Gehörsverletzung durch Setzen einer unzureichenden Äußerungsfrist
In dem vorliegenden Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 15. Mai 2018 – VI ZR 287/17 geht es um die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
gemäß Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) durch das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz.
Der Kläger, ein damals zehnjähriger Junge, macht gegen die beklagten Ärzte und das Krankenhaus Schadensersatzansprüche
wegen einer angeblich fehlerhaften konservativen Behandlung seines Schien- und Wadenbeinbruchs geltend.
Der Sachverhalt stellt sich wie folgt dar:
Der Kläger erlitt am 5. Oktober 2014 eine Unterschenkelfraktur und wurde im Krankenhaus der Beklagten aufgenommen.
Röntgenaufnahmen zeigten eine deutliche Verschiebung der Knochenfragmente. Zunächst wurde das Bein mit einer Oberschenkelgipsschiene ruhiggestellt.
Am 8. Oktober 2014 empfahl ein Assistenzarzt der Mutter des Klägers eine operative Versorgung des Bruchs, was diese jedoch ablehnte.
Daraufhin erfolgte am 9. Oktober lediglich eine geschlossene Reposition und Anlage eines Oberschenkelgipsverbandes.
Nach der Entlassung und einer erneuten Vorstellung im Krankenhaus der Beklagten wegen Komplikationen begab sich der Kläger am 20. Oktober 2014 in ein anderes Krankenhaus,
wo eine weitere Röntgenuntersuchung eine zunehmende Verschiebung und Verkürzung des Unterschenkels zeigte.
In der Folge wurde der Bruch operativ in einem weiteren Krankenhaus versorgt.
Der Kläger argumentierte, dass seine Mutter die Operation nur abgelehnt habe, weil der Chefarzt der chirurgischen Abteilung,
der Beklagte zu 2, ihr zuvor mitgeteilt habe, dass eine konservative Behandlung notwendig sei.
Sie habe dem Chefarzt mehr Vertrauen geschenkt als dem Assistenzarzt.
Die konservative Behandlung sei daher ein Behandlungsfehler.
Das Landgericht (LG) Koblenz wies die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens ab.
Das OLG Koblenz beabsichtigte, die Berufung des Klägers gemäß § 522 Absatz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) durch Beschluss zurückzuweisen
und wies den Kläger mit einem 15-seitigen Hinweisbeschluss vom 6. Juni 2017 darauf hin.
Das OLG führte aus, dass die Entscheidung zur konservativen Behandlung nicht vorwerfbar sei, da die Mutter die Operation abgelehnt habe.
Der Einwand des Klägers, die Ablehnung sei auf die vorherige Aussage des Chefarztes zurückzuführen, sei unerheblich, da der operativen Eingriff später erneut vorgeschlagen worden sei.
Das OLG setzte dem Kläger eine Frist zur Stellungnahme zu diesem Hinweisbeschluss bis zum 29. Juni 2017 und wies darauf hin,
dass die übliche Frist zwei Wochen betrage, diese aber bereits großzügiger bemessen worden sei, um Fristverlängerungsgesuche zu vermeiden.
Fristverlängerungen würden daher nur in absoluten Ausnahmefällen gewährt.
Der Klägervertreter beantragte am 9. Juni 2017 eine Fristverlängerung bis zum 31. Juli 2017, da er als alleiniger Sachbearbeiter vom 9. bis zum 26. Juni 2017 urlaubsbedingt abwesend sei
und eine notwendige Besprechung mit dem Kläger erst nach seiner Rückkehr erfolgen könne.
Das OLG wies diesen Antrag am 12. Juni 2017 unter Bezugnahme auf seine vorherigen Ausführungen zurück.
Nachdem keine Stellungnahme des Klägers bis zum 29. Juni 2017 eingegangen war, wies das OLG die Berufung durch Beschluss vom 30. Juni 2017 zurück.
Der BGH hob diese Entscheidung auf und verwies den Fall zurück an das OLG. Zur Begründung führte der BGH aus, dass das OLG den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 103 Absatz 1 GG
verletzt habe, indem es den Antrag auf Fristverlängerung ohne konkrete Auseinandersetzung mit dem geltend gemachten Grund ablehnte und die Berufung unmittelbar nach Fristablauf zurückwies.
Der BGH stellte fest, dass Artikel 103 Absatz 1 GG gebietet, dass das Verfahrensrecht und das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnen müssen, das einen wirkungsvollen
Rechtsschutz gewährleistet und den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten im Prozess zu behaupten.
Der Einzelne dürfe nicht bloß Objekt des Verfahrens sein, sondern müsse vor einer ihn betreffenden Entscheidung gehört werden, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können.
Dazu gehöre die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei nicht nur verletzt, wenn das Gericht eine selbst gesetzte Frist nicht abwarte, sondern auch, wenn die gesetzte Frist objektiv nicht ausreicht,
um innerhalb dieser Frist eine sachlich fundierte Äußerung zum Sachverhalt und zur Rechtslage zu erbringen.
Im vorliegenden Fall habe der Klägervertreter mit seinem Antrag auf Fristverlängerung unter Hinweis auf seine urlaubsbedingte Abwesenheit, die Notwendigkeit einer Besprechung mit dem Kläger und seine
Stellung als alleiniger Sachbearbeiter hinreichend deutlich gemacht, dass der Kläger innerhalb der gesetzten Frist keine sachgerechte Stellungnahme zu dem 15-seitigen Hinweisbeschluss des OLG abgeben konnte.
Das OLG habe sich mit diesen konkreten und grundsätzlich erheblichen Gründen für eine Fristverlängerung (§ 224 Absatz 2 ZPO) in seinem ablehnenden Beschluss nicht auseinandergesetzt,
sondern lediglich pauschal auf seine allgemeinen Ausführungen im Hinweisbeschluss verwiesen.
Diese allgemeinen Erwägungen des OLG, wonach Fristverlängerungen nur in Ausnahmefällen in Betracht kämen und pauschale Behauptungen nicht genügten, gingen am konkreten Fall vorbei.
Die urlaubsbedingte Abwesenheit des Klägervertreters konnte das OLG bei der ursprünglichen Fristsetzung noch nicht berücksichtigen, da es erst durch den Antrag darauf hingewiesen wurde.
Zudem sei der Verlängerungsantrag konkret und nicht pauschal begründet worden.
Hätte das OLG die Gründe für die Fristverlängerung für nicht ausreichend glaubhaft gemacht gehalten, hätte es dies offenlegen
und dem Klägervertreter Gelegenheit zur Nachholung der Glaubhaftmachung geben müssen.
Durch die Ablehnung des Fristverlängerungsantrags ohne nähere Auseinandersetzung mit dem berechtigten Anliegen des Klägers und die anschließende Zurückweisung der Berufung habe das OLG
dem Kläger das rechtliche Gehör in unzumutbarer Weise erschwert und seine Möglichkeit, die Willensbildung des Gerichts
in dem nicht einfach gelagerten Arzthaftungsprozess durch sachlich fundierten Vortrag zu beeinflussen, unangemessen verkürzt.
Der Gehörsverstoß sei auch entscheidungserheblich, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass das OLG zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre,
wenn dem Kläger eine angemessene Frist zur Stellungnahme eingeräumt worden wäre.
Der Kläger hätte die Beurteilung des OLG infrage stellen können, wonach den Beklagten kein Behandlungsfehler vorzuwerfen sei, da die Mutter die Operation abgelehnt habe.
Er hätte argumentiert, dass seine Mutter widersprüchlich über die medizinisch gebotenen Maßnahmen informiert worden sei und dem Chefarzt mehr Gewicht beigemessen habe.
Zudem hätte er die Beurteilung des OLG beanstandet, wonach die „interne Motivation“ der Mutter nach dem Gespräch mit dem Assistenzarzt nicht mehr hätte erforscht werden müssen,
und auf die Widersprüchlichkeit der Informationen sowie die höhere Qualifikation des Chefarztes hingewiesen.
Des Weiteren hätte sich der Kläger gegen die Beurteilung gewandt, dass ein Behandlungsfehler auch deshalb zu verneinen sei, weil die konservative Therapie relativ indiziert gewesen sei, und darauf
hingewiesen, dass bei der Auswahl des Sachverständigen auf das Fachgebiet abzustellen sei, in das der Eingriff falle, und nicht auf das der Beklagtenseite.
Der BGH hielt es für nicht ausgeschlossen, dass das OLG aufgrund dieser möglichen Ausführungen des Klägers zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.
Er betonte, dass eine Verneinung eines Behandlungsfehlers wegen Ablehnung medizinisch gebotener Maßnahmen durch den Patienten voraussetze,
dass der Patient vollständig und widerspruchsfrei informiert wurde und die Informationen verstanden hat.
Widersprüchliche Angaben von Chefarzt und Assistenzarzt könnten dem entgegenstehen.
Zudem wies der BGH auf seine Rechtsprechung zur Bestimmung des relevanten medizinischen Fachgebiets für die Sachverständigenauswahl hin.
Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.
Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.
Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.
Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.
Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.
Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.
Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.
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