Die Rechtsprechung des BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Zusammenfassung des Aufsatzes von Vors. Richterin am LG Kim Rohwetter-Kühl, NJW 2025, 1998
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist für Laien oft schwer verständlich, aber von großer Bedeutung, wenn Fristen im Gerichtsverfahren versäumt wurden. Im Kern geht es darum, dass eine Partei, die ohne eigenes Verschulden eine wichtige Frist im Gerichtsverfahren verpasst hat, die Möglichkeit erhält, so gestellt zu werden, als hätte sie die Frist eingehalten. Dies dient dem verfassungsrechtlich garantierten Recht auf wirksamen Rechtsschutz.
Eine Wiedereinsetzung wird notwendig, wenn eine gesetzlich vorgeschriebene Frist (z.B. für eine Klage, Berufung oder Revision) nicht eingehalten wurde. Der BGH betont, dass für den Beginn einer Frist die ordnungsgemäße Zustellung der Gerichtsentscheidung entscheidend ist. Selbst kleine Abweichungen zwischen dem Original und der zugestellten Kopie sind unschädlich, solange die Partei den wesentlichen Inhalt der Entscheidung, den Umfang ihrer Benachteiligung und die Gründe dafür erkennen kann.
Eine Frist gilt als versäumt, wenn die erforderliche Prozesshandlung (z.B. das Einreichen eines Schriftsatzes) nicht oder nicht wirksam innerhalb der Frist vorgenommen wurde. Im Anwaltsprozess bedeutet dies, dass ein Schriftsatz vom Anwalt eigenhändig unterschrieben sein muss. Bei elektronischen Dokumenten, die zunehmend Standard sind (z.B. über das besondere elektronische Anwaltspostfach, beA), muss der Schriftsatz mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sein oder einfach signiert über einen sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden.
Wichtig ist, dass der Absender des elektronischen Dokuments auch der verantwortliche Anwalt ist oder dessen qualifizierte elektronische Signatur verwendet wurde. Wenn technische Probleme die elektronische Übermittlung verhindern, muss dies bei der ersatzweisen Einreichung (z.B. per Post) oder unverzüglich danach glaubhaft gemacht werden. Dabei genügen laienverständliche Erklärungen zu den technischen Problemen.
Eine Wiedereinsetzung wird gewährt, wenn die Partei ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert war. Der BGH legt Wert darauf, dass die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Anwalts nicht so hoch sein dürfen, dass sie den Zugang zum Gericht unzumutbar erschweren.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung muss innerhalb von zwei Wochen gestellt werden, nachdem das Hindernis, das zur Fristversäumung führte (z.B. Krankheit, technischer Defekt), behoben ist. Er kann auch stillschweigend erfolgen, wenn die versäumte Handlung innerhalb dieser zwei Wochen nachgeholt wird.
Die Begründung für den Wiedereinsetzungsantrag muss alle Tatsachen, die zur Fristversäumung geführt haben, klar und verständlich darlegen und glaubhaft machen. Das bedeutet, es muss zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass die Fristversäumung auf einem Verschulden der Partei oder ihres Anwalts beruht. Bleibt die Möglichkeit eines Verschuldens bestehen, ist der Antrag unbegründet. Unklare Angaben dürfen jedoch noch nach Fristablauf ergänzt werden, wenn das Gericht darauf hinweist.
Mittellosigkeit kann ein Grund für eine Wiedereinsetzung sein, wenn sie dazu geführt hat, dass die Partei keinen Anwalt beauftragen konnte, um ein Rechtsmittel einzulegen. Wenn eine bedürftige Partei innerhalb der Rechtsmittelfrist einen Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) gestellt und alles Notwendige (z.B. vollständige Angaben zu ihren finanziellen Verhältnissen) getan hat, um eine schnelle Entscheidung zu ermöglichen, wird ihr in der Regel Wiedereinsetzung gewährt.
Eine Partei, der bereits für den ersten Rechtszug PKH bewilligt wurde, darf bei gleichbleibenden Verhältnissen auch für den zweiten Rechtszug damit rechnen. Bis zur Entscheidung über den PKH-Antrag gilt die Partei als unverschuldet verhindert, das Rechtsmittel wirksam einzulegen oder zu begründen, sofern sie nicht vernünftigerweise mit einer Ablehnung rechnen musste.
Verletzt ein Anwalt schuldhaft seine Sorgfaltspflichten, wird dies der Partei zugerechnet. Fehler von Büropersonal hingegen hindern eine Wiedereinsetzung nicht, solange den Anwalt kein eigenes Organisations- oder Aufsichtsverschulden trifft.
Zu den zentralen Pflichten eines Anwalts gehören:
Der Anwalt muss den Mandanten unverzüglich und zuverlässig über Gerichtsentscheidungen, Rechtsmittelmöglichkeiten und Fristen informieren, damit dieser rechtzeitig Anweisungen erteilen kann.
Anwälte müssen alles Zumutbare tun, um Fristen einzuhalten. Dies beinhaltet die zuverlässige Feststellung, Berechnung und Notierung von Fristen in einer Handakte und einem Fristenkalender. Die Kalendereintragung muss immer vor dem Vermerk in der Akte erfolgen. Auch bei elektronischen Fristenkalendern muss die gleiche Sicherheit wie bei manuellen Systemen gewährleistet sein.
Anwälte müssen sicherstellen, dass fristgebundene Schriftsätze rechtzeitig gefertigt und beim zuständigen Gericht eingehen. Die Kontrolle der Richtigkeit und Vollständigkeit des Schriftsatzes vor dem Versand ist unerlässlich. Fristen dürfen erst als erledigt markiert werden, wenn die fristwahrende Maßnahme tatsächlich durchgeführt und überprüft wurde.
Ein Anwalt darf in der Regel auf die Bewilligung eines ersten Fristverlängerungsantrags vertrauen, wenn er erhebliche Gründe (z.B. Arbeitsüberlastung) darlegt.
Auch bei unvorhergesehener Krankheit muss ein Anwalt alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Frist zu wahren, z.B. einen Vertreter einschalten oder einen Fristverlängerungsantrag stellen. Die Verantwortung für die Fristenkontrolle bleibt beim Anwalt.
Die Sorgfaltspflichten bei der Nutzung des beA entsprechen denen bei der Fax-Übermittlung. Der Anwalt muss das zu versendende Dokument auf Richtigkeit prüfen und den Versandvorgang kontrollieren, einschließlich der automatisierten Eingangsbestätigung des Gerichts. Bleibt diese aus oder zeigt einen Fehler an, muss der Anwalt aktiv werden.
Ein Rechtsirrtum des Anwalts ist nur ausnahmsweise entschuldbar, wenn er trotz größter Sorgfalt nicht vermeidbar war. Anwälte müssen die einschlägigen Gesetze und die aktuelle Rechtsprechung kennen und bei Zweifeln den sicheren Weg wählen. Auf unzutreffende Rechtsauskünfte des Gerichts darf sich ein Anwalt nicht blind verlassen, es sei denn, die Information betrifft gerichtsinterne Vorgänge und ist nicht ohne Weiteres als falsch erkennbar.
Das Verfahren zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist ein zentrales Instrument im deutschen Zivilprozessrecht, um unverschuldete Fristversäumnisse auszugleichen. Der BGH entwickelt seine Rechtsprechung hierzu ständig weiter, insbesondere im Hinblick auf die zunehmende Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel wie das beA.
Für Anwälte und ihre Kanzleiorganisation ist die genaue Kenntnis dieser Rechtsprechung unerlässlich, um Haftungsfälle zu vermeiden und den Mandanten einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Die Komplexität der Materie erfordert höchste Sorgfalt und eine gut organisierte Kanzleistruktur, um die zahlreichen Fallstricke bei der Einhaltung von Fristen zu umgehen.