Ist der Pflichtteil noch verfassungsgemäß?
Bundesverfassungsgericht 1 BvR 1644/00
Pflichtteil tragendes Strukturprinzip des Erbrechts,
Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass
– 1 BvR 1644/00 –
– 1 BvR 188/03 –
Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts befasst sich mit der Verfassungsmäßigkeit des Pflichtteilsrechts,
insbesondere im Spannungsfeld zwischen Testierfreiheit des Erblassers und dem Anspruch der Kinder auf eine Mindestbeteiligung am Nachlass.
Kernaussagen des Urteils:
Pflichtteil als verfassungsrechtlich garantiertes Recht: Das Gericht stellt fest, dass das Pflichtteilsrecht der Kinder durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG geschützt ist. Es handelt sich um eine „grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung“ der Kinder am Nachlass.
Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelungen: Die gesetzlichen Bestimmungen zum Pflichtteilsrecht (§ 2303 Abs. 1 BGB), zu den Entziehungsgründen (§ 2333 Nr. 1 und 2 BGB) und zur Pflichtteilsunwürdigkeit (§ 2345 Abs. 2, § 2339 Abs. 1 Nr. 1 BGB) sind mit dem Grundgesetz vereinbar.
Auslegung des § 2333 Nr. 1 BGB: Das Gericht betont die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung des § 2333 Nr. 1 BGB (Nach dem Leben trachten). Im vorliegenden Fall wurde die Vorschrift zu eng ausgelegt, indem auf ein Verschulden des Pflichtteilsberechtigten im strafrechtlichen Sinne abgestellt wurde.
Hintergrund des Urteils:
Das Gericht hatte über zwei Verfassungsbeschwerden zu entscheiden.
Im ersten Fall (1 BvR 1644/00) hatte ein Sohn seine Mutter getötet, nachdem er sie zuvor mehrfach misshandelt hatte.
Die Mutter hatte in ihrem Testament ihren gewalttätigen Sohn enterbt.
Die Gerichte hatten dem Sohn dennoch den Pflichtteil zugesprochen, da er aufgrund seiner psychischen Erkrankung schuldunfähig im strafrechtlichen Sinne war.
Im zweiten Fall (1 BvR 188/03) hatte ein Vater seinem Sohn den Pflichtteil entzogen, weil dieser ihm den Kontakt zu seinem Enkelkind verweigert hatte.
Die Gerichte hatten die Pflichtteilsentziehung für unwirksam erklärt.
Begründung des Urteils:
Das Gericht führt aus, dass das Pflichtteilsrecht eine lange Tradition hat und als tragendes Strukturprinzip des deutschen Erbrechts anzusehen ist.
Es dient der Sicherung der familiären Solidarität und dem Schutz der Kinder vor einer unverhältnismäßigen Benachteiligung.
Die Testierfreiheit des Erblassers ist zwar grundrechtlich geschützt, unterliegt aber bestimmten Beschränkungen.
So kann der Pflichtteil nur in Ausnahmefällen entzogen werden, wenn ein besonders schwerwiegendes Fehlverhalten des Kindes vorliegt.
Im ersten Fall rügt das Gericht, dass die Zivilgerichte die besonderen Umstände des Falles nicht ausreichend berücksichtigt haben.
Der Sohn hatte die Mutter zwar im Zustand der Schuldunfähigkeit getötet, aber er hatte den objektiven Tatbestand des
„Nach dem Leben trachtens“
wissentlich und willentlich erfüllt.
Dies hätte die Gerichte veranlassen müssen zu prüfen, ob der Sohn bei den vorangegangenen Misshandlungen zumindest mit
„natürlichem Vorsatz“
gehandelt hatte.
Das Gericht betont, dass der Wortlaut des § 2333 Nr. 1 BGB
(„nach dem Leben trachten“)
eine Auslegung zulässt,
die nicht zwingend ein Verschulden im strafrechtlichen Sinne voraussetzt. Auch die Entstehungsgeschichte der Norm spricht nicht dagegen.
Im zweiten Fall hingegen sieht das Gericht keine Verfassungsverstöße.
Die Gerichte haben zu Recht einen Körperverletzungsvorsatz des Sohnes als Voraussetzung für die Pflichtteilsentziehung gefordert.
Fazit:
Das Urteil stärkt den Schutz des Pflichtteilsrechts als grundlegendes Element des deutschen Erbrechts.
Es betont aber auch die Bedeutung der Testierfreiheit und die Notwendigkeit einer sorgfältigen Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen im Einzelfall.
Wichtige Punkte für die Praxis:
Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.
Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.
Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.
Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.
Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.
Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.
Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.
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