Bayerischer Verfassungsgerichtshof Vf 129 VI-04
VerfGH München: Anrechnung von vorempfangenen Zuwendungen auf den Pflichtteil – Ausschluss des Pflichtteils durch vertraglich vorempfangene Zuwendungen verletzt nicht das rechtliche Gehör und das Willkürverbot
Auch soweit die Fachgerichte der Auffassung sind, dass ein Pflichtteilsverzicht nicht vorliege, weil durch die Ausgestaltung der Anrechnungsbestimmung sichergestellt sei, dass der gesetzliche Pflichtteilsanspruch nicht unterschritten werde, ist ein Verstoß gegen das Willkürverbot nicht feststellbar.
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Schlussurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 28. Mai 2004 Az. 14 O 5473/00 und den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 5. Oktober 2004 Az. 2 U 2279/04, mit dem die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen wurde.
Die Beschwerdeführerin erhielt von ihren Eltern zu Lebzeiten des Vaters Zuwendungen mit der Bestimmung, dass diese auf den Pflichtteil anzurechnen seien.
Am 22. Dezember 1971 schlossen die im Güterstand der Gütergemeinschaft lebenden Eltern der Beschwerdeführerin mit ihren zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährigen, durch einen Ergänzungspfleger vertretenen Töchtern einen notariell beurkundeten Überlassungsvertrag, in dem sie ihnen je zur Hälfte Grundstücke („Ackerland“) schenkten, nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin mit einer Gesamtfläche von 8.786 qm. Ziffer IX dieses Vertrags enthält u. a. folgende Bestimmung:
„Die Überlassung erfolgt schenkungsweise, jedoch unter der Auflage, dass die Erwerberinnen verpflichtet sind, sich den Wert der geschenkten Grundstücke nach den Wertverhältnissen im Zeitpunkt des Ablebens des zuerst versterbenden Elternteils bzw. für den Fall einer vor diesem Zeitpunkt stattfindenden Veräußerung der Grundstücke zu dem Betrag des erzielten Veräußerungserlöses als Vorempfang auf einen von ihnen etwa geltend gemachten Pflichtteilsanspruch gegen die Erben ihrer Eltern anrechnen zu lassen, desgleichen auf ihre gesetzlichen Ansprüche gegen die Erben ihrer Eltern.“
Mit notariellem Vertrag vom 24. Dezember 1973 erhielt die Beschwerdeführerin wie ihre Geschwister an einer Brauerei der Eltern eine Unterbeteiligung, die ebenfalls mit einer Anrechnungsbestimmung auf den Pflichtteil versehen war und die nach der Auseinandersetzung des Vermögens der Gesellschaft im Jahr 1981 zum damaligen Zeitpunkt einen Wert von 42.620 DM aufwies.
In den Jahren 1972 und 1973 veräußerten die Beschwerdeführerin und ihre Schwester Teilflächen (7.041 qm) der ihnen überlassenen Grundstücke zu einem Gesamtpreis von 211.566 DM. Der Veräußerungserlös wurde, wie in der Urkunde vom 22. Dezember 1971 vereinbart, der A. Brauerei als Darlehen zur Verfügung gestellt. Dieses Darlehen wurde der Beschwerdeführerin und ihrer Schwester während des Studiums in den Jahren 1973 bis 1979 in mehreren Teilbeträgen zurückgezahlt.
Im Januar 1992 verkauften die Beschwerdeführerin und ihre Schwester 1.499 qm der restlichen Grundstücksflächen zu einem Quadratmeterpreis von 500 DM. Auf die Beschwerdeführerin entfiel angesichts der hälftigen Beteiligung ihrer Schwester ein Veräußerungserlös von 374.750 DM, wovon rechnerisch die Hälfte (187.375 DM) aus dem Nachlass des Vaters stammt.
Im Nachverfahren über die Aufrechnung machte die Beschwerdeführerin geltend, die im Überlassungsvertrag vom 22. Dezember 1971 enthaltene Anrechnungsklausel auf den Pflichtteil verstoße gegen § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB, nach dessen eindeutigem Wortlaut sich der Wert einer Zuwendung nach dem Zuwendungszeitpunkt bestimme. Die ihr im Überlassungsvertrag zugewendeten Grundstücke könnten deshalb nur mit dem Quadratmeterpreis von 22,25 DM zum Zeitpunkt der Schenkung im Jahre 1971 bewertet werden.
In einem nach Schluss der mündlichen Verhandlung vom 2. April 2004 eingereichten Schriftsatz vom 23. April 2004 trug die Beschwerdeführerin erstmals vor, dass sie und ihre Schwester neben der Auszahlung der Veräußerungserlöse aus den Grundstücksverkäufen von 1972/1973 bzw. der Rückzahlung der Darlehen keinerlei Unterhaltszahlungen von ihren Eltern erhalten hätten. Die Beträge hätten dazu gedient, das Studium zu finanzieren.
Mit dem angegriffenen Schlussurteil vom 28. Mai 2004 hielt das Landgericht das Vorbehaltsurteil aufrecht und erklärte es für vorbehaltlos. Das Gericht erachtete die von § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB abweichende Anrechnungsbestimmung in Ziffer IX des Überlassungsvertrags vom 22. Dezember 1971 für wirksam. § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB sei durch Regelungen des Erblassers abdingbar, so lange sichergestellt sei, dass dem Pflichtteilsberechtigten letztlich kein höherer Wert angerechnet werde, als ihm tatsächlich zugewendet worden sei. Diese Grundsätze seien gewahrt: Zum einen seien nach der vertraglichen Festlegung die veräußerten Grundstücke nur mit dem Veräußerungserlös anzusetzen. Daraus ergebe sich für die Beschwerdeführerin eine geringere Belastung als es der Fall wäre, wenn der Grundstückswert ohne diesbezügliche Bestimmung nach der gängigen Berechnungsweise aus dem Wert der Grundstücke zum Zeitpunkt der Schenkung, indexiert anhand der Entwicklung der Lebenshaltungskosten bis zum Erbfall, zu ermitteln gewesen wäre. Auch der Ansatz der im Januar 1992 veräußerten Grundstücke mit dem Wert zum Zeitpunkt des Erbfalls, der hier mit dem kurz nach dem Tod des Erblassers erzielten Veräußerungserlös identisch sei, benachteilige die Beschwerdeführerin nicht, da der Nachlass ebenfalls zum Zeitpunkt des Erbfalls berechnet worden sei. Der Vorempfang führe dazu, dass der Beschwerdeführerin kein Pflichtteilsanspruch zustehe; sie habe insgesamt mehr erhalten, als es dem nach § 2315 Abs. 2 Satz 1 BGB aus dem fiktiven Nachlass berechneten Pflichtteil entspreche. Wie die Beschwerdeführerin die ihr zugewendeten Gelder aus den Grundstücksverkäufen von 1972 und 1973 verwendet habe, sei für die erbrechtliche Beurteilung nicht relevant.
Mit Verfügung vom 9. August 2004 wies das Oberlandesgericht darauf hin, dass es beabsichtige, die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Das Landgericht habe die Behauptung der Beschwerdeführerin, der Erlös aus den Veräußerungen sei für ihren Ausbildungsunterhalt bestimmt und verwendet worden, nicht berücksichtigen müssen, da dieser Vortrag erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgt sei; einer Berücksichtigung dieses Vorbringens im Berufungsverfahren stehe § 531 Abs. 2 ZPO entgegen. Das Landgericht habe zutreffend die Anrechnungsbestimmung im Überlassungsvertrag vom 22. Dezember 1971 für wirksam erachtet. Durch die Änderung des Bewertungszeitpunktes sei keine Reduzierung unter den tatsächlichen Wert des Pflichtteils zum Zeitpunkt des Erbfalls eingetreten. Zwar sei in der gesetzlichen Regelung des § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB eine Besserstellung des Zuwendungsempfängers bei steigenden Preisen für Sachschenkungen enthalten. Diese Besserstellung könne jedoch vom späteren Erblasser bis zu der Grenze entzogen werden, die dem Pflichtteilsanspruch ohne Berücksichtigung der Zuwendung entspreche. Außerdem genüge die Urkunde vom 22. Dezember 1971 den Formanforderungen an einen teilweisen Pflichtteilsverzicht.
Mit Schriftsatz vom 10. September 2004 machte die Beschwerdeführerin Ausführungen zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens, setzte sich nochmals mit dem Inhalt und der Anwendung des § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB auseinander und wandte sich gegen die Auffassung des Gerichts, dass die Voraussetzungen eines Pflichtteilsverzichts vorlägen.
Zusätzlich führte das Oberlandesgericht aus, dass sich ein Pflichtteilsanspruch der Beschwerdeführerin auch dann nicht ergäbe, wenn die von ihr angegriffene Klausel über die Bestimmung des Bewertungszeitpunktes der auszugleichenden Zuwendungen unwirksam sein sollte. Nach der auch von der Beschwerdeführerin nicht in Frage gestellten Berechnungsmethode sei dann der tatsächliche Wert der zugewendeten Gegenstände zum Zeitpunkt der Zuwendung, ergänzt um die Indexierung mit der Entwicklung der Lebenshaltungskosten bis zum Erbfall, zugrunde zu legen. Unter Berücksichtigung auch des – ebenfalls zu indexierenden – Erlöses aus der Unterbeteiligung in Höhe von unstreitig 42.620 DM ergäbe sich ein negativer Saldo für die Beschwerdeführerin, so dass ein Restanspruch aus dem Pflichtteilsrecht nicht mehr bestehe.
Da der Rechtsstreit die Anwendung einer konkreten Vertragsklausel betreffe, liege weder eine grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits vor, noch erfordere die Fortbildung des Rechts oder die Einheitlichkeit der Rechtsprechung eine Entscheidung durch Urteil (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 ZPO).
Der Beschluss über die Zurückweisung der Berufung wurde den Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 12. Oktober 2004 zugestellt.
II.
Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus:
III.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
Der Verfassungsgerichtshof hat Gerichtsentscheidungen, die – wie hier – auf Bundesrecht beruhen, nur innerhalb enger Grenzen zu überprüfen (ständige Rechtsprechung, vgl. VerfGH vom 31.1.2003 = VerfGH 56,13/16). Der Verfassungsgerichtshof ist kein Rechtsmittelgericht. Es ist nicht seine Aufgabe, Entscheidungen allgemein auf die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen, die Auslegung der Gesetze und ihrer Anwendung auf den konkreten Fall zu kontrollieren. Zu prüfen ist nur, ob das Gericht gegen Normen der Bayerischen Verfassung verstoßen hat, die ein subjektives Recht verbürgen. Gegenüber der Anwendung von materiellem Bundesrecht, das wegen seines höheren Rangs nicht am Maßstab der Bayerischen Verfassung gemessen werden kann, beschränkt sich die Prüfung darauf, ob das Gericht willkürlich gehandelt hat (Art. 118 Abs. 1 BV). In verfahrensrechtlicher Hinsicht überprüft der Verfassungsgerichtshof auch Entscheidungen, die auf Bundesrecht beruhen und in einem bundesrechtlich geregelten Verfahren ergangen sind, daraufhin nach, ob ein Grundrecht der Bayerischen Verfassung verletzt wurde, das, wie das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 91 Abs. 1 BV), mit gleichem Inhalt im Grundgesetz gewährleistet ist (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 8.11.2000 = VerfGH 53, 157/159).
Bei Beachtung dieser Prüfungsschranken können Verfassungsverstöße nicht festgestellt werden.
Willkürlich im Sinne des Art. 118 Abs. 1 BV wäre eine gerichtliche Entscheidung nur dann, wenn sie bei Würdigung der die Verfassung beherrschenden Grundsätze nicht mehr verständlich wäre und sich der Schluss aufdrängte, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen. Selbst eine fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts begründet allein noch keinen Verstoß gegen Art. 118 Abs. 1 BV. Die Entscheidung dürfte unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar erscheinen; sie müsste schlechthin unhaltbar, offensichtlich sachwidrig, eindeutig unangemessen sein (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 2.2.2004 = VerfGH 57, 1/4; VerfGH vom 6.2. 2004 = VerfGH 57, 7/13). Das Willkürverbot verlangt im Hinblick auf die Gebundenheit des Richters an Recht und Gesetz zudem, dass sich ein Gericht dann, wenn es von dem eindeutigen Wortlaut oder von der höchstrichterlichen Auslegung einer Norm abweicht, mit der Rechtslage auseinandersetzt und seine eigene Auffassung mit einer Begründung versieht, die nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt. Ob eine Entscheidungsbegründung angemessen ist, hängt von den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten des Einzelfalls ab (VerfGH vom 23.6.2003 = VerfGH 56, 112/115; BVerfG vom 3.11.1992 = BVerfGE 87, 273/279; BVerfG vom 24.9.2002 = NJW 2003, 501/502).
Die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Rechtsauffassung der Gerichte lässt keinen Verstoß gegen Art. 118 Abs. 1 BV erkennen. Die Würdigung der Gerichte, dass mit der vom Erblasser getroffenen Bestimmung im Ergebnis kein höherer Wert festgelegt wird, als er dem Zuwendungsempfänger tatsächlich zugeflossen ist, bzw. als er sich wertmäßig zum Zeitpunkt des Erbfalls noch in seinem Vermögen befindet und dass als rechtliche Konsequenz daraus der Pflichtteil, wie er ohne Zuwendung bestehen würde, nicht unterschritten wird, ist nachvollziehbar und einleuchtend. Die Billigung der vom Gesetzeswortlaut des § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB abweichenden Anrechnungsbestimmung des Erblassers durch die Gerichte ist auch weder in der generellen Aussage noch im Einzelfall offensichtlich sachwidrig. Die von den Gerichten für ihre Rechtsauffassung gegebene Begründung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Tragende Begründung des Gerichts ist, dass ein (teilweiser) Pflichtteilsverzicht nicht vorliege, weil durch die Ausgestaltung der Anrechnungsanordnung sichergestellt sei, dass der gesetzliche Pflichtteilsanspruch nicht unterschritten werde. Für die tragende Begründung kommt es auf die vom Gericht hilfsweise erörterte Frage, ob den Formerfordernissen des § 2347 BGB an einen Pflichtteilsverzicht genügt ist, nicht an. Es kann deshalb dahin stehen, ob die diesbezüglichen Ausführungen des Oberlandesgerichts der verfassungsgerichtlichen Überprüfung standhielten, weil die angegriffene Entscheidung auf den insoweit geltend gemachten Grundrechtsverletzungen nicht beruhen würde (vgl. VerfGH vom 3.7.1980 = BayVBl 1980, 561,563; VerfGH vom 27.3.1998 = VerfGH 51, 56/63).
Auf der Grundlage der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Billigung des Anrechnungsvorbehalts mit dem Bewertungsstichtag zum Zeitpunkt des Erbfalls für (noch) nicht veräußerte Zuwendungsflächen steht der Beschwerdeführerin auch dann kein Pflichtteils(rest)anspruch nach § 2303 Abs. 1 BGB zu, wenn der Vorempfang der 1972/1973 veräußerten Grundstücke (ebenso wie der Auseinandersetzungserlös von 42.620 DM aus der Unterbeteiligung) bei der Pflichtteilsberechnung unberücksichtigt bliebe. Am negativen Saldo zu Lasten der Beschwerdeführerin würde sich nichts ändern.
IV.
Es ist angemessen, der Beschwerdeführerin eine Gebühr von 750 Euro aufzuerlegen (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 VfGHG).