Miete Räumungsschutz – Suizidrisiko infolge räumungsbedingter Trennung
Dieses Dokument fasst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 22. Mai 2024 (Az. 2 BvR 51/24) zusammen, das sich mit dem Suizidrisiko im Zusammenhang mit einer drohenden Zwangsräumung einer Wohnung befasst.
Es beleuchtet die besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gerichte, wenn das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) betroffen sind.
Das BVerfG stellte klar, dass Gerichte im Verfahren des Vollstreckungsschutzes ($ 765a ZPO) bei drohender Zwangsräumung substantiierten Vortrag zu erheblichen Suizidrisiken oder anderen schwerwiegenden Gesundheitsgefahren nicht einfach übergehen dürfen.
Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, dieses bei ihrer Abwägung im Rahmen des Vollstreckungsschutzes zu berücksichtigen.
Macht der Schuldner (Mieter) schwerwiegende Gesundheitsgefahren oder ein Suizidrisiko geltend, muss das Gericht, falls es keine eigene medizinische Sachkunde besitzt, regelmäßig ein Sachverständigengutachten einholen. Dieses Gutachten muss ein genaues, nicht nur oberflächliches Bild von den gesundheitlichen Folgen der Räumung vermitteln – etwa welchem Schweregrad die Beeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden.
Hat sich ein bestellter Sachverständiger noch nicht mit allen relevanten gesundheitlichen Folgen (z.B. einer sich verschlechternden Demenz oder der Notwendigkeit einer Heimunterbringung eines Familienmitglieds) befasst, muss das Gericht ein ergänzendes Gutachten einholen. Es darf seine eigene, unsubstantiierte Einschätzung nicht an die Stelle fehlender medizinischer Expertise setzen.
Die Familie und die drohende Trennung
Im zugrundeliegenden Fall ging es um ein älteres Ehepaar und ihren erwachsenen Sohn, deren Mietvertrag gekündigt wurde und gegen die die Räumungsvollstreckung betrieben wurde.
Die Ehefrau litt an einer fortgeschrittenen, schwergradigen Demenzerkrankung. Der Sohn hatte eine schizotype Störung, bei der eine Räumung eine affektive Reaktion bis hin zu einer geschlossenen Unterbringung auslösen könnte.
Es wurde vorgetragen, dass eine mögliche Heimunterbringung der demenzkranken Ehefrau und die damit verbundene Trennung der „Kernfamilie“ beim Ehemann zu korrespondierenden Suizidgedanken führe.
Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidungen der Vorinstanzen auf und verwies die Sache zurück, weil das Landgericht diesen Vortrag nicht hinreichend gewürdigt hatte.
Das BVerfG rügte zwei zentrale Fehler der Vorinstanzen:
Das Gericht hatte versäumt, die konkreten Folgen der Räumung auf die bestehenden Erkrankungen sachverständig klären zu lassen:
Es wurde zwar die Möglichkeit einer Heimunterbringung in den Raum gestellt, aber das Gericht versäumte, die konkret zu erwartende Verschlechterung der Demenzerkrankung durch den Wechsel des Wohnumfelds durch einen Sachverständigen ermitteln zu lassen. Ohne diese Aufklärung kann das Gericht nicht entscheiden, ob die Gefahr für Leben/Gesundheit der Ehefrau schwerer wiegt als die Interessen des Vermieters (Art. 14 Abs. 1 GG).
Das Gericht ging von der Möglichkeit einer vorübergehenden geschlossenen Unterbringung des Sohnes aus, klärte aber nicht, wie lange diese dauern würde. Ohne diese Information konnte die Härte der Maßnahme bei der Abwägung nicht richtig berücksichtigt werden.
Der Ehemann hatte vorgetragen, dass die Trennung von seiner demenzkranken Frau und ihre Heimunterbringung bei ihm Suizidgedanken auslöse.
Das Landgericht hatte diesen zentralen und erheblichen Vortrag in seiner ursprünglichen Entscheidung vollständig ignoriert (es schwieg dazu).
Auch im Rahmen einer späteren Anhörungsrüge wurde der Gehörsverstoß nicht geheilt. Das Gericht hatte zwar formal reagiert, aber den Kern des Vortrags nicht erfasst und insbesondere die Notwendigkeit einer erneuten sachverständigen Klärung des Suizidrisikos des Ehemanns in Anbetracht der drohenden Trennung abgetan.
Das Schweigen bzw. die unzureichende Auseinandersetzung des Gerichts ließ den Schluss zu, dass der maßgebliche Vortrag der Eheleute nicht oder nicht hinreichend beachtet wurde. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine korrekte sachverständige Aufklärung über das Suizidrisiko im Falle einer Familientrennung zu einer weitergehenden Gewährung von Räumungsschutz geführt hätte.
Das Gericht ließ eine Frage offen, die für die Neuentscheidung wichtig sein wird:
Es bleibt weiterhin ungeklärt, welche konkreten Bemühungen zur Anmietung von Ersatzwohnraum von einem Räumungsschuldner angesichts eines auffälligen Krankheitsbildes oder bei bestellter Betreuung überhaupt noch erwartet oder ihm zugemutet werden können. Der Grundsatz lautet: Es können nur solche Bemühungen verlangt werden, die ihm unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustandes konkret zumutbar sind.
Zusammenfassend verpflichtet das Urteil die Gerichte, bei drohender Räumung und geltend gemachten schwerwiegenden Gesundheitsgefahren – insbesondere Suizidrisiken, die aus der erzwungenen Trennung der Kernfamilie resultieren – das Grundrecht auf Leben aktiv durch umfassende, sachverständig begleitete Sachaufklärung zu schützen. Gerichte dürfen sich nicht mit oberflächlichen Einschätzungen oder dem bloßen Verweis auf ein einmal erstelltes Gutachten zufriedengeben.
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