FG Baden-Württemberg 8 K 1792/13

Juli 21, 2017

FG Baden-Württemberg 8 K 1792/13, Urteil vom 28. April 2015, Kosten künstliche Befruchtung als außergewöhnliche Belastung, Einkommensteuererklärung

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

FG Baden-Württemberg 8 K 1792/13

Streitig ist, ob der Kläger Aufwendungen in Höhe von 17.261.62 EUR, die ihm aufgrund von Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung seiner damals noch nicht mit ihm verheirateten Ehefrau entstanden sind, als außergewöhnliche Belastungen geltend machen kann. Die Behandlung wurde durch eine Klinik in X (Österreich) vorgenommen.

Der Kläger leidet unter einer sog. Subfertilität, die aus einer Spermienanomalie herrührt. In seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2010 (Bl. 1 ff Rechtsbehelfsakte) machte der Kläger außergewöhnliche Belastungen aufgrund von Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung seiner jetzigen Ehefrau geltend. Wegen der Beträge im Einzelnen wird auf Bl. 4 der Einkommensteuerakte verwiesen.

Diese resultieren vor allem aus an die spätere Ehefrau gerichteten Rechnungen der „IVF …Prof.Y – X GmbH“ sowie aus auf sie ausgestellten Apothekenrezepten. In diesem Zusammenhang waren bei der im Jahr 1970 geborenen späteren Ehefrau des Klägers im Wege der sog. intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) mehrere Versuche unternommen worden, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Laut Kulturprotokoll vom 18. Juni 2010 (Bl. 40 Klageakte) wurden auf diese Weise vier Eizellen befruchtet.

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Laut Kulturprotokoll vom 16. Oktober 2010 (Bl. 43 Klageakte) fand dieses Verfahren bei sieben Eizellen statt. Nach Durchführung der sog. Blastozystenkultur (extrakorporale Kultur während der ersten vier bis sechs Tage nach Vornahme der ICSI) wurden die jeweils verbliebenen zwei Embryonen der Ehefrau des Klägers eingesetzt.

Im Einkommensteuerbescheid für 2010 vom 22. Juli 2011 (Bl. 23 f Rechtsbehelfsakte) lehnte der Beklagte die Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastungen ab. Dazu heißt es in den Erläuterungen zur Festsetzung:

Kosten Kinderwunsch: Die beantragten Aufwendungen wurden ohne nähere Prüfung nicht berücksichtigt, weil zunächst vorrangige Möglichkeiten auszuschöpfen sind (z.B. Krankenkasse, Steuererklärung der jetzigen Ehefrau).

Gegen den Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 26. Juli 2011, eingegangen am 28. Juli 2011 beim Beklagten, Einspruch ein. Er verwies darauf, dass eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse abgelehnt worden sei, dass man dies aber erneut bei der Krankenkasse beantragen und die Entscheidung dem Beklagten zukommen lassen werde.

Er erklärte weiterhin, dass die Behandlungskosten vollständig von ihm getragen worden seien, so dass sie in seiner Steuererklärung, nicht in der seiner Ehefrau, angegeben worden seien.

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Mit Schreiben vom 27. November 2012 (Bl. 51 Rechtsbehelfsakte) teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass gemäß Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 10. Mai 2007 III R 47/05 Kosten für eine In-vitro-Fertilisation außergewöhnliche Belastungen sein könnten, wenn die Maßnahmen in Übereinstimmung mit den Richtlinien der ärztlichen Berufsordnungen vorgenommen worden seien.

Zur weiteren Bearbeitung des Einspruchs werde daher eine Bescheinigung der „IVF …Prof.Y – X GmbH“ (im Folgenden: IVF-Zentrum) oder der Krankenkasse benötigt, dass die durchgeführten Maßnahmen mit den Richtlinien der ärztlichen Berufsordnungen nach deutschem Recht übereinstimmten. Dies beziehe sich insbesondere auf das deutsche Embryonenschutzgesetz.

Daraufhin übersandte der Kläger dem Beklagten eine Stellungnahme des o.g. Zentrums (Bl. 53 Rechtsbehelfsakte) vom 6. Dezember 2012 mit folgendem Inhalt:

„Ich kann Ihnen nicht bestätigen, dass wir den klassischen Wortlaut des Deutschen Embryonenschutzgesetzes im Sinne der „Dreier-Regel“ eingehalten haben. Sollte Ihr Finanzamt allerdings jemals eine Kostenübernahme bei einem Paar unter Anwendung des sogenannten „Bayerischen Weges“ bzw. „Deutschen Mittelwege“ gewährt haben, so wäre Ihr Finanzamt auch zur Beihilfe in Ihrem Fall in Anspruch zu nehmen.

(…)“

In der Anlage legte der Kläger die o.g. Kulturprotokolle sowie weitere Unterlagen des IVF-Zentrums vor, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird. Er äußerte die Ansicht, dem o.g. Schreiben könne entnommen werden, dass das IVF-Zentrum nach dem sog. deutschen Mittelweg gehandelt habe, welcher mittlerweile in Deutschland gängige Praxis sei. Das deutsche Embryonenschutzgesetz (ESchG) habe mit der Dreierregel zum Ziel, dass nicht mehr als drei entwicklungsfähige Embryonen entstünden.

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Der Gesetzestext schreibe aber nicht explizit vor, dass nur drei Eizellen befruchtet werden dürften. Der deutsche Mittelweg überlasse die Entscheidung dem behandelnden Arzt, wie viele Eizellen zur Entstehung von drei weiter entwicklungsfähigen Embryonen befruchtet werden. Im Streitfall seien vier Eizellen befruchtet worden, von denen sich lediglich drei befruchten ließen.

Am Tag des Transfers (Tag 5) seien lediglich noch zwei entwicklungsfähige Embryonen übrig geblieben. Schon daran zeige sich, wie sinnvoll der deutsche Mittelweg sei. Bei wortwörtlicher Einhaltung der Dreierregel steige die Anzahl der Versuche und damit einhergehend die Anzahl der hormonellen Behandlungen an und somit die körperliche als auch die seelische Belastung der Frau.

Mit Einspruchsentscheidung vom 29. April 2013 (Bl. 164 ff Rechtsbehelfsakte) wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Dies begründete er damit, dass Aufwendungen für die künstliche Befruchtung nur dann steuerlich berücksichtigt werden könnten, wenn die Maßnahmen gemäß BFH-Urteil vom 10. Mai 2007 III R 47/05 in Übereinstimmung mit den Richtlinien der ärztlichen Berufsordnungen vorgenommen worden seien.

Laut Anhang Nr. 2 („Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion“) zur ärztlichen Berufsordnung (Baden-Württemberg) vom 19. September 2007 (Bl. 140 ff Rechtsbehelfsakte) handele es sich laut Nr. 3. „Allgemeine Voraussetzungen“ bei der durchgeführten assistierten Reproduktion um ein besonderes medizinisches Verfahren gemäß § 13 der Berufsordnung. Ärzte hätten bei der Anwendung dieses Verfahrens insbesondere das Embryonenschutzgesetz (ESchG) und die genannte Richtlinie zu beachten.

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Nach § 1 Absatz 1 Nr. 5 ESchG werde mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer es unternehme, mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollten. § 1 Absatz 1 Nr. 3 ESchG stelle denjenigen unter Strafe, der es unternehme, innerhalb eines Zyklus mehr als drei Embryonen auf eine Frau zu übertragen. Unter Gesamtwürdigung dieser beiden Tatbestände ergebe sich, dass laut ESchG maximal drei Eizellen einer Frau befruchtet werden dürften. Dies ergebe sich auch aus der o.g. Berufsordnung.

Laut Anhang Nr. 2, „1.3.1. – IVF“ und „3.1.2. embryonenschutzrechtliche Voraussetzungen“ dürften für die Unfruchtbarkeitsbehandlung mit der o.g. Methode maximal drei Embryonen einzeitig auf die Mutter übertragen werden. Beim Einsatz dieser Methode dürften nur die Eizellen der Frau befruchtet werden, bei der die Schwangerschaft herbeigeführt werden solle. Jede Art der Selektion sei verboten.

Dementsprechend dürften sich nur maximal drei ausgewählte Vorkernstadien zu Embryonen entwickeln und müssten übertragen werden, egal wie gut oder schlecht diese Entwicklung gelaufen sei. Eine Kultur über länger als zwei Tage sei sinnlos, da eine Auswahl zu keinem Zeitpunkt stattfinden dürfe. Die IVF-Behandlungsmethode von Prof. Y in Österreich führe routinemäßig eine Embryonenselektion durch.

Das bedeute, dass aus der Gesamtheit aller über drei bis sechs Tage kultivierten Embryonen die am weitesten entwickelten und morphologisch am unauffälligsten Aussehenden selektiert und transferiert würden, wobei das bevorzugte Stadium die nach einer Kulturdauer von fünf bis sechs Tagen entstandene expandierte Blastozyste sei. Diese Art der Selektion sei in Deutschland nach dem ESchG verboten.

Verstießen die durchgeführten Maßnahmen gegen das ESchG, fehle es an der Zwangsläufigkeit.

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Im vorliegenden Fall seien laut Kulturprotokollen am 18. Juni 2010 vier Eizellen und am 16. Oktober 2010 sieben Eizellen befruchtet worden, was offensichtlich im Widerspruch zum ESchG stehe. Aus der vorgelegten Bescheinigung des behandelnden Arztes ergebe sich eindeutig, dass die durchgeführte Behandlung nicht im Einklang mit dem ESchG erfolgt sei. Da die in Österreich durchgeführte Behandlung in Deutschland nicht zulässig gewesen wäre, könne dies nicht steuerlich von der Allgemeinheit subventioniert werden.

Gegen die Einspruchsentscheidung erhob der Kläger mit am 21. Mai 2012 beim Finanzgericht eingegangenem Schriftsatz Klage. Er ist der Ansicht, ein Verstoß gegen das ESchG liege nicht vor. Nach § 1 Abs. 1 Ziff. 3 ESchG sei es unzulässig, in einem Zyklus mehr als drei Embryonen zu übertragen. Nach § 1 Abs. 1 Ziff. 5 ESchG sei es nicht zulässig, mehr Eizellen zu befruchten, als innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollten. Ein Transfer von mehr als drei Embryonen habe nicht stattgefunden.

Diese beiden Vorgaben seien im Streitfall eingehalten. In diesem Zusammenhang sei u.a. zu berücksichtigen, dass, solle die Behandlung unter Anwendung möglichst weniger Behandlungszyklen zum Erfolg führen, die Zielsetzung bei der Zahl der Eizellen nicht zu gering, also die Behandlungsstrategie nicht zu „defensiv“ angesetzt werden sollte. Um am Ende zwei oder drei befruchtete Eizellen zu haben, sei daher die Behandlungsstrategie dahin auszurichten, dass auf die Punktion von mehr als zwei oder drei Eizellen abgestellt werde.

Zwar könne danach theoretisch – im günstigsten Verlauf – die Situation entstehen, dass mehr als drei Embryonen zur Verfügung stünden. Wenn dieser – seltene – Verlauf eintrete, heiße dies aber gerade nicht, dass dies gezielt geplant worden sei.

Diesen medizinischen Sachverhalt habe der deutsche Gesetzgeber außer Acht gelassen. Er gebe dem Mediziner diesbezüglich keine Antwort. Es entspreche – unter Beachtung der deutschen Rechtsvorgaben – absolut dem Behandlungsstandard, beim angestrebten Transfer von beispielsweise zwei Embryonen unter Beachtung der vielfachen Ausfallquoten auf den einzelnen Behandlungsstufen mehr als zwei Eizellen zu kultivieren.

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Dies sei abhängig vom Einzelfall. Er verwies in diesem Zusammenhang auf eine beigefügte E-Mail des Frauenarztes Prof. Dr. Z vom Kinderwunschzentrum A (Bl. 51 Klageakte), der für diese Vorgehensweise den Begriff des „deutschen Mittelweges“ verwandte. Sie sei mit dem ESchG vereinbar und unterscheide sich bei der IVF- bzw. ICSI-Behandlung heute in Deutschland nicht oder kaum von dem im Österreich üblichen Vorgehen.

Der Kläger meint, gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG sei lediglich die Zielsetzung verboten, überzählige Embryonen anzustreben. Eine „Überstimulation“ solle vermieden werden. Eine Zahlenangabe sei in § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG nicht enthalten, auch gebe es die Formulierung „sollen“. Dies alles berücksichtige die dem Verfahren anhaftende Prognosesituation und die Unwägbarkeit des Behandlungsverlaufs.

Darüber hinaus unterliege die durch den Kläger vorgenommene Behandlung der europarechtlichen Dienstleistungsfreiheit. Aus europarechtlicher Sicht komme es daher nicht darauf an, ob oder inwieweit das deutsche ESchG eingehalten worden sei.

Im Übrigen verlange der Bundesgerichtshof, was die Kostenübernahmepflicht der privaten Krankenversicherung angehe, das Erreichen einer Erfolgsprognose von 15% pro Behandlungszyklus. Die Erfolgsaussichten korrelierten jedoch u.a. mit der Zahl der transferierten Embryonen. Die Behandlung sei geprägt von hohen Ausfallquoten bei jedem der zahlreichen Behandlungsschritte.

Deshalb sei es im Bereich der zivilrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung unstreitig, dass Behandlungskosten auch bei mehr als drei Eizellen erstattungspflichtig bzw. beihilfefähig seien.

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Der Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG sei medizinisch unsinnig. Übertragen würden keine Eizellen, sondern Embryonen.

Bei zutreffender Auslegung werde man hingegen berücksichtigen müssen, dass zwischen Punktion der Eizellen und Übertragung eines Embryos ein langer Behandlungsweg liege, der aus diversen einzelnen Behandlungsschritten bestehe. Jeder einzelne Behandlungsschritt sei mit einem hohen Ausfallrisiko behaftet.

Der Kläger beantragt,

den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 22. Juli 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. April 2013 dahingehend abzuändern, dass ein Betrag in Höhe von 17.261,62 EUR als außergewöhnliche Belastungen im Zusammenhang mit der reproduktionsmedizinischen Behandlung der jetzigen Ehefrau des Klägers berücksichtigt wird,

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte beruft sich auf seinen Vortrag im Rechtsbehelfsverfahren. Der Gesetzestext des ESchG sei eindeutig. Eine offene Auslegung des ESchG sei nicht Sinn und Zweck der Vorschrift. Dies gehe auch aus dem Kommentar zur (Muster-)Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der assistierten Reproduktion – Novelle 2006 – in Tz. 3.1.2 hervor.

Die Finanzgerichte München (Az.: 16 V 5568/99) und Düsseldorf (Az.: 18 K 7931/00 E) hätten eine steuerliche Berücksichtigung ebenfalls abgelehnt.

Am 29. Oktober 2014 hat die Berichterstatterin einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage durchgeführt, in dem die Beteiligten den Verzicht auf mündliche Verhandlung zu Protokoll gegeben haben (Bl. 99 ff Klageakte).

Gründe

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1. Die zulässige Klage ist unbegründet. Eine Berücksichtigung der Aufwendungen im Zusammenhang mit der künstlichen Befruchtung der Ehefrau des Klägers kommt nicht in Betracht.

a) Die Einkommensteuer wird nach § 33 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen (außergewöhnliche Belastung). Aufwendungen sind außergewöhnlich, wenn sie nicht nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb des Üblichen liegen.

Durch § 33 EStG werden zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf berücksichtigt, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Als außergewöhnliche Belastung können mithin grundsätzlich nur solche Aufwendungen abgezogen werden, die einen Bereich der Lebensführung betreffen, welcher der individuellen Gestaltung des Steuerpflichtigen entzogen ist.

Liegt die wesentliche Ursache der Aufwendungen in der vom Einzelnen gestaltbaren Lebensführung, kommt ein Abzug nicht in Betracht (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 10. Mai 2007 III R 47/05, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFHE – 218, 141, Bundessteuerblatt – BStBl II 1997, 805 m.w.Nachw.).

Bei der Auslegung und Anwendung des § 33 EStG wurden danach Fallgruppen gebildet und entsprechend der Eigenart der einer solchen Fallgruppe zuzuordnenden Aufwendungen unterschiedliche Anforderungen an den Grund und den Umfang der Abziehbarkeit gestellt (BFH-Urteil vom 10. Mai 2007 III R 47/05, a.a.O.).

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Eine Fallgruppe bilden die für die Behandlung einer Krankheit entstehenden Kosten. Bei den typischen und unmittelbaren Krankheitskosten wird die Außergewöhnlichkeit letztlich unwiderleglich vermutet und die Zwangsläufigkeit dieser Aufwendungen weder dem Grunde noch der Höhe nach geprüft. Durch diese typisierende Anerkennung als außergewöhnliche Belastung soll ein unzumutbares Eindringen in die Privatsphäre des Steuerpflichtigen vermieden werden.

Hinsichtlich der Begriffe “Krankheit” und “Heilbehandlungskosten” hat der BFH an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), des Bundesgerichthofs (BGH) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) angeknüpft, die über die Berücksichtigung von Heilbehandlungskosten im Rahmen der gesetzlichen bzw. privaten Krankenversicherung bzw. des Beihilferechts zu entscheiden haben (BFH-Urteil vom 18. Juni 1997 III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805, m.w.N.).

Nach insoweit übereinstimmender Auffassung setzt der Begriff der Krankheit einen anomalen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand voraus, der den Betroffenen “in der Ausübung normaler psychischer oder körperlicher Funktionen” derart beeinträchtigt, dass er nach herrschender Auffassung einer medizinischen Behandlung bedarf.

Ob eine Anomalie als Krankheit anzusehen ist, kann von der persönlichen Lage des Betroffenen – z.B. seinem Alter oder seinem Beruf – abhängen oder von der – sich im Laufe der Zeit ggf. wandelnden – Auffassung der Gesellschaft und der jeweiligen Rechtskultur (BFH-Urteil vom 18. Juni 1997 III R 84/96, a.a.O.).

b) Nach dem o.g. Krankheitsbegriff ist die organisch bedingte Sterilität eines Ehepartners – im Streitfall die beim Kläger diagnostizierte organisch bedingte erhebliche Einschränkung der Fertilität – als Krankheit, d.h. objektiv als anomaler regelwidriger Körperzustand, einzuordnen.

Denn die Fortpflanzungsfähigkeit ist für Ehepartner, die sich in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts gemeinsam für ein eigenes Kind entscheiden, eine biologisch notwendige Körperfunktion (BFH-Urteil vom 16. Dezember 2010 VI R 43/10, BFHE 232, 179, BStBl II 2011, 414 m.w.Nachw.).

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Aber auch unabhängig von ihrem Familienstand stellt beispielsweise die Empfängnisunfähigkeit einer Frau eine Krankheit dar (BFH-Urteil vom 10. Mai 2007 III R 47/05, a.a.O.). Aufwendungen für Maßnahmen der Fortpflanzungsmedizin können danach auch dann grundsätzlich als außergewöhnliche Belastung abgezogen werden, wenn die Partner nicht miteinander verheiratet sind.

Da der Grund für die Nichterfüllung des gemeinsamen Kinderwunsches in der Spermienanomalie des Klägers liegt, bestand für ihn auch eine sittliche Verpflichtung, die von seiner Partnerin zu tragenden Behandlungskosten zu übernehmen.

c) Voraussetzung hierfür ist jedoch weiterhin, dass die Maßnahmen mit den Richtlinien der Berufsordnungen für Ärzte (BO) in Einklang stehen (BFH-Urteile vom 10. Mai 2007 III R 47/05, a.a.O. und vom 16. Dezember 2010 VI R 43/10, a.a.O. sowie Loschelder in Schmidt, EStG, § 33 Rz. 35 („künstliche Befruchtung“).

Dies ist vorliegend nicht der Fall. Im Kommentar zur Musterrichtlinie der Bundesärztekammer 2006, A 1392, auf den wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen wird, heißt es unter 3.1.2. (Embryonenschutzrechtliche Voraussetzungen) u.a. wie folgt:

Ein Ziel des Embryonenschutzgesetzes vom 13. Dezember 1990 ist es, höhergradige Mehrlinge zu vermeiden, indem nicht mehr als drei Embryonen auf eine Frau übertragen werden dürfen (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 ESchG).

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Der reproduktionsmedizinische Fortschritt ermöglicht es inzwischen, Embryonen zu kultivieren, um aufgrund morphologischer Beobachtung weitgehend zwischen entwicklungsfähigen und nicht entwicklungsfähigen Embryonen zu unterscheiden.

(…)

Daraus entsteht die Frage, ob eine Auswahl von Embryonen nach morphologischen Kriterien mit dem Embryonenschutzgesetz von 13.12.1990 in Einklang zu bringen ist. In der medizinrechtlichen Debatte wird dieses Problem seit kurzem kontrovers diskutiert.

Ausschlaggebend ist § 1 Abs .1 Nr. 5 ESchG, der es verbietet, mehr Eizellen zu befruchten, als einer Frau innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen, sowie § 1 Abs. 1 Nr. 3 ESchG, dem zufolge auf eine Frau innerhalb eines Zyklus nicht mehr als drei Embryonen übertragen werden dürfen.

Die Zusammenschau dieser beiden Bestimmungen führt zu der Schlussfolgerung, dass es gegenwärtig nicht zulässig, ist, mehr als drei Eizellen zu befruchten und dann nur einen oder allenfalls zwei dieser Embryonen zu übertragen.

Befruchtet man mehr Eizellen, um einen Embryo mit guten Entwicklungschancen zu wählen und nur ihn zu transferieren, ist dies mit dem Wortlaut der Norm, den historischen Vorstellungen des Gesetzgebers und dem systematischen Zusammenhang zwischen § 1 Abs. 1 Nrn. 3 und 5 ESchG nicht vereinbar. § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG soll verhindern, dass überzählige Embryonen entstehen.

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Nach diesen – nach Auffassung des Senats – eindeutigen – Ausführungen ist eine Befruchtung von mehr als drei Eizellen – wie im Streitfall geschehen – nicht mit den im Streitjahr 2010 gültigen und auch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht geänderten Richtlinien der Berufsordnungen für Ärzte in Einklang zu bringen.

Der Senat verkennt dabei nicht, dass der Vorstand der Bundesärztekammer im Vorwort zur Musterrichtlinie den Gesetzgeber auffordert, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Fortpflanzungsmedizin so zu gestalten, dass in anderen Staaten zulässige und praktizierte Verfahren, die zu einer Verbesserung der Kinderwunschbehandlung geführt haben und hierzulande von einem möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens getragen werden, auch in Deutschland in geeigneter Weise ermöglicht werden.

Gleichzeitig weist der Vorstand der Bundesärztekammer jedoch darauf hin, dass solange dies nicht der Fall ist, die Richtlinie selbstverständlich von den gesetzlichen Vorgaben ausgehen muss.

d) Die geltend gemachten Aufwendungen sind auch deswegen nicht als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen, weil ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot vorliegt. In einem solchen Fall fehlt es an der Zwangsläufigkeit der fraglichen Aufwendungen (vgl. dazu Urteile des Finanzgericht – FG – Düsseldorf vom 9. Mai 2003 18 K 7931/00 E, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2003, 1548 und des FG München vom 21. Februar 2000 16 V 5568/99, EFG 2000, 496).

Der Senat schließt sich – wie oben ausgeführt – derjenigen Auslegung des § 1 Abs. 1 Nrn 3 und 5 ESchG an, wonach eine Zusammenschau der beiden Vorschriften dazu führt, dass sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG ergibt, dass nicht mehr als 3 Eizellen befruchtet werden dürfen.

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Einer andere Auslegung, wie von Klägerseite vorgetragen und teilweise in der Literatur vertreten (u.a. Frommel in „Schutzkonzepte für Embryonen in vivo und in vitro“, 2010, die der Ansicht ist, die erlaubte Zahl der Befruchtungen hänge vom ärztlichen Beurteilungsspielraum ab,

überzählige Embryonen könnten zwar entstehen, dürften aber nicht geplant sein), steht nach Ansicht des Senats der Wortlaut der o.g. Vorschriften entgegen (so auch Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Beck-Online, § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG Rz. 8). Dies würde auch der Intention des Gesetzgebers widersprechen, der die Produktion überzähliger Embryonen verhindern wollte (Erbs, a.a.O).

In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass einer der Gesetzesentwürfe zur begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, welcher im Jahr 2011 zur Entscheidung stand (vgl. Art. 1 Nr. 1 des Gesetzentwurfs in Bundestags-Drucksache 17/5452) und eine ausdrückliche Änderung des § 1 Abs. 1 ESchG vorsah („abweichend von Abs. 1 Nr. 5 ESchG wird nicht bestraft, wer … mehr Eizellen einer Frau befruchtet, als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen.“), im Bundestag keine Mehrheit gefunden hat.

Ein diesem gesetzlichen Verbot entgegenlaufendes Verhalten („wer es unternimmt…“) wird gemäß § 1 Abs. 1 ESchG mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Adressat der Strafdrohung ist dabei nicht die Frau, sondern derjenige, der die beschriebenen Handlungen vornimmt.

Dennoch kann eine solche medizinische Behandlung, die in Deutschland den tätig werdenden Arzt und seine Mitarbeiter mit Strafe bedroht, mithin von der Rechtsordnung missbilligt wird, in Bezug auf die hieraus entstehenden finanziellen Aufwendungen nicht i.S. des § 33 EStG „zwangsläufig“ sein.

Eine im Ausland entgegen geltenden deutschen Gesetzen durchgeführte Behandlung ist nicht unter dem Gesichtspunkt der außergewöhnlichen Belastung finanziell der Allgemeinheit aufzubürden.

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Dem steht auch nicht eine etwaige Kostenübernahme durch die Krankenversicherung oder die Beihilfe (vgl. die von Klägerseite zitierten Gerichtsentscheidungen) entgegen.

Selbst bei einem unterstellten Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG führt dies nicht automatisch zu einer Nichtigkeit des Behandlungsvertrages (so ausdrücklich Urteil des Amtsgerichts München vom 27. April 2012 242 C 10202/11).

Für die Beantwortung der streitgegenständlichen Frage, ob vorliegend eine Vereinbarkeit mit dem deutschen Embryonenschutzgesetz gegeben ist, war auch keine Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich.

Es gehört zu den originären Aufgaben des Gerichts, die Vereinbarkeit eines bestimmten Vorgangs mit den Gesetzen zu prüfen.

e) Auch die Berufung des Klägers auf die gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsfreiheit führt nicht zu einem anderen Ergebnis.

Zwar normiert Art. 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) das Recht auf freie Dienstleistung.

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Dem unterfällt grundsätzlich auch der Kläger, der als Leistungsempfänger – bzw. seine Ehefrau – der sog. passiven Dienstleistungsfreiheit unterfällt (vgl. dazu Müller-Graff in Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rz. 53).

Eine Beschränkung dieser Freiheit ist beispielsweise gegeben, wenn bei einer medizinischen Behandlung durch eine staatliche Regelung die Übernahme von Behandlungskosten in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Genehmigung ausgeschlossen wird.

Im Streitfall ist jedoch die Ablehnung der Anerkennung als außergewöhnliche Belastung i.S. von § 33 des deutschen EStG dadurch gerechtfertigt, dass die fragliche Behandlung aus o.g. Gründen nicht mit den Berufs- bzw. Standesregeln, wie sie von der Bundesärztekammer in der Berufsordnung für Ärzte im Jahr 2006 normiert wurden, im Einklang steht (vgl. zur Einschränkung durch Berufs- und Standesregeln Müller-Graff in Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rz. 107 m.w.Nachw.).

2. Der Senat hielt es für sach- und ermessensgerecht, gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, nachdem die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erteilt haben.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

4. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.

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