Bayerischer Verfassungsgerichtshof Vf 129 VI-04

August 30, 2017

Bayerischer Verfassungsgerichtshof Vf 129 VI-04 Anrechnung von vorempfangenen Zuwendungen auf den Pflichtteil – Ausschluss des Pflichtteils durch vertraglich vorempfangene Zuwendungen verletzt nicht das rechtliche Gehör und das Willkürverbot

 

  1. Willkürlich iSv Verf BY Art 118 Abs 1 ist eine gerichtliche Entscheidung nur dann, wenn sie unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist und damit schlechthin unhaltbar, offensichtlich sachwidrig, eindeutig unangemessen ist.
  2. Hier:
  3. Die Entscheidungen des LG bzw des OLG lassen keinen Verstoß gegen das Willkürverbot erkennen. Insbesondere ist die Billigung einer vom Gesetzeswortlaut des BGB § 2315 Abs 2 S 2 abweichenden privatrechtlichen Anrechnungsbestimmung des Grundstücksüberlassungsvertrags zwischen dem Erblasser und der Pflichtteilsberechtigten (Beschwerdeführerin) weder in der generellen Aussage noch im Einzelfall offensichtlich sachwidrig.

Auch soweit die Fachgerichte der Auffassung sind, dass ein Pflichtteilsverzicht nicht vorliege, weil durch die Ausgestaltung der Anrechnungsbestimmung sichergestellt sei, dass der gesetzliche Pflichtteilsanspruch nicht unterschritten werde, ist ein Verstoß gegen das Willkürverbot nicht feststellbar.

Die Auffassung von LG und OLG, dass die vor dem Erbfall empfangenen Zuwendungen des späteren Erblassers an die Beschwerdeführerin dazu geführt haben, dass ihr kein Pflichtteilsanspruch zusteht, da sie mehr erhalten hat als es nach BGB § 2315 Abs 2 S 1 aus dem fiktiven Nachlass berechneten Pflichtteil entspricht, verletzt weder das rechtliche Gehör iSv Verf BY Art 91 Abs 1 noch das Willkürverbot.

Gründe Bayerischer Verfassungsgerichtshof Vf 129 VI-04

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Schlussurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 28. Mai 2004 Az. 14 O 5473/00 und den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 5. Oktober 2004 Az. 2 U 2279/04, mit dem die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen wurde.

Hintergrund der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Rechtsstreitigkeiten ist eine erbrechtliche Auseinandersetzung um den Nachlass des am 23. September 1991 verstorbenen Vaters der Beschwerdeführerin. Der Wert des Nachlasses betrug 1.244.254 DM. Alleinerbe wurde der Bruder der Beschwerdeführerin; ihr selbst steht ebenso wie ihrer Schwester und ihrer Mutter eine Pflichtteilsquote von 1/8 zu.

Die Beschwerdeführerin erhielt von ihren Eltern zu Lebzeiten des Vaters Zuwendungen mit der Bestimmung, dass diese auf den Pflichtteil anzurechnen seien.

Am 22. Dezember 1971 schlossen die im Güterstand der Gütergemeinschaft lebenden Eltern der Beschwerdeführerin mit ihren zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährigen, durch einen Ergänzungspfleger vertretenen Töchtern einen notariell beurkundeten Überlassungsvertrag, in dem sie ihnen je zur Hälfte Grundstücke (“Ackerland”) schenkten, nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin mit einer Gesamtfläche von 8.786 qm. Ziffer IX dieses Vertrags enthält u. a. folgende Bestimmung:

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“Die Überlassung erfolgt schenkungsweise, jedoch unter der Auflage, dass die Erwerberinnen verpflichtet sind, sich den Wert der geschenkten Grundstücke nach den Wertverhältnissen im Zeitpunkt des Ablebens des zuerst versterbenden Elternteils bzw. für den Fall einer vor diesem Zeitpunkt stattfindenden Veräußerung der Grundstücke zu dem Betrag des erzielten Veräußerungserlöses als Vorempfang auf einen von ihnen etwa geltend gemachten Pflichtteilsanspruch gegen die Erben ihrer Eltern anrechnen zu lassen, desgleichen auf ihre gesetzlichen Ansprüche gegen die Erben ihrer Eltern.”

Mit notariellem Vertrag vom 24. Dezember 1973 erhielt die Beschwerdeführerin wie ihre Geschwister an einer Brauerei der Eltern eine Unterbeteiligung, die ebenfalls mit einer Anrechnungsbestimmung auf den Pflichtteil versehen war und die nach der Auseinandersetzung des Vermögens der Gesellschaft im Jahr 1981 zum damaligen Zeitpunkt einen Wert von 42.620 DM aufwies.

In den Jahren 1972 und 1973 veräußerten die Beschwerdeführerin und ihre Schwester Teilflächen (7.041 qm) der ihnen überlassenen Grundstücke zu einem Gesamtpreis von 211.566 DM.

Der Veräußerungserlös wurde, wie in der Urkunde vom 22. Dezember 1971 vereinbart, der A. Brauerei als Darlehen zur Verfügung gestellt. Dieses Darlehen wurde der Beschwerdeführerin und ihrer Schwester während des Studiums in den Jahren 1973 bis 1979 in mehreren Teilbeträgen zurückgezahlt.

Im Januar 1992 verkauften die Beschwerdeführerin und ihre Schwester 1.499 qm der restlichen Grundstücksflächen zu einem Quadratmeterpreis von 500 DM. Auf die Beschwerdeführerin entfiel angesichts der hälftigen Beteiligung ihrer Schwester ein Veräußerungserlös von 374.750 DM, wovon rechnerisch die Hälfte (187.375 DM) aus dem Nachlass des Vaters stammt.

Die Beschwerdeführerin, Beklagte des Ausgangsverfahrens und Berufungsklägerin, wurde durch rechtskräftiges Vorbehaltsurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 23. März 2001 verurteilt, an den Kläger, ihren Bruder, 208.000 DM nebst Zinsen zu zahlen. Die Entscheidung über die Aufrechnung der Beschwerdeführerin gegenüber dem der Klage zugrunde liegenden Zahlungsanspruch des Klägers aus einem ihr im April 1994 gewährten Darlehen mit einem Pflichtteilsanspruch aus dem Erbfall von 1991 blieb vorbehalten.

Im Nachverfahren über die Aufrechnung machte die Beschwerdeführerin geltend, die im Überlassungsvertrag vom 22. Dezember 1971 enthaltene Anrechnungsklausel auf den Pflichtteil verstoße gegen § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB, nach dessen eindeutigem Wortlaut sich der Wert einer Zuwendung nach dem Zuwendungszeitpunkt bestimme. Die ihr im Überlassungsvertrag zugewendeten Grundstücke könnten deshalb nur mit dem Quadratmeterpreis von 22,25 DM zum Zeitpunkt der Schenkung im Jahre 1971 bewertet werden.

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In einem nach Schluss der mündlichen Verhandlung vom 2. April 2004 eingereichten Schriftsatz vom 23. April 2004 trug die Beschwerdeführerin erstmals vor, dass sie und ihre Schwester neben der Auszahlung der Veräußerungserlöse aus den Grundstücksverkäufen von 1972/1973 bzw. der Rückzahlung der Darlehen keinerlei Unterhaltszahlungen von ihren Eltern erhalten hätten. Die Beträge hätten dazu gedient, das Studium zu finanzieren.

Mit dem angegriffenen Schlussurteil vom 28. Mai 2004 hielt das Landgericht das Vorbehaltsurteil aufrecht und erklärte es für vorbehaltlos. Das Gericht erachtete die von § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB abweichende Anrechnungsbestimmung in Ziffer IX des Überlassungsvertrags vom 22. Dezember 1971 für wirksam. § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB sei durch Regelungen des Erblassers abdingbar, so lange sichergestellt sei, dass dem Pflichtteilsberechtigten letztlich kein höherer Wert angerechnet werde, als ihm tatsächlich zugewendet worden sei. Diese Grundsätze seien gewahrt: Zum einen seien nach der vertraglichen Festlegung die veräußerten Grundstücke nur mit dem Veräußerungserlös anzusetzen.

Daraus ergebe sich für die Beschwerdeführerin eine geringere Belastung als es der Fall wäre, wenn der Grundstückswert ohne diesbezügliche Bestimmung nach der gängigen Berechnungsweise aus dem Wert der Grundstücke zum Zeitpunkt der Schenkung, indexiert anhand der Entwicklung der Lebenshaltungskosten bis zum Erbfall, zu ermitteln gewesen wäre. Auch der Ansatz der im Januar 1992 veräußerten Grundstücke mit dem Wert zum Zeitpunkt des Erbfalls, der hier mit dem kurz nach dem Tod des Erblassers erzielten Veräußerungserlös identisch sei, benachteilige die Beschwerdeführerin nicht, da der Nachlass ebenfalls zum Zeitpunkt des Erbfalls berechnet worden sei.

Der Vorempfang führe dazu, dass der Beschwerdeführerin kein Pflichtteilsanspruch zustehe; sie habe insgesamt mehr erhalten, als es dem nach § 2315 Abs. 2 Satz 1 BGB aus dem fiktiven Nachlass berechneten Pflichtteil entspreche. Wie die Beschwerdeführerin die ihr zugewendeten Gelder aus den Grundstücksverkäufen von 1972 und 1973 verwendet habe, sei für die erbrechtliche Beurteilung nicht relevant.

Gegen dieses Urteil legte die Beschwerdeführerin Berufung ein. In der Berufungsbegründung ließ sie u. a. vortragen, dass der Veräußerungserlös aus den 1972/1973 verkauften Grundstücken der Abdeckung ihres Unterhaltsbedarfs in den Jahren des Studiums dienen sollte und gedient habe. Dass wegen der daraus folgenden fehlenden Freigebigkeit der Leistung keine unentgeltliche Zuwendung vorliege und deshalb eine Anrechnung auf den Pflichtteil ausgeschlossen sei, habe das Landgericht ebenso verkannt wie die Unzulässigkeit des vom Erblasser festgesetzten Bewertungsstichtags.

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Mit Verfügung vom 9. August 2004 wies das Oberlandesgericht darauf hin, dass es beabsichtige, die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Das Landgericht habe die Behauptung der Beschwerdeführerin, der Erlös aus den Veräußerungen sei für ihren Ausbildungsunterhalt bestimmt und verwendet worden, nicht berücksichtigen müssen, da dieser Vortrag erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgt sei; einer Berücksichtigung dieses Vorbringens im Berufungsverfahren stehe § 531 Abs. 2 ZPO entgegen.

Das Landgericht habe zutreffend die Anrechnungsbestimmung im Überlassungsvertrag vom 22. Dezember 1971 für wirksam erachtet. Durch die Änderung des Bewertungszeitpunktes sei keine Reduzierung unter den tatsächlichen Wert des Pflichtteils zum Zeitpunkt des Erbfalls eingetreten.

Zwar sei in der gesetzlichen Regelung des § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB eine Besserstellung des Zuwendungsempfängers bei steigenden Preisen für Sachschenkungen enthalten. Diese Besserstellung könne jedoch vom späteren Erblasser bis zu der Grenze entzogen werden, die dem Pflichtteilsanspruch ohne Berücksichtigung der Zuwendung entspreche. Außerdem genüge die Urkunde vom 22. Dezember 1971 den Formanforderungen an einen teilweisen Pflichtteilsverzicht.

Mit Schriftsatz vom 10. September 2004 machte die Beschwerdeführerin Ausführungen zur Zurückweisung verspäteten Vorbringens, setzte sich nochmals mit dem Inhalt und der Anwendung des § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB auseinander und wandte sich gegen die Auffassung des Gerichts, dass die Voraussetzungen eines Pflichtteilsverzichts vorlägen.

Mit dem angegriffenen Beschluss vom 5. Oktober 2004 wies das Oberlandesgericht die Berufung zurück. Ergänzend zu den erteilten Hinweisen führte es nochmals aus, dass und warum ein späterer Erblasser berechtigt sei, den Bewertungsstichtag abweichend von § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB zu bestimmen, so lange der Pflichtteilsberechtigte im Ergebnis nicht tatsächlich weniger erhalte, als es seinem Pflichtteil ohne die Zuwendung entspreche. Hilfsweise begründete das Berufungsgericht seine Entscheidung auch damit, dass der Überlassungsvertrag den Anforderungen an einen Pflichtteilsverzicht genüge.

Zur Behauptung der Beschwerdeführerin, der Erlös aus den Grundstücksveräußerungen von 1972/1973 sei für ihren Unterhalt verwendet worden, führte das Gericht aus, bereits das Landgericht habe diesen Vortrag mit dem zutreffenden Hinweis zurückgewiesen, dass die Verwendung der aus der Grundstücksveräußerung zugeflossenen Gelder für die erbrechtliche Lage irrelevant sei.

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Der Umstand, dass nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin später eine Anrechnung auf etwaige Unterhaltsansprüche erfolgt sei, ändere an der ursprünglichen Schenkung nichts. Das Landgericht habe nach § 296 a ZPO zu Recht davon abgesehen, den entsprechenden Tatsachenvortrag der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen, weil diesbezügliches Vorbringen bei sorgfältiger Prozessführung spätestens vor Beginn der Beweisaufnahme zur Bewertung anrechenbarer Schenkungen hätte eingeführt werden müssen.

Zusätzlich führte das Oberlandesgericht aus, dass sich ein Pflichtteilsanspruch der Beschwerdeführerin auch dann nicht ergäbe, wenn die von ihr angegriffene Klausel über die Bestimmung des Bewertungszeitpunktes der auszugleichenden Zuwendungen unwirksam sein sollte. Nach der auch von der Beschwerdeführerin nicht in Frage gestellten Berechnungsmethode sei dann der tatsächliche Wert der zugewendeten Gegenstände zum Zeitpunkt der Zuwendung, ergänzt um die Indexierung mit der Entwicklung der Lebenshaltungskosten bis zum Erbfall, zugrunde zu legen. Unter Berücksichtigung auch des – ebenfalls zu indexierenden – Erlöses aus der Unterbeteiligung in Höhe von unstreitig 42.620 DM ergäbe sich ein negativer Saldo für die Beschwerdeführerin, so dass ein Restanspruch aus dem Pflichtteilsrecht nicht mehr bestehe.

Da der Rechtsstreit die Anwendung einer konkreten Vertragsklausel betreffe, liege weder eine grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits vor, noch erfordere die Fortbildung des Rechts oder die Einheitlichkeit der Rechtsprechung eine Entscheidung durch Urteil (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 ZPO).

Der Beschluss über die Zurückweisung der Berufung wurde den Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 12. Oktober 2004 zugestellt.

II.

Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer am 12. Dezember 2004 eingegangenen Verfassungsbeschwerde, die sie in rechtlicher Hinsicht mit Schriftsätzen vom 28. Februar 2005, vom 22. Juli 2005 und vom 26. August 2005 ergänzt hat, die Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 91 Abs. 1 BV) und des Willkürverbots (Art. 118 Abs. 1 BV).

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus:

a) Sowohl das Schlussurteil des Landgerichts als auch der die Berufung zurückweisende Beschluss des Oberlandesgerichts verletzten Art. 118 Abs. 1 BV in Gestalt des Willkürverbots, weil beide Entscheidungen auf einer krassen Missdeutung des 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB beruhten und unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar seien. Angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlauts zum Bewertungsstichtag für unter Anrechnungsvorbehalt gestellte Zuwendungen sei es den Gerichten verwehrt, die eigenen rechtspolitischen Vorstellungen an die Stelle der gesetzgeberischen Grundentscheidung zu setzen und ohne angemessene und nachvollziehbare Begründung zum Nachteil des Pflichtteilsberechtigten dessen Pflichtteilsanspruch auszuhöhlen.

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Der Bundesgerichtshof habe in einer Entscheidung vom 4. Juli 1975 (BGHZ 65,75) eine Abweichung vom Gesetzeswortlaut nur hinsichtlich der Indexierung für nominale Wertsteigerungen aufgrund Kaufkraftverlusts, nicht jedoch für reale Wertsteigerungen zugelassen.

Wenn die Gerichte von dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichen wollten, hätten sie nach den Vorgaben sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch des Verfassungsgerichtshofs ihre Entscheidungen zumindest ausführlicher und präziser rechtfertigen müssen.

b) Die tragende Begründung des Beschlusses vom 5. Oktober 2004, die auf der Verkennung des 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB und der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung beruhe, führe im Zusammenhang mit der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO auch zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Aufgrund der – an keiner Stelle des Beschlusses erwähnten – Rechtsprechungsdivergenz sei es dem Berufungsgericht verwehrt gewesen, die Instanz im Wege eines Beschlusses abzuschließen; es hätte in das Berufungshauptverfahren eintreten müssen. Der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör in der Berufungsinstanz setze bei dem für Art. 91 Abs. 1 BV geltenden objektiven Maßstab voraus, dass die Zulässigkeit einer Abkürzung des Berufungsverfahrens keinem Zweifel unterliege.

Darauf, was im Berufungshauptverfahren in der mündlichen Verhandlung noch vorgetragen worden wäre, komme es nicht an. Entscheidend sei insofern nur, dass das Gericht bei Beachtung des Art. 91 Abs. 1 BV von einer Zurückweisung der Berufung gerade durch Beschluss hätte Abstand nehmen müssen.

c) Die weitere Begründung des Beschlusses vom 5. Oktober 2004, dass der Überlassungsvertrag vom 22. Dezember 1971 den Anforderungen an einen Pflichtteilsverzicht genüge, sei in sich völlig widersprüchlich und unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt haltbar; das Gericht verstoße damit ebenfalls gegen das Willkürverbot.

d) In diesem Teil seines Beschlusses habe das Gericht zudem erneut gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör verstoßen, weil es zu dem Standpunkt, eine möglicherweise schwebend unwirksame Anrechnungsvereinbarung sei jedenfalls nach Eintritt der Volljährigkeit durch konkludente Selbstgenehmigung geheilt, in der Verfügung vom 9. August 2004 keinerlei Hinweis gegeben habe.

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e) Auch die fehlende Berücksichtigung ihres Vortrags, der Veräußerungserlös aus den Verkäufen von 1972/1973 bzw. die daraus resultierende Darlehensrückzahlung habe ihrem Ausbildungsunterhalt gedient, verletze das Willkürverbot des Art. 118 Abs. 1 BV. Das Gericht habe in sich widersprüchlich und damit willkürlich zunächst argumentiert, auf die spätere Verwendung des Veräußerungserlöses komme es nicht an, dann aber gefordert, der diesbezügliche Vortrag hätte unter dem Gesichtspunkt der Prozessförderungspflicht spätestens vor Beginn der Beweisaufnahme zu den Grundstückswerten eingeführt werden müssen.

f) Die Zurückweisung ihres Vorbringens, die Darlehensrückzahlungen aus den Veräußerungen von 1972/1973 seien bestimmungsgemäß für ihren Ausbildungsunterhalt verwendet worden, könne zudem nicht auf 531 Abs. 2 ZPO gestützt werden, weil das Gericht keinerlei Feststellungen zur (fehlenden) Nachlässigkeit im Sinne von § 531 Abs. 2 ZPO getroffen habe, und verletze damit auch das Grundrecht auf rechtliches Gehör.

g) Die Hilfsbegründung und Berechnung im Beschluss des Oberlandesgerichts vom 5. Oktober 2004, dass bei Nichtigkeit der Anrechnungsvereinbarung die dann gebotene Indexierung ebenfalls dazu geführt hätte, dass ihr kein Pflichtteilsanspruch zustehe, verletzten gleichermaßen das Willkürverbot und das Grundrecht auf rechtliches Gehör. Willkür liege vor, weil das Gericht Zuwendungen, die dem Ausbildungsunterhalt dienen sollten, in die Indexierung mit einbezogen habe. Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liege vor, weil das Gericht den diesbezüglichen Vortrag der Beschwerdeführerin ersichtlich nicht in Erwägung gezogen habe.

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat von einer Äußerung zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen.

III.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

Der Verfassungsgerichtshof hat Gerichtsentscheidungen, die – wie hier – auf Bundesrecht beruhen, nur innerhalb enger Grenzen zu überprüfen (ständige Rechtsprechung, vgl. VerfGH vom 31.1.2003 = VerfGH 56,13/16). Der Verfassungsgerichtshof ist kein Rechtsmittelgericht. Es ist nicht seine Aufgabe, Entscheidungen allgemein auf die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen, die Auslegung der Gesetze und ihrer Anwendung auf den konkreten Fall zu kontrollieren.

Zu prüfen ist nur, ob das Gericht gegen Normen der Bayerischen Verfassung verstoßen hat, die ein subjektives Recht verbürgen. Gegenüber der Anwendung von materiellem Bundesrecht, das wegen seines höheren Rangs nicht am Maßstab der Bayerischen Verfassung gemessen werden kann, beschränkt sich die Prüfung darauf, ob das Gericht willkürlich gehandelt hat (Art. 118 Abs. 1 BV).

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In verfahrensrechtlicher Hinsicht überprüft der Verfassungsgerichtshof auch Entscheidungen, die auf Bundesrecht beruhen und in einem bundesrechtlich geregelten Verfahren ergangen sind, daraufhin nach, ob ein Grundrecht der Bayerischen Verfassung verletzt wurde, das, wie das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 91 Abs. 1 BV), mit gleichem Inhalt im Grundgesetz gewährleistet ist (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 8.11.2000 = VerfGH 53, 157/159).

Bei Beachtung dieser Prüfungsschranken können Verfassungsverstöße nicht festgestellt werden.

Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts vom 28. Mai 2004 und des Oberlandesgerichts vom 5. Oktober 2004 verstoßen nicht gegen das Willkürverbot (Art. 118 Abs. 1 BV).

Willkürlich im Sinne des Art. 118 Abs. 1 BV wäre eine gerichtliche Entscheidung nur dann, wenn sie bei Würdigung der die Verfassung beherrschenden Grundsätze nicht mehr verständlich wäre und sich der Schluss aufdrängte, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen. Selbst eine fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts begründet allein noch keinen Verstoß gegen Art. 118 Abs. 1 BV. Die Entscheidung dürfte unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar erscheinen; sie müsste schlechthin unhaltbar, offensichtlich sachwidrig, eindeutig unangemessen sein (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 2.2.2004 = VerfGH 57, 1/4; VerfGH vom 6.2. 2004 = VerfGH 57, 7/13).

Das Willkürverbot verlangt im Hinblick auf die Gebundenheit des Richters an Recht und Gesetz zudem, dass sich ein Gericht dann, wenn es von dem eindeutigen Wortlaut oder von der höchstrichterlichen Auslegung einer Norm abweicht, mit der Rechtslage auseinandersetzt und seine eigene Auffassung mit einer Begründung versieht, die nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt.

Ob eine Entscheidungsbegründung angemessen ist, hängt von den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten des Einzelfalls ab (VerfGH vom 23.6.2003 = VerfGH 56, 112/115; BVerfG vom 3.11.1992 = BVerfGE 87, 273/279; BVerfG vom 24.9.2002 = NJW 2003, 501/502).

a) Die Entscheidungen beruhen nicht deswegen auf einer rechtlich unhaltbaren Grundlage, weil beide Gerichte davon ausgegangen sind, der spätere Erblasser könne unter bestimmten Voraussetzungen bei einer Zuwendung unter Anrechnungsvorbehalt auf den Pflichtteil den Bewertungsstichtag abweichend von 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB bestimmen.

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Entgegen dem von der Beschwerdeführerin erhobenen Vorwurf haben die Gerichte damit nicht selbst einen vom Gesetzeswortlaut abweichenden Bewertungszeitpunkt für die Zuwendung festgesetzt, sondern in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise darüber entschieden, ob und inwieweit der spätere Erblasser dies tun darf.

Sie sind mit ihrer Entscheidung auch nicht von höchstrichterlicher Rechtsprechung abgewichen.

Die zum Bewertungsstichtag von Grundstückszuwendungen ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 4. Juli 1975 (BGHZ 65, 75) betraf einen Fall, in dem der spätere Erblasser eine Anrechnungsanordnung getroffen hatte, ohne selbst ausdrücklich eine vom Gesetzeswortlaut des § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB abweichende Bewertung der Zuwendung oder einen anderen Bewertungsstichtag festzulegen. Einer Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung bedurfte es deshalb nicht.

Die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Rechtsauffassung der Gerichte lässt keinen Verstoß gegen Art. 118 Abs. 1 BV erkennen. Die Würdigung der Gerichte, dass mit der vom Erblasser getroffenen Bestimmung im Ergebnis kein höherer Wert festgelegt wird, als er dem Zuwendungsempfänger tatsächlich zugeflossen ist, bzw. als er sich wertmäßig zum Zeitpunkt des Erbfalls noch in seinem Vermögen befindet und dass als rechtliche Konsequenz daraus der Pflichtteil, wie er ohne Zuwendung bestehen würde, nicht unterschritten wird, ist nachvollziehbar und einleuchtend.

Die Billigung der vom Gesetzeswortlaut des § 2315 Abs. 2 Satz 2 BGB abweichenden Anrechnungsbestimmung des Erblassers durch die Gerichte ist auch weder in der generellen Aussage noch im Einzelfall offensichtlich sachwidrig. Die von den Gerichten für ihre Rechtsauffassung gegebene Begründung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 5. Oktober 2004 verstößt nicht gegen das Willkürverbot des Art. 118 Abs. 1 BV, soweit er sich mit einem – etwaigen – Pflichtteilsverzicht und den dafür erforderlichen Formvorschriften auseinandersetzt.

Tragende Begründung des Gerichts ist, dass ein (teilweiser) Pflichtteilsverzicht nicht vorliege, weil durch die Ausgestaltung der Anrechnungsanordnung sichergestellt sei, dass der gesetzliche Pflichtteilsanspruch nicht unterschritten werde. Für die tragende Begründung kommt es auf die vom Gericht hilfsweise erörterte Frage, ob den Formerfordernissen des § 2347 BGB an einen Pflichtteilsverzicht genügt ist, nicht an.

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Es kann deshalb dahin stehen, ob die diesbezüglichen Ausführungen des Oberlandesgerichts der verfassungsgerichtlichen Überprüfung standhielten, weil die angegriffene Entscheidung auf den insoweit geltend gemachten Grundrechtsverletzungen nicht beruhen würde (vgl. VerfGH vom 3.7.1980 = BayVBl 1980, 561,563; VerfGH vom 27.3.1998 = VerfGH 51, 56/63).

Die weiteren von der Beschwerdeführerin wegen der Verneinung eines Pflichtteilsanspruchs erhobenen Grundrechtsrügen sind sowohl in Bezug auf Art. 118 Abs. 1 BV als auch auf Art. 91 Abs. 1 BV unbegründet.

Die in diesem Zusammenhang von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Grundrechtsverletzungen können sich nicht kausal auf die den Pflichtteilsanspruch verneinende Entscheidung auswirken.

Auf der Grundlage der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Billigung des Anrechnungsvorbehalts mit dem Bewertungsstichtag zum Zeitpunkt des Erbfalls für (noch) nicht veräußerte Zuwendungsflächen steht der Beschwerdeführerin auch dann kein Pflichtteils(rest)anspruch nach § 2303 Abs. 1 BGB zu, wenn der Vorempfang der 1972/1973 veräußerten Grundstücke (ebenso wie der Auseinandersetzungserlös von 42.620 DM aus der Unterbeteiligung) bei der Pflichtteilsberechnung unberücksichtigt bliebe.

Am negativen Saldo zu Lasten der Beschwerdeführerin würde sich nichts ändern.

Ohne Erfolg bleibt auch die Rüge, das Oberlandesgericht habe in grundrechtsrelevanter Weise § 522 Abs. 2 ZPO verletzt.

Da das Oberlandesgericht über die Anwendung einer Anrechnungsklausel in einer speziellen Fallgestaltung zu entscheiden hatte, ist es vertretbar und damit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass es nach § 522 Abs. 2 ZPO vorgegangen ist (vgl. VerfGH vom 10.12.2004).

IV.

Es ist angemessen, der Beschwerdeführerin eine Gebühr von 750 Euro aufzuerlegen (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 VfGHG).

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