in diesem Staat geltende Erbrecht die Möglichkeit der Abgabe einer solchen Erklärung vor einem Gericht vorsieht. Ist diese Voraussetzung erfüllt, bestimmen sich alle Handlungen, die vor einem Gericht des Mitgliedstaats vorzunehmen sind, in dem der Erbe, der eine solche Erklärung abgeben möchte, seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, nach dem Recht dieses Mitgliedstaats.

Was zweitens die mit der Verordnung Nr. 650/2012 verfolgten Ziele betrifft, so wird dieses Verständnis der Art. 13 und 28 dieser Verordnung durch deren 32. Erwägungsgrund bestätigt, wonach diese Bestimmungen „[dem Interesse] der Erben und Vermächtnisnehmer [Rechnung tragen sollen], die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen als dem Mitgliedstaat haben, in dem der Nachlass abgewickelt wird oder werden soll“.

Hierzu sollte es diese Verordnung nach ihrem 32. Erwägungsgrund jeder Person, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht dazu berechtigt ist, ermöglichen, bestimmte Erklärungen hinsichtlich der Erbschaft, darunter auch deren Ausschlagung, vor den Gerichten des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der Form abzugeben, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen ist.

Insoweit hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass Art. 13 der Verordnung Nr. 650/2012 in Verbindung mit ihrem 32. Erwägungsgrund auf die Vereinfachung der Amtswege der Erben und Vermächtnisnehmer abzielt, indem von den Zuständigkeitsregeln der Art. 4 bis 11 dieser Verordnung abgewichen wird

(Urteil vom 21. Juni 2018, Oberle, C‑20/17, EU:C:2018:485, Rn. 42).

42 Diese Auslegung wird darüber hinaus dadurch bestätigt, dass die Verordnung Nr. 650/2012 gemäß ihrem siebten Erwägungsgrund die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen bei der Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug ausräumen soll, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern.

Insbesondere müssen im europäischen Rechtsraum die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger effektiv gewahrt werden

(vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. März 2018, Mahnkopf, C‑558/16, EU:C:2018:138, Rn. 35,

und vom 1. Juli 2021, Vorarlberger Landes-und Hypotheken-Bank, C‑301/20, EU:C:2021:528, Rn. 27 und 34).

So garantiert Art. 28 Buchst. b der Verordnung Nr. 650/2012 in Bezug auf Erklärungen über die Ausschlagung der Erbschaft vor dem nach Art. 13 dieser Verordnung zuständigen Gericht die Effektivität dieser Möglichkeit, die dem Erben zusteht, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gerichts hat.

Hierzu ist festzustellen, dass im Hinblick auf die begrenzte Tragweite der Zuständigkeit des in Art. 13 der Verordnung Nr. 650/2012 genannten Gerichts jede andere Auslegung – die darauf hinausliefe, die Formgültigkeit einer Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft namentlich dadurch Einschränkungen zu unterwerfen, dass sie den Formerfordernissen des Rechts unterläge, das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbar ist – zur Folge hätte, den Bestimmungen der Art. 13 und 28 Buchst. b der Verordnung Nr. 650/2012 jegliche praktische Wirksamkeit zu nehmen und somit die Ziele dieser Verordnung zu beeinträchtigen und gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit zu verstoßen.

Wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, setzt folglich die Wahrung des Ziels der Verordnung Nr. 650/2012, das darin besteht, den Erben die Möglichkeit zu eröffnen, Erklärungen über die Ausschlagung der Erbschaft im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, voraus, dass diese Erben, damit ihre Erklärungen als wirksam erachtet werden, vor Gerichten anderer Mitgliedstaaten keinen weiteren Förmlichkeiten genügen müssen als denjenigen, die nach dem Recht des Mitgliedstaats vorgeschrieben sind, in dem die Erklärung abgegeben wird.

Zur Frage der Übermittlung dieser Erklärungen an das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht ist zu bemerken, dass ausweislich des letzten Satzes des 32. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 650/2012 „[d]ie Personen, die von der Möglichkeit Gebrauch machen möchten, Erklärungen im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, … das Gericht oder die Behörde, die mit der Erbsache befasst ist oder sein wird, innerhalb einer Frist, die in dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht vorgesehen ist, selbst davon in Kenntnis setzen sollten, dass derartige Erklärungen abgegeben wurden“.

Diesem letzten Satz des 32. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 650/2012 lässt sich auf den ersten Blick entnehmen, dass es der Unionsgesetzgeber für erforderlich hält, dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht die Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft zur Kenntnis zu bringen, die vor einem Gericht des Mitgliedstaats abgegeben wird, in dem der ausschlagende Erbe seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Es ist indessen festzustellen, dass weder Art. 13 noch Art. 28 dieser Verordnung einen Mechanismus vorsehen, nach dem solche Erklärungen durch das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des ausschlagenden Erben an das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht zu übermitteln wären.

Dieser 32. Erwägungsgrund geht jedoch davon aus, dass denjenigen Personen, die von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, solche Erklärungen in dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, die Aufgabe anheimfällt, die Behörden, die mit der Erbsache befasst sind, davon in Kenntnis zu setzen, dass derartige Erklärungen abgegeben wurden.

Da es im Unionsrecht kein einheitliches System gibt, das die Übermittlung der die Erbschaft betreffenden Erklärungen an das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht vorsieht, ist der letzte Satz des 32. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 650/2012 dahin zu verstehen, dass es derjenigen Person, die eine Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft abgegeben hat, obliegt, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, damit das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht davon Kenntnis erlangt, dass eine wirksame Erklärung abgegeben wurde.

Werden diese Schritte nicht innerhalb der Frist unternommen, die das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht vorsieht, kann dessen ungeachtet die Wirksamkeit einer solchen Erklärung nicht in Frage gestellt werden.

EuGH Rechtssache C‑617/20

Daher sollte die Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft, die von einem Erben vor dem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts unter Einhaltung der vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse abgegeben wurde, ohne dass eine solche Erklärung zusätzlichen Formerfordernissen des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Rechts unterworfen wird, Rechtswirkungen vor dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht zeitigen, sofern das letztgenannte Gericht davon Kenntnis erlangt hat, dass diese Erklärung abgegeben wurde.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die Neffen des Erblassers vor einem niederländischen Gericht unter Einhaltung der vor diesem geltenden Formerfordernisse eine Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft nach dem Erblasser abgegeben haben und dass das Amtsgericht Bremen vor seiner Entscheidung über die Rechtsfolge von Todes wegen davon Kenntnis erlangt hat, dass diese Erklärung abgegeben worden war.

Hieraus ist ersichtlich, dass das Amtsgericht diese Erklärung unabhängig davon hätte berücksichtigen müssen, ob den weiteren Anforderungen oder den Klarstellungen entsprochen wurde, die vom deutschen Gericht für erforderlich gehalten wurden, um eine solche Erklärung für wirksam zu erachten.

Wie nämlich aus dem 67. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 650/2012 hervorgeht, setzt „[e]ine zügige, unkomplizierte und effiziente Abwicklung einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug innerhalb der Union … voraus“, dass die Erben in der Lage sein sollten, ihren Status und/oder ihre Rechte und Befugnisse in einem anderen Mitgliedstaat einfach nachzuweisen.

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 13 und 28 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen sind, dass eine von einem Erben vor einem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgegebene Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als hinsichtlich ihrer Form wirksam gilt, wenn die vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse eingehalten worden sind, ohne dass es für diese Wirksamkeit erforderlich wäre, dass sie die Formerfordernisse erfüllt, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht beachtet werden müssen.

Kosten

52 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 13 und 28 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses sind dahin auszulegen, dass eine von einem Erben vor einem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgegebene Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als hinsichtlich ihrer Form wirksam gilt, wenn die vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse eingehalten worden sind, ohne dass es für diese Wirksamkeit erforderlich wäre, dass sie die Formerfordernisse erfüllt, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht beachtet werden müssen.

Regan

Jarukaitis

Ilešič

Gratsias

Csehi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 2. Juni 2022.

Der Kanzler

Der Präsident der Fünften Kammer

A. Calot Escobar

E. Regan

EuGH Rechtssache C‑617/20

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