Keine Sittenwidrigkeit des Pflichtteilsverzichts eines behinderten Sozialleistungsbeziehers
BGH, Urteil vom 19.01.2011 – IV ZR 7/10
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
heute möchten wir Ihnen ein interessantes Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) näherbringen, das sich mit der Frage beschäftigt,
ob ein behindertes Kind auf seinen Pflichtteil verzichten darf, ohne dass der Sozialhilfeträger diesen Anspruch für sich beanspruchen kann.
Dieses Thema ist für viele Familien relevant und wir möchten Ihnen die Hintergründe und die Entscheidung des BGH verständlich erklären.
Worum ging es in dem Fall?
In dem konkreten Fall ging es um ein Ehepaar, das ein gemeinsames Testament aufgesetzt hatte.
Darin setzten sie sich gegenseitig als Alleinerben ein.
Nach dem Tod des ersten Ehepartners sollten die drei gemeinsamen Kinder erben.
Eine der Töchter ist lernbehindert und bezieht Eingliederungshilfe vom Sozialhilfeträger.
Im Testament wurde diese Tochter als sogenannte Vorerbin eingesetzt, während ihre Geschwister Vollerben wurden.
Über den Erbteil der Tochter wurde eine Testamentsvollstreckung angeordnet, um sicherzustellen, dass das Erbe zu ihrer Lebensqualität beiträgt, ohne dass der Sozialhilfeträger darauf zugreifen kann.
Noch am selben Tag, an dem das Testament errichtet wurde, verzichteten alle drei Kinder notariell auf ihren Pflichtteil nach dem erstversterbenden Elternteil.
Nach dem Tod der Mutter forderte der Sozialhilfeträger von dem überlebenden Ehemann Auskunft über den Wert des Nachlasses und die Auszahlung des Pflichtteils der behinderten Tochter.
Der Sozialhilfeträger argumentierte, dass der Pflichtteilsverzicht der Tochter sittenwidrig sei, da er einzig dem Zweck diene, den Zugriff des Sozialhilfeträgers auf diesen Anspruch zu verhindern.
Die Entscheidung des Gerichts
Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht wiesen die Klage des Sozialhilfeträgers ab.
Der Bundesgerichtshof bestätigte diese Entscheidungen.
Die Richter stellten fest, dass weder das Testament der Eltern noch der Pflichtteilsverzicht der Tochter gegen die guten Sitten verstoßen.
Warum ist der Pflichtteilsverzicht nicht sittenwidrig?
Der BGH führte mehrere Gründe an, warum der Pflichtteilsverzicht in diesem Fall nicht als sittenwidrig anzusehen ist:
Schutz des behinderten Kindes:
Das sogenannte „Behindertentestament“, bei dem Eltern versuchen, das Erbe ihres behinderten Kindes so zu gestalten, dass es ihm zugutekommt,
ohne dass der Sozialhilfeträger darauf zugreifen kann, ist grundsätzlich nicht sittenwidrig.
Es ist Ausdruck der elterlichen Sorge für das Wohl des Kindes über den Tod hinaus.
Privatautonomie:
Jeder hat grundsätzlich das Recht, auf ein Erbe oder einen Pflichtteil zu verzichten.
Dieses Recht ist durch die Verfassung geschützt.
Es gibt keine Pflicht zu erben.
Nachranggrundsatz im Sozialhilferecht:
Das Sozialhilferecht sieht zwar vor, dass staatliche Hilfe erst dann in Anspruch genommen werden kann, wenn eigenes Einkommen und Vermögen nicht ausreichen.
Dieser Grundsatz wird jedoch im Gesetz selbst durchbrochen, insbesondere beim Schonvermögen und bei Leistungen für behinderte Menschen.
Der Gesetzgeber berücksichtigt hier den besonderen Schutzbedarf von Menschen mit Behinderung und ihrer Familien.
Familiärer Zusammenhalt:
Es ist nachvollziehbar, dass Eltern sich gegenseitig absichern und verhindern möchten, dass die Kinder bereits nach dem Tod des ersten Elternteils Ansprüche geltend machen.
Ein Pflichtteilsverzicht in dieser Situation ist auch bei nicht-behinderten Kindern üblich und wird als Ausdruck des familiären Zusammenhalts angesehen.
Es wäre widersprüchlich, wenn dies bei einem behinderten Kind anders bewertet würde.
Keine Umgehung des Sozialhilferechts:
Der Pflichtteilsverzicht führt nicht dazu, dass die behinderte Tochter ihre Bedürftigkeit pflichtwidrig herbeiführt.
Sie ist weiterhin auf die Leistungen des Sozialhilfeträgers angewiesen.
Fazit
Das Urteil des Bundesgerichtshofs stärkt die Rechte von behinderten Menschen und ihren Familien.
Es verdeutlicht, dass Eltern im Rahmen ihrer Testierfreiheit Vorkehrungen treffen dürfen, um das Erbe ihres behinderten Kindes zu schützen.
Auch der Verzicht eines behinderten Kindes auf seinen Pflichtteil ist nicht automatisch sittenwidrig, sondern kann im Einzelfall durchaus zulässig sein.
Dieses Urteil zeigt einmal mehr, wie komplex die juristische Materie sein kann und wie wichtig es ist, sich bei solchen Fragen von einem erfahrenen Juristen beraten zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihr RA und Notar Krau
Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.
Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.
Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.
Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.
Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.
Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.
Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.
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Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.
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Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.
Durch die schlichte Anfrage kommt noch kein kostenpflichtiges Mandat zustande.