Entschädigung für entgangenen Pflichtteil nach konventionswidriger Ablehnung einer gerichtlichen Feststellung der biologischen Vaterschaft
EGMR (V. Sektion), Urt. v. 8. 11. 2012 – 19535/08, Pascaud/Frankreich
Gerne fasse ich den Sachverhalt und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum Schadensersatz für den entgangenen Pflichtteil nach konventionswidriger Ablehnung einer Vaterschaftsfeststellung für Laien zusammen.
Die Geschichte beginnt mit einer Person (dem Beschwerdeführer), die vor französischen Gerichten die Feststellung ihrer biologischen Vaterschaft durch einen verstorbenen Mann (den Erblasser) erreichen wollte. Dies ist ein wichtiger Schritt, da die Anerkennung der Abstammung untrennbar mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK) verbunden ist.
Der EGMR stellte fest, dass die französischen Gerichte dieses Recht verletzt hatten, indem sie die gerichtliche Vaterschaftsfeststellung zu Unrecht ablehnten. Die DNA-Analyse hatte eine Wahrscheinlichkeit von 99,999 % für die Vaterschaft des Erblassers ergeben, was als entscheidender Beweis galt.
Aufgrund der festgestellten Vaterschaft hätte der Beschwerdeführer als dessen Sohn nach französischem Recht (Code civil) einen Pflichtteil am Erbe des Erblassers beanspruchen können. Da er mutmaßlich der einzige Pflichtteilsberechtigte war, hätte ihm die Hälfte des Erbes zugestanden.
Da die Vaterschaftsanerkennung durch die Gerichte verweigert wurde, verlor der Beschwerdeführer diesen Erbanspruch. Dies stellt einen materiellen Schaden dar.
Der EGMR sah einen unmittelbaren Zusammenhang (Kausalität) zwischen der festgestellten Konventionsverletzung (Ablehnung der Vaterschaftsanerkennung) und dem geltend gemachten materiellen Schaden (Verlust des Erbteils).
Wenn der EGMR eine Konventionsverletzung feststellt, ist der betroffene Staat (hier Frankreich) grundsätzlich verpflichtet, den früheren, rechtskonformen Zustand so weit wie möglich wiederherzustellen (restitutio in integrum).
Wenn das nationale Recht diese vollständige Wiederherstellung nicht ermöglicht oder nur unvollkommen zulässt, kann der EGMR gemäß Art. 41 EMRK (Gerechte Entschädigung) der verletzten Partei eine angemessene Entschädigung in Form von Schadensersatz zusprechen.
Im vorliegenden Fall war die Wiederherstellung des vollen Erbanteils im nationalen Recht nicht einfach möglich, weshalb der EGMR über die Höhe des Schadensersatzes entscheiden musste.
Die Parteien (Beschwerdeführer und französische Regierung) waren sich uneinig über den genauen Wert und die Zusammensetzung des Erbes zum Todeszeitpunkt des Erblassers (7. März 2002), insbesondere bezüglich der Bewertung von Grundstücken (u. a. eines Weinguts) und den abzuziehenden Erbschaftssteuern.
Der Beschwerdeführer forderte ursprünglich über 3,18 Millionen Euro (nach Steuern), während die Regierung den Anspruch nur auf etwa 1,1 Millionen Euro bezifferte.
Dem EGMR lagen zwar zahlreiche Unterlagen (Erbschaftsanzeigen, Gutachten, Gerichtsurteile) vor, die unterschiedlichen Bewertungen und die Komplexität der Immobilienbewertung (insbesondere des Weingebiets Château Badette und landwirtschaftlicher Anteile) ließen jedoch keine exakte, punktgenaue Berechnung des Schadens zu.
Angesichts dieser Ungenauigkeit entschied sich der EGMR für eine globale Bewertung des erlittenen materiellen Schadens, was in solchen Fällen zulässig ist.
Nach dieser globalen Bewertung verurteilte der EGMR Frankreich dazu, dem Beschwerdeführer einen Betrag von 2.750.000 € als Ersatz für den erlittenen materiellen Schaden (den entgangenen Pflichtteil) zu zahlen.
Zusätzlich hatte der Beschwerdeführer bereits im ersten Urteil (2011) 10.000 € für immateriellen Schaden (Nichtvermögensschaden) und 10.000 € für Kosten und Auslagen zugesprochen bekommen.
Das Urteil des EGMR (Pascaud gegen Frankreich) zeigt, dass eine ungerechtfertigte Ablehnung der gerichtlichen Feststellung der biologischen Vaterschaft durch nationale Gerichte eine schwerwiegende Verletzung des Menschenrechts auf Achtung des Privatlebens darstellt. Diese Verletzung kann einen materiellen Schaden nach sich ziehen (hier der Verlust eines Erb-Pflichtteils). Kann dieser Schaden national nicht korrigiert werden, muss der betroffene Staat der verletzten Person eine gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK zahlen, deren Höhe der EGMR notfalls durch eine globale Bewertung festlegt.
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