Das Kündigungsrecht in der Krankentagegeldversicherung

Juli 5, 2025

Das Kündigungsrecht in der Krankentagegeldversicherung

Bundesgerichtshof Urt. v. 06.07.1983, Az.: IVa ZR 206/81

RA und Notar Krau

Ein wichtiges Urteil für Selbstständige
Stellen Sie sich vor, Sie sind selbstständig und schließen eine Krankentagegeldversicherung ab. Diese Versicherung soll Sie finanziell absichern, falls Sie durch Krankheit nicht arbeiten können. Plötzlich, nach einigen Jahren, kündigt Ihre Versicherung den Vertrag. Das ist genau das, was Anna S., eine Gastwirtin, erlebt hat. Sie wehrte sich dagegen, und ihr Fall landete vor dem Bundesgerichtshof (BGH).

Dieses Dokument fasst die Entscheidung des BGH in diesem wichtigen Fall zusammen. Es geht darum, ob Versicherungen ein unbegrenztes Kündigungsrecht bei Krankentagegeldversicherungen haben dürfen.

Worum ging es in dem Fall?

Anna S. hatte 1974 eine Krankentagegeldversicherung bei der E. Versicherungs-AG abgeschlossen. Fünf Jahre später, im Oktober 1979, kündigte die Versicherung ihren Vertrag zum 31. Januar 1980. Anna S. wollte das nicht akzeptieren und klagte, um feststellen zu lassen, dass die Kündigung unwirksam ist.

Die Vorinstanzen, das Landgericht Nürnberg-Fürth und das Oberlandesgericht Nürnberg, hatten die Klage von Anna S. abgewiesen. Sie waren der Meinung, dass die Versicherung das Recht zur Kündigung hatte, da der Vertrag auf unbestimmte Zeit geschlossen war und die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AGB) dies vorsahen.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH)

Der BGH sah das anders und gab Anna S. recht. Das Urteil hob die Entscheidungen der Vorinstanzen auf und stellte fest, dass die Kündigung der Versicherung unwirksam war.

Der Kern der BGH-Entscheidung:

Eine Klausel in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), die dem Versicherer ein zeitlich unbegrenztes Kündigungsrecht in der Krankentagegeldversicherung einräumt, ist unwirksam. Solche Klauseln halten einer sogenannten Inhaltskontrolle nicht stand.

Was bedeutet „Inhaltskontrolle von AGB“?

Vereinfacht gesagt, bedeutet Inhaltskontrolle, dass Gerichte prüfen, ob Klauseln in vorformulierten Verträgen (wie den AGB von Versicherungen) fair und angemessen sind oder ob sie den Vertragspartner unangemessen benachteiligen. Obwohl das Gesetz über Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGBG) erst nach Abschluss des Versicherungsvertrags von Anna S. in Kraft trat, wies der BGH darauf hin, dass die zugrundeliegenden Prinzipien der Inhaltskontrolle schon vorher galten. Das AGBG hat diese bereits bestehenden Rechtsgrundsätze lediglich „kodifiziert“, also in Gesetzesform gebracht.

Warum ist ein unbegrenztes Kündigungsrecht in der privaten Krankenversicherung problematisch?
Der BGH führte mehrere wichtige Gründe an, warum ein solches Kündigungsrecht nicht zulässig ist:

Wesen der Krankenversicherung:

Mit zunehmendem Alter steigt in der Regel die Krankheitsanfälligkeit und damit das Risiko für den Versicherer. Es ist aber grundlegend für eine Krankenversicherung, dass sie einen Schutz für das gesamte Leben bietet. Die Beiträge jüngerer Versicherter tragen dazu bei, die Leistungen für ältere Versicherte zu finanzieren. Der Gedanke der Gefahrengemeinschaft, der ein Fundament des Versicherungsrechts bildet, wird verletzt, wenn sich ein Versicherer von einem Versicherungsnehmer trennen kann, nur weil dieser älter wird und ein höheres Risiko darstellt.

Das Kündigungsrecht in der Krankentagegeldversicherung

Soziale Funktion der privaten Krankenversicherung:

Für viele Selbstständige und andere Berufsgruppen, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, ist die private Krankenversicherung die einzige Möglichkeit der Absicherung. Sie erfüllt eine wichtige soziale Funktion. Wenn ein Versicherer kündigen könnte, gerade wenn der Versicherte den Schutz am dringendsten braucht (z.B. im Alter oder bei Krankheit), würde der Zweck der Versicherung völlig verfehlt. In diesem Moment wäre es für den Betroffenen extrem schwierig oder unmöglich, eine neue Versicherung zu finden oder nur zu sehr schlechten Bedingungen.

Unterschied zur Kurkostenversicherung:

Der BGH betonte, dass eine Krankentagegeldversicherung im Gegensatz zu einer Kurkostenversicherung für Selbstständige eine notwendige soziale Absicherung darstellt. Sie schützt vor den finanziellen Folgen, wenn man wegen Krankheit nicht arbeiten kann, und ist vergleichbar mit dem Krankengeld der gesetzlichen Krankenversicherung. Ein krankheitsbedingter Einkommensausfall kann für Selbstständige schnell zu einer Notlage führen, und die Aufrechterhaltung des Einkommensniveaus ist Teil der sozialen Absicherung.

Praxis der Versicherungsbranche:

Der BGH verwies darauf, dass die meisten privaten Krankenversicherer und sogar das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen die Praxis, ein unbegrenztes Kündigungsrecht zu haben, schon lange als problematisch ansehen und weitgehend darauf verzichten oder es zeitlich begrenzen. Die Musterbedingungen der privaten Krankenversicherer sahen bereits Einschränkungen vor, die das unbegrenzte Kündigungsrecht des Versicherers ausschließen.

Was ist mit dem Argument der Versicherung?

Die E. Versicherungs-AG argumentierte, das Kündigungsrecht sei ein wichtiger Bestandteil der Krankentagegeldversicherung und ohne es würde das System zusammenbrechen. Außerdem hätten Versicherte einen Vorteil, weil auf eine Anpassungsklausel verzichtet werde, die sonst in der Krankenversicherung üblich sei.

Der BGH wies diese Argumente zurück:

Die Behauptung, das Kündigungsrecht sei essenziell, wird durch die Praxis der meisten Versicherer widerlegt, die darauf verzichten.

Das Fehlen einer Anpassungsklausel ist kein Vorteil, da der Versicherer stattdessen eine Änderungskündigung aussprechen könnte, um höhere Beiträge zu erzwingen, wenn er ein unbegrenztes Kündigungsrecht hätte.

Rechtsgrundlagen und Bedeutung des Urteils

Das Urteil stützt sich auf Paragraphen des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG), insbesondere § 8 Abs. 2 VVG (Kündigung von Verträgen auf unbestimmte Dauer), und des Gesetzes über Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGBG), hier besonders § 3 AGBG (unwirksame Klauseln bei unangemessener Benachteiligung) und § 9 AGBG (Klauselverbote mit Wertungsmöglichkeit).

Dieses Urteil ist ein Meilenstein für den Verbraucherschutz in der privaten Krankenversicherung. Es stärkt die Position der Versicherten und stellt sicher, dass sie nicht willkürlich ihren Versicherungsschutz verlieren können, gerade wenn sie ihn am dringendsten benötigen. Es unterstreicht die wichtige soziale Rolle der privaten Krankenversicherung und setzt klare Grenzen für die Gestaltung von Versicherungsverträgen durch die Versicherungsunternehmen.

Haben Sie weitere Fragen zu diesem Urteil oder zu Versicherungsverträgen im Allgemeinen?

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Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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