Hinweispflichten des Berufungsgerichts bei beabsichtigtem Abweichen von der Vorinstanz

Mai 4, 2025

Hinweispflichten des Berufungsgerichts bei beabsichtigtem Abweichen von der Vorinstanz

RA und Notar Krau

In dem Beschluss vom 29. Mai 2018 (VI ZR 370/17) befasste sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit den Hinweispflichten des Berufungsgerichts,

insbesondere wenn es beabsichtigt, von der rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung der Vorinstanz abzuweichen.

Der Fall betraf eine Schadensersatzklage wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung über die Risiken einer Operation.

Der Kläger litt an einer Speiseröhrenerkrankung (Achalasie) und wurde operativ behandelt.

Im Aufklärungsgespräch wurde er über verschiedene allgemeine und spezifische Operationsrisiken informiert,

jedoch nicht über die Möglichkeit eines Pleuraergusses (Flüssigkeitsansammlung im Brustfell) oder eines Pleuraempyems (Vereiterung des Brustfells).

Nach der Operation traten bei dem Kläger ebensolche Komplikationen auf, die weitere operative Eingriffe erforderlich machten.

Das Landgericht (LG) Frankfurt a. M. wies die Klage ab. Es sah weder einen Behandlungsfehler noch eine unzureichende Aufklärung.

Nach Ansicht des Sachverständigen seien die aufgetretenen Komplikationen keine typischen Risiken des Eingriffs gewesen, weshalb keine Aufklärungspflicht bestanden habe.

Auf die Berufung des Klägers hin änderte das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt a. M. das Urteil ab und erklärte die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt.

Hinweispflichten des Berufungsgerichts bei beabsichtigtem Abweichen von der Vorinstanz

Es war der Ansicht, dass der Kläger über das Risiko eines Pleuraempyems hätte aufgeklärt werden müssen, da es sich um ein bekanntes und spezifisches Risiko handele, das für die Entscheidung des Patienten relevant sein konnte.

Das OLG ließ die Revision nicht zu.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hatte Erfolg und führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das OLG.

Der BGH begründete seine Entscheidung maßgeblich mit der Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör gemäß Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG).

Zunächst rügte der BGH, dass das OLG zu Unrecht angenommen habe, es sei bereits zum Zeitpunkt der Operation im August 2004

in medizinischen Fachkreisen bekannt gewesen, dass sich nach einer solchen Operation ein Pleuraempyem entwickeln könne.

Das OLG stützte sich dabei auf eine Studie aus dem Jahr 2008 und eine englischsprachige Veröffentlichung aus dem Jahr 1994.

Die Beklagten hatten jedoch in einem nachgelassenen Schriftsatz und in einem früheren Schriftsatz vorgetragen und unter Beweis gestellt,

dass diese Erkenntnisse im Operationszeitpunkt noch nicht vorlagen und auch der gerichtliche Sachverständige dies nicht anders gesehen habe.

Der BGH bemängelte, dass das OLG diesen Vortrag der Beklagten übergangen und die Frage der damaligen Bekanntheit des Risikos nicht durch ein weiteres Sachverständigengutachten geklärt habe.

Dies stelle eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, da das Gericht verpflichtet sei, erheblichen Tatsachenvortrag der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen.

Weiterhin beanstandete der BGH, dass das OLG den erstmals in der Berufungsinstanz erhobenen Einwand der hypothetischen Einwilligung der Beklagten gemäß § 531 Absatz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) zurückgewiesen habe.

Die hypothetische Einwilligung hätte bedeutet, dass der Kläger auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Operation eingewilligt hätte, was den Kausalzusammenhang zwischen der fehlenden Aufklärung und dem Schaden entfallen lassen würde.

Hinweispflichten des Berufungsgerichts bei beabsichtigtem Abweichen von der Vorinstanz

Der BGH stellte klar, dass der in erster Instanz siegreiche Berufungsbeklagte darauf vertrauen dürfe, rechtzeitig darauf hingewiesen zu werden, wenn das Berufungsgericht die Beurteilung der Vorinstanz

nicht teilt, und sodann Gelegenheit zu erhalten, seinen Tatsachenvortrag zu ergänzen oder weiteren Beweis anzutreten.

Die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehörten in diesem Zusammenhang zusammen.

Im vorliegenden Fall hätte das OLG die Beklagten darauf hinweisen müssen, dass es die Aufklärungspflicht anders beurteilt als das LG.

Nach einem solchen Hinweis hätten die Beklagten die Möglichkeit haben müssen, sich auf eine hypothetische Einwilligung zu berufen.

Die Zurückweisung dieses neuen Vorbringens durch das OLG verletzte ebenfalls das rechtliche Gehör der Beklagten.

Der BGH führte zudem aus, dass die Voraussetzungen für die Zulassung neuen Vorbringens gemäß § 531 Absatz 2 Nummer 1 ZPO offenkundig fehlerhaft verneint worden seien.

Nach dieser Vorschrift sind neue Angriffs- und Verteidigungsmittel zuzulassen, wenn sie einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszugs erkennbar übersehen 1 oder für unerheblich gehalten worden ist.

Dies setze voraus, dass die Rechtsansicht des Gerichts den erstinstanzlichen Sachvortrag der Partei beeinflusst habe und (mit-)ursächlich dafür geworden sei, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert habe.

Dies sei bereits dann anzunehmen, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs bei Zugrundelegung der späteren Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu einem Hinweis nach § 139 Absatz 2 ZPO verpflichtet gewesen wäre.  

Da das LG die Aufklärung als ausreichend erachtet hatte, bestand für die Beklagten kein Anlass, sich hilfsweise auf eine hypothetische Einwilligung zu berufen.

Hätte das LG jedoch eine Aufklärungspflicht bejaht, hätte es die Beklagten auf diesen Gesichtspunkt hinweisen müssen.

Daher war die Verlagerung des Vortrags zur hypothetischen Einwilligung in die Berufungsinstanz durch die abweichende Rechtsauffassung des OLG bedingt und hätte gemäß § 531 Absatz 2 Nummer 1 ZPO zugelassen werden müssen.

Hinweispflichten des Berufungsgerichts bei beabsichtigtem Abweichen von der Vorinstanz

Die Nachlässigkeit der Partei schließe die Zulassung neuen Vorbringens in diesem Fall nicht aus.

Da die Gehörsverletzungen entscheidungserheblich waren, hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück.

Das OLG muss nun den Vortrag der Beklagten zur Bekanntheit des Risikos im Operationszeitpunkt berücksichtigen

und gegebenenfalls ein weiteres Sachverständigengutachten einholen sowie den Einwand der hypothetischen Einwilligung zulassen und prüfen.

Zusammenfassend betont der Beschluss des BGH die wesentliche Bedeutung der Hinweispflichten des Berufungsgerichts, wenn es von der Beurteilung der Vorinstanz abweichen will.

Dies dient dem Schutz des rechtlichen Gehörs der Parteien und soll sicherstellen, dass diese die Möglichkeit haben,

auf die veränderte Rechtsauffassung des Gerichts zu reagieren und ihren Vortrag entsprechend anzupassen.

Insbesondere darf der in erster Instanz erfolgreiche Berufungsbeklagte darauf vertrauen, dass er rechtzeitig auf eine abweichende Beurteilung hingewiesen wird

und sodann die Gelegenheit erhält, neuen, relevanten Tatsachenvortrag vorzubringen.

Die Präklusionsvorschriften des § 531 Absatz 2 ZPO dürfen nicht dazu führen, dass berechtigtes Vorbringen unberücksichtigt bleibt,

wenn die Notwendigkeit dieses Vorbringens erst durch die veränderte Sichtweise des Berufungsgerichts entsteht.

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Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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