Besorgnis der Befangenheit eines Richters wegen Festhaltens an einem Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof nach vollständigem Ausgleich der Klageforderung
Gericht: Thüringer Oberlandesgericht 6. Zivilsenat
Entscheidungsdatum: 14.03.2022
Aktenzeichen: 6 W 414/21
Dokumenttyp: Beschluss
vorgehend LG Erfurt 8. Zivilkammer, 1. November 2021, 8 O 1045/18, Beschluss
Dieser Fall dreht sich um einen Rechtsstreit im Zusammenhang mit dem sogenannten „Diesel-Skandal“
Eine Klägerin verklagt einen Autohersteller (Beklagte) auf Rückzahlung des Kaufpreises für ihr Auto gegen Rückgabe des Fahrzeugs. Das ist eine typische Forderung in der Dieselthematik.
Das Landgericht (LG) Erfurt setzt das Verfahren zunächst aus und legt Fragen zur Auslegung von EU-Recht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vor. Das macht ein Gericht, wenn es eine Entscheidung nur treffen kann, nachdem eine höhere Instanz (hier der EuGH für EU-Recht) eine bestimmte Rechtsfrage geklärt hat
Die Beklagte (Autohersteller) zahlt die von der Klägerin geforderte Summe samt Zinsen und teilt dem Gericht mit, dass sie die Kosten des Rechtsstreits anerkennt. Damit meint sie, dass die Forderung der Klägerin erfüllt ist und sich der gesamte Rechtsstreit somit erledigt hat – es gäbe nichts mehr zu entscheiden
Die Klägerin lehnt es jedoch ab, den Rechtsstreit für erledigt zu erklären. Sie will, dass das Verfahren weitergeht
Der Richter am Landgericht entscheidet daraufhin, dass das Verfahren weiterhin ausgesetzt bleibt und der EuGH weiterhin um Antwort auf die Fragen ersucht wird. Er tut dies, obwohl er der Beklagten kurz zuvor noch eine Frist zur Stellungnahme gesetzt hatte, die noch lief (Randnr. 4).
Die Beklagte lehnt den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Sie wirft ihm vor:
Er habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil er entschieden hat, bevor ihre Stellungnahmefrist abgelaufen war
Er verstoße gegen die Dispositionsmaxime (Prinzip, dass die Parteien den Streitgegenstand bestimmen), indem er das Verfahren fortsetzen wolle, obwohl es sich durch die Zahlung erledigt habe und kein objektives Interesse der Parteien mehr bestehe
Er verfolge mit der Aufrechterhaltung der Aussetzung persönliche Interessen an der Klärung abstrakter Rechtsfragen anstatt den konkreten Fall abzuschließen. Er wolle Versäumnisse des Bundesgerichtshofs (BGH) nachholen
Er habe grobe Verfahrensfehler begangen
Das LG weist den Antrag der Beklagten auf Ablehnung des Richters als unbegründet zurück
Die Beklagte legt gegen die Entscheidung des LG die sofortige Beschwerde ein. Dieses Rechtsmittel ist der nächste Schritt, um eine Entscheidung des Gerichts überprüfen zu lassen
Das OLG weist die sofortige Beschwerde der Beklagten zurück, die Beklagte muss die Kosten tragen
Das OLG prüft, ob ein Grund vorliegt, der Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters rechtfertigt. Es reicht der „böse Schein“ oder der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität – die tatsächliche Befangenheit ist nicht nötig
Das OLG kommt zum Schluss, dass die Befangenheit nicht zu besorgen ist, da kein Eindruck einer willkürlichen, auf Voreingenommenheit beruhenden Benachteiligung der Beklagten entsteht
Der Vorwurf ist zutreffend:
Der Richter hat entschieden, obwohl die Stellungnahmefrist der Beklagten noch lief, was eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör (Artikel 103 Absatz 1 GG) darstellt.
ABER:
Ein solcher Verfahrensfehler (selbst wenn er grob ist) begründet nicht automatisch die Besorgnis der Befangenheit. Der Richter hat dargelegt, dass es sich um ein Versehen im Arbeitsalltag handelte, was nachvollziehbar ist und nicht auf Voreingenommenheit schließen lässt
Die einseitige Zahlung der Beklagten führt nicht automatisch zur Erledigung des Rechtsstreits, solange die Klägerin den Rechtsstreit nicht für erledigt erklärt.
Das ist der Grundsatz im Zivilrecht, dass die Parteien (vor allem die Klägerin) den Prozess beherrschen. Nur die Klägerin kann den Streitgegenstand bestimmen und letztlich entscheiden, ob ein Verfahren fortgesetzt oder beendet wird
Nach herrschender Meinung ist die einseitige „Erledigungserklärung“ des Beklagten wirkungslos. Wenn die Klägerin bei ihrem ursprünglichen Antrag bleibt, muss das Gericht über diesen Antrag entscheiden
Die Maßnahmen des Richters (Festhalten an der Aussetzung und der Vorlage an den EuGH) sind zwar von der Überzeugung getragen, dass die Rechtsprechung des BGH (Bundesgerichtshof) im Dieselskandal-Kontext falsch ist.
Diese Überlegungen sind rechtlich begründet und mit dem Streben nach materieller Gerechtigkeit untermauert. Auch wenn die Rechtsauffassung des Richters am Ende falsch sein mag, ist sie nicht willkürlich oder sachfremd
Das OLG hält fest, dass das Vorgehen des Richters, selbst wenn es unzutreffend sein mag, im Lichte des Strebens nach materieller Gerechtigkeit und der kontroversen Diskussion über die Notwendigkeit einer EuGH-Vorlage in diesen Fällen, keinen Eindruck einer voreingenommenen Benachteiligung der Beklagten begründet
Der Richter hatte Informationen über einen vergleichbaren Fall in Gera aus einem „Stiftung Warentest“-Artikel erwähnt, den er online gefunden hatte.
Das OLG erlaubt dies, da es sich um eine offenkundige Tatsache (§ 291 ZPO) handelt. Offenkundig sind Tatsachen, über die man sich aus allgemein zugänglichen und zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkenntnis informieren kann (Internet-Recherche zählt dazu). Der Richter betrieb also keine unzulässige Amtsermittlung (was im Zivilprozess in der Regel den Parteien überlassen ist), sondern nutzte eine erlaubte Informationsquelle.
Die sofortige Beschwerde der Beklagten wird zurückgewiesen.
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