Die Musterfeststellungsklage

Mai 11, 2025

Die Musterfeststellungsklage

Aufsatz von Rechtsanwalt beim BGH Dr. Erich Waclawik, NJW 2018, 2921

Zusammenfassung von RA und Notar Krau

Die Musterfeststellungsklage, ein Kernprojekt der Regierungskoalition, wurde zügig und unter erheblicher Kritik verabschiedet.

Seit Mitte Juli 2018 ist das Gesetz im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und trat am 1. November 2018 in Kraft. Praktiker stehen nun vor der Aufgabe, sich mit diesem neuen Rechtsinstrument vertraut zu machen.

I. Zielrichtung des Gesetzes

Laut Gesetzesbegründung zielt die Musterfeststellungsklage auf die Bekämpfung des „rationalen Desinteresses“ bei sogenannten Streuschäden ab.

Dies betrifft Situationen, in denen unrechtmäßiges Verhalten von Unternehmen eine Vielzahl von Verbrauchern mit geringen individuellen Schäden zurücklässt,

was oft dazu führt, dass Ansprüche nicht einzeln verfolgt werden.

Dadurch verbleibt der unrechtmäßige Gewinn beim Anbieter, der einen Wettbewerbsvorteil erlangt.

Allerdings wurde im Gesetzgebungsverfahren auch die Bewältigung der Folgen des „Dieselskandals“ als Ziel genannt.

Hierbei handelt es sich jedoch um Massenschäden mit potenziell erheblichen individuellen Schäden, bei denen kein typisches Desinteresse an der Rechtsverfolgung besteht.

Vielmehr geht es hier um die effiziente Abwicklung zahlreicher Klagen und die Ungewissheit bezüglich der gerichtlichen Beurteilung.

Das Gesetz unterscheidet nicht explizit zwischen Streu- und Massenschäden, sodass die neuen Regelungen beide Formen kollektiver Schäden erfassen.

Es bleibt fraglich, ob die gleichen Maßnahmen für beide Szenarien gleichermaßen geeignet sind.

Die Musterfeststellungsklage

II. Ausgestaltung der Musterfeststellungsklage

  1. Grundprinzipien der neuen Klage

Klage im Verbraucherinteresse:

Die Musterfeststellungsklage ist eine Feststellungsklage im Drittinteresse, ähnlich der Prozessstandschaft. Qualifizierte Einrichtungen (§ 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO n.F.)

können die Feststellung tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen für Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zwischen Verbrauchern und Unternehmen begehren.

Die Durchsetzung der individuellen Ansprüche obliegt weiterhin den Verbrauchern in nachfolgenden Prozessen, es sei denn, es kommt zu einem Vergleich im Musterfeststellungsverfahren (§ 611 ZPO n.F.).

Qualifizierte Einrichtungen:

§ 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO n.F. definiert diese primär durch Verweis auf § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UKlaG, ergänzt um Anforderungen an Größe und Unabhängigkeit (max. 5 % Unternehmenszuwendungen).

Verbraucherzentralen und vergleichbare Organisationen werden unwiderleglich als qualifiziert angesehen (§ 606 Abs. 1 Satz 4 ZPO n.F.).

Das Gesetz enthält keine positiven Kriterien für eine optimale Vertretung der Verbraucherinteressen. Unternehmen

sind nicht zur Erhebung der Musterfeststellungsklage befugt und können ihre Prozesse lediglich nach § 148 Abs. 2 ZPO aussetzen lassen.

Definition der Feststellungsziele:

Die Feststellungsziele (§ 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO n.F.) sind weiter gefasst als bei der herkömmlichen Feststellungsklage (§ 256 Abs. 1 ZPO)

und umfassen sowohl tatsächliche als auch rechtliche Voraussetzungen.

Die Gerichte in Individualprozessen sind an die tatsächlichen Feststellungen im Musterverfahren gebunden,

sofern die Verbraucher ihre Ansprüche zum Klageregister angemeldet haben (§ 613 Abs. 1 ZPO n.F.).

Dies kann zu Spannungen führen, wenn der im Musterprozess festgestellte Sachverhalt nicht exakt mit dem Einzelfall übereinstimmt.

  1. Das Klageregister

Das beim Bundesamt für Justiz geführte „Register für Musterfeststellungsklagen“ (§ 609 Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO n.F.)

dient der Bekanntmachung von Informationen (§ 607 ZPO n.F.) und der Anmeldung von Verbraucheransprüchen (§ 608 ZPO n.F.).

Bekanntmachungen: Im Klageregister werden die Feststellungsziele, eine kurze Darstellung des Sachverhalts sowie Informationen zum Verfahren und zum Musterfeststellungsurteil veröffentlicht.

Die Musterfeststellungsklage

Anmeldungen:

Verbraucher können ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse bis zum Tag vor dem ersten Termin zur Eintragung anmelden (§ 608 Abs. 1 ZPO n.F.).

Die Anmeldung muss fristgerecht in Textform erfolgen und bestimmte Angaben enthalten (§ 608 Abs. 2 Satz 1 und 2 ZPO n.F.).

Die Angaben werden ohne inhaltliche Prüfung eingetragen (§ 608 Abs. 2 Satz 3 ZPO n.F.).

Die Anforderungen an die Detailliertheit der Anspruchsbeschreibung sind unklar, es wird jedoch vor einer zu kursorischen Darstellung gewarnt.

  1. Das Musterfeststellungsverfahren

Verfahren in erster Instanz:

Entgegen ursprünglicher Pläne sind nun die Oberlandesgerichte (§ 119 Abs. 3 GVG) erstinstanzlich zuständig.

Die Klageschrift muss Angaben zur Qualifikation der Klägerin und zur Abhängigkeit der Ansprüche von mindestens zehn Verbrauchern von den Feststellungszielen enthalten (§ 606 Abs. 2 ZPO n.F.).

Die Zulässigkeit der Klage setzt voraus, dass mindestens 50 Verbraucher ihre Ansprüche innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntmachung wirksam angemeldet haben (§ 606 Abs. 3 ZPO n.F.).

Auf das Verfahren finden die Vorschriften für das erstinstanzliche Verfahren vor dem Landgericht entsprechende Anwendung (§ 610 Abs. 5 Satz 1 ZPO n.F.),

mit Ausnahmen wie § 128 Abs. 2 ZPO, § 278 Abs. 2–5 ZPO, § 306 ZPO und §§ 348–350 ZPO (§ 610 Abs. 5 Satz 2 ZPO n.F.).

Die §§ 66–74 ZPO (Streithilfe und Streitverkündung) sind im Verhältnis zu den angemeldeten Verbrauchern nicht anwendbar (§ 610 Abs. 6 ZPO n.F.).

Während der Rechtshängigkeit kann keine weitere Musterfeststellungsklage mit identischem Streitgegenstand erhoben werden (§ 610 Abs. 1 ZPO n.F.).

Bei zeitgleichen Klagen greift § 147 ZPO (Prozessverbindung).

Angemeldete Verbraucher können während der Rechtshängigkeit keine Individualklage mit demselben Streitgegenstand erheben (§ 610 Abs. 3 ZPO n.F.).

Entscheidungen ergehen durch Urteil (§ 612 ZPO n.F.), das öffentlich bekannt gemacht wird. Rechtskräftige Musterfeststellungsurteile binden die Gerichte in nachfolgenden Individualprozessen

(§ 613 Abs. 1 ZPO n.F.), es sei denn, die Anmeldung wurde wirksam zurückgenommen.

Die Musterfeststellungsklage

Rechtsmittel:

Gegen das Urteil des OLG findet die Revision zum Bundesgerichtshof statt (§ 614 Satz 1 ZPO n.F.), wobei die Sache stets als von grundsätzlicher Bedeutung gilt (§ 614 Satz 2 ZPO n.F.).

Die Revisionsinstanz dient allein der Rechtskontrolle.

  1. Der gerichtliche Vergleich

Ein gerichtlicher Vergleich (§ 611 ZPO n.F.) soll nicht nur die Parteien des Musterprozesses, sondern auch die angemeldeten Verbraucher binden.

Ein Vergleichsabschluss vor dem ersten Termin ist unzulässig (§ 611 Abs. 6 ZPO n.F.).

Erweiterte Bindung, Vergleichsinhalt und Genehmigung:

Der Vergleich muss die Leistungen an die Verbraucher, den Nachweis der Leistungsberechtigung, die Fälligkeit und die Kostenverteilung regeln (§ 611 Abs. 2 ZPO n.F.).

Er bedarf der Genehmigung durch das OLG (§ 611 Abs. 3 Satz 1 ZPO n.F.), wenn er als angemessene Beilegung des Streits erscheint (§ 611 Abs. 3 Satz 2 ZPO n.F.).

Die Genehmigung erfolgt durch unanfechtbaren Beschluss (§ 611 Abs. 3 Satz 3 ZPO n.F.).

Opt-out:

Die angemeldeten Verbraucher werden über den genehmigten Vergleich, dessen Wirkung und ihr Austrittsrecht informiert (§ 611 Abs. 4 Satz 1 ZPO n.F.)

und können innerhalb eines Monats schriftlich oder zu Protokoll ihren Austritt erklären (§ 611 Abs. 4 Satz 2 und 3 ZPO n.F.).

Der Austritt berührt die Wirksamkeit der Anmeldung nicht (§ 611 Abs. 4 Satz 4 ZPO n.F.).

Der Vergleich wird wirksam, wenn weniger als 30 % der angemeldeten Verbraucher ausgetreten sind (§ 611 Abs. 5 Satz 1 ZPO n.F.),

was durch unanfechtbaren Beschluss festgestellt und bekannt gemacht wird (§ 611 Abs. 5 Satz 2 und 3 ZPO n.F.).

  1. Hemmung der Verjährung

§ 204 Abs. 1 Nr. 1a BGB n.F. sieht eine Hemmung der Verjährung durch die Erhebung einer Musterfeststellungsklage für Ansprüche vor,

die wirksam zum Klageregister angemeldet wurden und denselben Sachverhalt wie die Feststellungsziele aufweisen.

Diese Regelung wird grundsätzlich begrüßt, birgt aber für Verbraucher die Unsicherheit, dass eine „passende“ Feststellungsklage erhoben werden muss, was sie nicht selbst beeinflussen können.

III. Gedanken zum praktischen Umgang mit dem neuen Gesetz

Die Klägerseite:

Für Anwälte entsteht ein neues Betätigungsfeld.

Die Anmeldung zum Klageregister dürfte aufgrund der Hemmungswirkung populär sein.

Da kein Anwaltszwang besteht, werden viele Verbraucher Anmeldungen selbst vornehmen, was zu Problemen mit der Wirksamkeit führen kann.

§ 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1a RVG n.F. stuft die Anmeldung und Rücknahme als gebührenrechtliche Nebengeschäfte ein, was angesichts der Bedeutung kritisch gesehen wird.

Anwälte sollten Vergütungsvereinbarungen erwägen.

Die Beklagtenseite:

Die Vertretung von Musterfeststellungsbeklagten erfordert Spezialisten.

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage (§ 606 Abs. 3 ZPO n.F.), insbesondere die Qualifikation der Klägerin und die Wirksamkeit der Anmeldungen, werden kritisch zu prüfen sein.

Die Befugnis der Beklagten zur Klageerweiterung ist unklar.

IV. Zusammenfassung

Die Musterfeststellungsklage erweitert den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland.

Der zukünftige Erfolg wird sich zeigen.

Es ist wahrscheinlich, dass das Gesetz nicht den Endpunkt der Entwicklung des kollektiven Rechtsschutzes darstellt.

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