BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
– 1 BvR 2464/97 –
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn L…
– gegen a) | das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 10. Oktober 1997 – 10 U 11/97 -, |
b) | das Teil-Urteil des Landgerichts Hanau vom 5. Dezember 1996 – 7 O 1177/96 – |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 30. August 2000 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft das gesetzliche Pflichtteilsrecht.
„Wir setzen uns hiermit gegenseitig zum alleinigen und ausschließlichen Erben ein. Der überlebende Teil wird in keiner Weise beschränkt oder beschwert. Er kann über das beiderseitige Vermögen in jeder Weise frei verfügen.
Dem Überlebenden wird es auch überlassen, weitere letztwillige Verfügungen zu treffen.
…
Wir wurden von dem Notar auf die gesetzlichen Pflichtteilsbestimmungen hingewiesen und bestimmen hierzu was folgt:
Sollte eines unserer Kinder beim Tod des erstversterbenden Elternteils gegenüber dem überlebenden Elternteil von uns seinen Pflichtteil durchsetzen, so soll er auch nach dem Tod des Längstlebenden ausschließlich seinen Pflichtteil erhalten. Das dadurch freigewordene Vermögen soll den übrigen Kindern zukommen.“
Der – 1945 geborene – jüngste Sohn des Beschwerdeführers (im Folgenden: Kläger) verlangte nach dem Tod seiner Mutter, der Erblasserin, von dem Beschwerdeführer als deren Alleinerben den Pflichtteil. Hierzu verklagte er den Beschwerdeführer vor dem Landgericht im Wege der Stufenklage zunächst auf Auskunftserteilung über den Bestand des Nachlasses gemäß § 2314 BGB. Der Beschwerdeführer wandte ein, die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über den Pflichtteil seien verfassungswidrig, so dass er weder zur Auskunftserteilung noch zur Zahlung verpflichtet sei. Der Kläger habe bereits Ende der 60er Jahre jeden Kontakt zu den Eltern abgebrochen und sich seitdem einer indischen Sekte zugewandt.
Die Auskunftsklage hatte in beiden Rechtszügen Erfolg. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht sahen die Vorschriften über den Pflichtteil als verfassungsmäßig an.
Das Oberlandesgericht führte in dem angegriffenen Urteil aus, neben dem Grundsatz der Testierfreiheit sei auch das Prinzip der Verwandtenerbfolge ein tragendes Strukturprinzip der deutschen Erbrechtsordnung. Nach ganz überwiegender Meinung gehöre das Pflichtteilsrecht zum institutionell verbürgten Gehalt der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. Jedenfalls könne der Gesetzgeber im Rahmen der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Erbrechts den nächsten Verwandten ein Pflichtteilsrecht einräumen. Auf die Frage, ob die in § 2333 BGB enthaltene Regelung über die Entziehung des Pflichtteils eines Angehörigen zu eng und deshalb verfassungswidrig sei, komme es für die Entscheidung ebenso wenig an wie darauf, ob eine verfassungskonforme Auslegung des § 2333 BGB es erfordern könnte, dem Erblasser auch dann ein Recht zur Entziehung des Pflichtteils zuzubilligen, wenn ein familiärer Zusammenhang zwischen dem Erblasser und seinem Kind fehle und auch sonst kein sittlicher, existenzsichernder oder sonstiger Grund für eine Beteiligung am Nachlass gegeben sei. Die Erblasserin habe dem Kläger den Pflichtteil nicht entzogen. Es fehlten auch jegliche Anhaltspunkte dafür, dass sie dies getan hätte, wenn sie erwogen hätte, dass die Voraussetzungen für eine Pflichtteilsentziehung im Lichte verfassungskonformer Auslegung weiter zu verstehen seien, als sich dies aufgrund der Lektüre des § 2333 BGB unmittelbar aufdränge. Der Kläger habe vorgetragen, dass er gegen den Willen des Beschwerdeführers mit seiner Mutter regelmäßig telefonischen Kontakt unterhalten und bis zu ihrem Tode ein herzliches Verhältnis zu ihr gehabt habe. Gegenteiliges habe der Beschwerdeführer nicht unter Beweis gestellt.
Das geltende Pflichtteilsrecht sei mit der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Wesentliches Element der Erbrechtsgarantie sei die Testierfreiheit des Erblassers. Demgegenüber nehme das Pflichtteilsrecht der Verwandten nicht am Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG teil, sondern schränke die Testierfreiheit ein. Bei dieser Einschränkung der Testierfreiheit müsse insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Das Selbstbestimmungsrecht des Testators stehe nicht zur Disposition des Gesetzgebers, Art. 14 GG unterbinde die Familiensozialisierung von Vermögen und Vermögenswerten. Ein Pflichtteilsanspruch der Kinder lasse sich nur aus den unterhaltsrechtlichen Gesichtspunkten der Sicherung der präsenten Existenz und der Ausbildung rechtfertigen. Mit der Entwicklung zum Sozialstaat und dem ständigen Ausbau der Sozialgesetzgebung habe das Erbrecht seine Aufgabe, die Hinterbliebenen wirtschaftlich zu versorgen, weitgehend verloren. Infolge der Veränderung der Altersstruktur seien die Erben im Zeitpunkt des Erbfalls oft bereits selbst im Renten- und Pensionsalter; in dieser Phase des Lebens sei eine zusätzliche Existenzsicherung nicht mehr notwendig. In der DDR habe § 396 ZGB die Konsequenz hieraus gezogen und die Pflichtteilsansprüche von Kindern auf den Fall der Unterhaltsbedürftigkeit beschränkt.
Auch Art. 6 Abs. 1 GG könne eine Einschränkung der Testierfreiheit dann nicht mehr rechtfertigen, wenn eine persönlich-menschliche Bindung zwischen Erblasser und Abkömmling nicht mehr bestehe und eine völlige Entfremdung vorliege. Insofern könne im Pflichtteilsrecht nichts anderes gelten als im auf dem Zerrüttungsprinzip beruhenden Scheidungsrecht. Daher sei jedenfalls die geltende Regelung des § 2333 BGB für die Entziehung des Pflichtteilsrechts zu eng und verfassungswidrig. Die Verfassungswidrigkeit der gegenwärtigen Regelung des Pflichtteilsrechts ergebe sich auch aus einer Parallelwertung zum Erbschaftsteuerrecht.
Im vorliegenden Fall hätten der Beschwerdeführer und seine Ehefrau in dem gemeinschaftlichen Testament eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sie keinerlei Vermögensabfluss nach dem Tode des Erstversterbenden gewollt hätten. Lediglich im Hinblick auf die „BGB-loyale“ Gesetzesinformation durch den Notar sei von einer ausdrücklichen Pflichtteilsentziehung abgesehen worden.
Art. 3 Abs. 1 GG sei dadurch verletzt, dass in den neuen Bundesländern noch die pflichtteilsrechtlichen Regelungen des ZGB Anwendung fänden.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.
Die Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes überlässt es dem Gesetzgeber in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, ebenso wie beim Eigentum, Inhalt und Schranken des Erbrechts zu bestimmen. Aufgabe des Gesetzgebers ist es in erster Linie, Interessenkonflikte zwischen rechtlich gleichgeordneten Rechtssubjekten sachgerecht zu lösen. Die Erbrechtsgarantie weist das Erbrecht insoweit dem bürgerlichen Recht zu. Der Gestaltung durch den Gesetzgeber ist damit von vornherein in besonderem Maße Raum gegeben (vgl. BVerfGE 67, 329 <340 f.>). Die Erbrechtsgarantie garantiert nicht das (unbedingte) Recht, den vorhandenen Eigentumsbestand von Todes wegen ungemindert auf Dritte zu übertragen (vgl. BVerfGE 93, 165 <174>). Die vom Verfassungsgeber vorgefundene Rechtslage bestimmt Inhalt und Schranken des Erbrechts nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 67, 329 <342>).
Das Bundesverfassungsgericht hat vor diesem Hintergrund die Verfassungsmäßigkeit der durch das Pflichtteilsrecht bewirkten Beschränkung der Testierfreiheit als solche nie in Frage gestellt. Es hat im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Verpflichtung des Gesetzgebers besteht, Angehörigen über die Vorschriften der §§ 2303 ff. BGB hinaus einen unentziehbaren Anteil am Nachlass zu sichern, ausdrücklich festgestellt, dass der in den geltenden Pflichtteilsvorschriften geregelte Ausgleich zwischen Testierfreiheit und Verwandtenerbrecht den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt (BVerfGE 91, 346 <359 f.>; vgl. auch BVerfGE 67, 329 <342>). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst die Testierfreiheit als Bestandteil der Erbrechtsgarantie die Befugnis des Erblassers, zu Lebzeiten einen von der gesetzlichen Erbfolge abweichenden Übergang seines Vermögens nach seinem Tode an einen oder mehrere Rechtsnachfolger anzuordnen, insbesondere einen gesetzlichen Erben von der Nachlassbeteiligung auszuschließen und wertmäßig auf den gesetzlichen Pflichtteil zu beschränken (vgl. BVerfGE 58, 377 <398>; 99, 341 <350 f.>). Auch hiermit kommt zum Ausdruck, dass das Bundesverfassungsgericht die Testierfreiheit als durch das Pflichtteilsrecht begrenzt ansieht.
Der Beschwerdeführer kann sich zwar als begünstigter Erbe, jedenfalls vom Zeitpunkt des Erbfalls an, auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG berufen (vgl. BVerfGE 91, 346 <360>; 99, 341 <349>). Er kann daher grundsätzlich geltend machen, die Testierfreiheit der Erblasserin sei durch das geltende Pflichtteilsrecht in verfassungswidriger Weise eingeschränkt worden.
Nach den Feststellungen der Fachgerichte bestanden aber im konkreten Fall weder hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Erblasserin ihrem Sohn, dem Kläger des Ausgangsverfahrens, den Pflichtteil entziehen wollte, noch, dass es zu einer völligen Entfremdung zwischen dem Kläger und der Erblasserin gekommen war. Aus der zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kläger offensichtlich bestehenden Entfremdung und dem Willen des Beschwerdeführers selbst, den Kläger in keiner Weise an seinem (künftigen) Nachlass partizipieren zu lassen, kann nicht auf einen entsprechenden Willen der Erblasserin hinsichtlich ihres Nachlasses geschlossen werden.
In dem maßgeblichen Testament vom 14. Juni 1982 ist der Pflichtteil der Kinder der Erblasserin ausdrücklich erwähnt. Selbst wenn man dies nicht sogar als besondere Betonung des Willens der Erblasserin, dass jedes der Kinder mindestens den Pflichtteil erhalten sollte, ansehen wollte, sondern – wie der Beschwerdeführer meint – lediglich als Folge der „BGB-loyalen“ Beratung durch den beurkundenden Notar, fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass die Erblasserin dem Kläger den Pflichtteil entzogen hätte, wenn hierfür die gesetzliche Möglichkeit bestanden hätte. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann dies nicht aus dem bloßen Umstand gefolgert werden, dass nach dem Wortlaut des Testaments der überlebende Ehegatte nach dem Tod des Erstversterbenden keinen Verfügungsbeschränkungen ausgesetzt sein sollte. Gegen einen entsprechenden Erblasserwillen spricht insbesondere, dass die Eheleute in dem gemeinschaftlichen Testament den Kläger des Ausgangsverfahrens nicht anders behandelten als dessen Brüder. Die in dem Testament enthaltene Pflichtteilsklausel betrifft die drei Kinder in gleicher Weise. Sie enthält darüber hinaus sogar die ausdrückliche Willensäußerung, dass im Fall der Geltendmachung des Pflichtteils durch eines der Kinder das dadurch frei gewordene Vermögen den übrigen Kindern zukommen solle, ohne den Kläger des Ausgangsverfahrens hiervon auszunehmen.
Mangels ausreichender tatsächlicher Anhaltspunkte kann im vorliegenden Fall daher nicht davon ausgegangen werden, dass die durch das gesetzliche Pflichtteilsrecht gewährleistete Mindestbeteiligung des Klägers des Ausgangsverfahrens am Nachlass der Erblasserin gegen deren Willen erfolgte, so dass nicht einmal feststeht, ob das in der Testierfreiheit enthaltene Selbstbestimmungsprinzip (vgl. BVerfGE 99, 341 <351 f.>) im konkreten Fall überhaupt eine Einschränkung erfahren hat.
Für eine nähere verfassungsrechtliche Überprüfung des Verhältnisses zwischen Testierfreiheit und gesetzlichem Pflichtteilsrecht des Abkömmlings hätte nur dann Anlass bestanden, wenn die Erblasserin in der letztwilligen Verfügung deutlich zum Ausdruck gebracht hätte, dass sie den Kläger von jeglicher Beteiligung am Nachlass ausschließen wollte. Dies war aber – wie ausgeführt – nicht der Fall.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.