Gewöhnlicher Aufenthalt oder inländischer Wohnsitz des Erblassers

Oktober 7, 2025

Gewöhnlicher Aufenthalt oder inländischer Wohnsitz des Erblassers

Dieser Beschluss des Finanzgerichts München (FG München) vom 19.06.2013 befasst sich mit der Frage, ob ein verstorbener Erblasser in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig war, und entscheidet über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) der entsprechenden Steuerbescheide.

Zusammenfassung: FG München, Beschluss vom 19.06.2013 – 5 V 1314/13

Der Beschluss des Finanzgerichts München behandelt einen Rechtsstreit um die Steuerpflicht eines verstorbenen Mannes (Erblasser). Konkret ging es darum, ob die Erbin (Tochter) die vom Finanzamt (FA) festgesetzten Einkommensteuern für die Jahre 1998 bis 2008 sofort bezahlen muss, obwohl sie gegen die Bescheide Einspruch eingelegt hat. Sie beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV), also das vorläufige Aussetzen der Zahlungspflicht, bis über ihren Einspruch entschieden ist.

Die Ausgangslage: Unbeschränkte Steuerpflicht

Das Finanzamt hatte auf Basis einer Außenprüfung nachträglich erhebliche Einkommensteuern (vor allem wegen Kapitalerträgen und privaten Veräußerungsgeschäften) für die Jahre 1998 bis 2008 festgesetzt.

Die Begründung des FA für diese Bescheide basierte auf der Annahme der unbeschränkten Steuerpflicht des Erblassers in Deutschland (§ 1 Abs. 1 EStG). Diese liegt vor, wenn eine natürliche Person im Inland entweder einen Wohnsitz (§ 8 AO) oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) hat.

Argumentation des FA:

Der Erblasser war in der Stadt Y gemeldet und habe dort eine Wohnung genutzt. Zudem seien Barabhebungen seiner Ehefrau erfolgt, die seiner Anwesenheit am Wohnort in Y dienten. Das FA folgerte daraus einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.

Argumentation der Erbin:

Die Erbin widersprach vehement. Der Erblasser habe seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt und Wohnsitz in Sydney, Australien, gehabt, wo er eine Wohnung besaß und sich die meiste Zeit des Jahres aufhielt. Dies sei durch ein australisches Dauervisum mit Verlängerung belegt, das eine jährliche Mindestanwesenheit erforderte. Die Wohnung in Y sei nur für kurze Besuche genutzt worden.

Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung

Das Gericht musste im Rahmen des AdV-Verfahrens nicht abschließend klären, wer Recht hat. Es musste lediglich prüfen, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide bestehen (§ 69 Abs. 3 und Abs. 2 FGO). Ernstliche Zweifel liegen schon dann vor, wenn der Erfolg des Einspruchs ebenso wenig ausgeschlossen ist wie dessen Misserfolg.

Unzulässigkeit in einem Punkt

Der Antrag auf AdV für das Jahr 2009 wurde als unzulässig abgewiesen. Der Grund: Die festgesetzte Steuer betrug 0,00 EUR (ein sogenannter Nullbescheid). Ein Bescheid, der keine Steuer festsetzt, ist nicht vollziehbar und kann daher nicht von der Vollziehung ausgesetzt werden.

Ernstliche Zweifel an der Steuerpflicht

Für die Jahre 1998 bis 2008 bejahte das Gericht die ernstlichen Zweifel und gab dem Antrag statt.

Das Gericht stellte fest, dass das Finanzamt seine Behauptung der unbeschränkten Steuerpflicht des Erblassers nicht schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht hatte.

Gewöhnlicher Aufenthalt oder inländischer Wohnsitz des Erblassers

Zum Wohnsitz (§ 8 AO): Allein die melderechtliche Anmeldung ist laut Gericht nicht entscheidend, da es auf die tatsächlichen Verhältnisse ankommt. Das FA konnte nicht mit präsenten Beweismitteln belegen, dass der Erblasser im gesamten Streitzeitraum über die Wohnung in Y die tatsächliche Verfügungsgewalt hatte und diese regelmäßig nutzte (die erweiterten Meldedaten widersprachen sogar der Behauptung, er sei durchgehend gemeldet gewesen).

Zum gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO): Das FA hatte ebenfalls nicht schlüssig dargelegt, dass sich der Erblasser in Y regelmäßig und mit einer gewissen Dauer aufgehalten hatte (typischerweise mehr als sechs Monate pro Jahr).

Die Feststellungslast (Beweislast)

Ein zentraler Punkt des Beschlusses war die Feststellungslast (Wer muss was beweisen?).

Das Gericht betonte: Wenn in tatsächlicher Hinsicht Zweifel an den Umständen verbleiben, die einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründen, dann trägt derjenige die Feststellungslast, der sich auf das Vorhandensein des streitigen Wohnsitzes beruft – im vorliegenden Fall das Finanzamt.

Das FA hatte es versäumt, ausreichende Ermittlungen anzustellen, insbesondere die von der Erbin benannte Zeugin (die Ehefrau des Erblassers) zu befragen, obwohl die Erbin offenkundig nicht über die notwendigen Unterlagen des Erblassers verfügte. Aufgrund dieser fehlenden Aufklärung des Sachverhalts durch das FA bestanden aus Sicht des Gerichts ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide.

Ergebnis

Das Gericht ordnete die Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1998 bis 2008 an. Das bedeutet, die Erbin muss die Steuerschulden vorläufig nicht bezahlen, bis das Finanzamt über ihren Einspruch entschieden hat und – falls sie dann noch klagen sollte – das Finanzgericht abschließend in der Hauptsache entschieden hat.

Das Gericht stellte klar:

Zweifel an der tatsächlichen Existenz eines inländischen Wohnsitzes gehen zulasten des Finanzamtes, wenn es sich auf dessen Existenz beruft, aber keine ausreichenden Beweise vorlegen kann.

Dieser Beschluss ist ein wichtiges Beispiel dafür, dass die bloße behördliche Anmeldung nicht ausreicht, um eine unbeschränkte Steuerpflicht zu begründen. Es müssen tatsächliche Verhältnisse (wie die Nutzung der Wohnung und die Aufenthaltsdauer) durch das Finanzamt ermittelt und glaubhaft gemacht werden.

RA und Notar Krau

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