Offene Videoüberwachung – Beweisverwertungsverbot – Zulässigkeit der Datenerhebung
Gericht: BAG 8. Senat
Entscheidungsdatum: 28.03.2019
Aktenzeichen: 8 AZR 421/17
Dokumenttyp: Urteil
vorgehend ArbG Bocholt, 23. Juni 2016, Az: 4 Ca 333/16, Urteil
vorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen), 12. Juni 2017, Az: 11 Sa 858/16, Urteil
Gerne fasse ich das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 28. März 2019 (Az: 8 AZR 421/17) zum Thema „Offene Videoüberwachung und Beweisverwertungsverbot“ zusammen.
Dieses Urteil ist wichtig, weil es klärt, unter welchen Umständen Videoaufnahmen, die ein Arbeitgeber am Arbeitsplatz macht, vor Gericht als Beweis gegen einen Mitarbeiter verwendet werden dürfen.
Eine Verkäuferin war in einer Lottoannahmestelle beschäftigt, die offen (erkennbar und mit Hinweisschild) mit mehreren Kameras überwacht wurde, unter anderem an der Kasse und in einem nicht-öffentlichen Büroraum mit Tresor.
Der Arbeitgeber stellte nach stichprobenartigen Kontrollen und der Auswertung der Videoaufzeichnungen an mehreren Tagen (Dezember 2015/Januar 2016) einen erheblichen Warenschwund (Zigaretten, Rubbellose) und Kassendifferenzen fest. Er kündigte der Mitarbeiterin fristlos und klagte im Wege der Widerklage auf Schadensersatz in Höhe von über 9.800 Euro. Der Großteil des Schadens (ca. 8.800 Euro) bezog sich auf den gesamten Fehlbestand im Zeitraum, ein kleinerer Teil (ca. 976 Euro) auf die konkreten, auf den Videoaufnahmen erkannten Vorfälle an den sechs Tagen.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht (LAG) wiesen die gesamte Schadensersatzklage des Arbeitgebers ab.
Das LAG begründete die Abweisung für die konkret aufgezeichneten sechs Tage damit, dass ein Beweisverwertungsverbot bestehe. Es meinte, die Speicherung der offenen Videoaufnahmen vom Kassiervorgang über Wochen hinweg sei ein Verstoß gegen das Datenschutzrecht (§ 6b Abs. 5 BDSG a.F.) gewesen. Eine Videoüberwachung des Arbeitnehmers im Kassenbereich über die gesamte Arbeitszeit sei ein intensiver Eingriff in das Persönlichkeitsrecht.
Das BAG gab dem Arbeitgeber teilweise Recht. Es hob das Urteil des LAG in Bezug auf den kleineren Schadensersatzbetrag (976,20 Euro) auf und verwies den Fall zur neuen Verhandlung an das LAG zurück.
Das BAG bestätigte die Abweisung des größten Schadensersatzanspruchs, der sich auf den gesamten Fehlbestand über den Zeitraum November 2015 bis Januar 2016 bezog.
Der Arbeitgeber konnte nicht schlüssig darlegen, dass die Klägerin für diesen gesamten Schaden verantwortlich war.
Der Verlust konnte auch auf das Verhalten von Kunden, Lieferanten oder anderen Mitarbeiterinnen zurückzuführen sein.
Bloße Vermutungen oder ein Verdacht reichen für einen Schadensersatzanspruch nicht aus.
Das BAG sah die Begründung des LAG, die Aufnahmen dürften wegen eines Beweisverwertungsverbots nicht genutzt werden, als fehlerhaft an. Die Richter stellten fest, dass die Verwertung der offen gewonnenen Daten im Einzelfall zulässig sein kann.
Das BAG stellte klar, dass eine offene Videoüberwachung des Arbeitsplatzes, auch wenn sie das Verhalten von Mitarbeitern erfasst, grundsätzlich nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG a.F. zulässig sein kann, wenn sie zur Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird.
War die Maßnahme nach dem BDSG zulässig, liegt keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts vor und ein Beweisverwertungsverbot scheidet aus.
Bei einer offenen Überwachung, die präventiv der Verhinderung von Pflichtverletzungen dient, ist der Arbeitgeber nicht gezwungen, das gesamte Bildmaterial ständig zu sichten, um eine angebliche „Löschpflicht“ nach kurzer Zeit zu erfüllen. Eine solche Pflicht würde ihn zu ständigem Misstrauen zwingen und den Mitarbeiterschutz ins Gegenteil verkehren.
Ein Mitarbeiter, der durch rechtmäßige offene Überwachung bei einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat (Diebstahl, Unterschlagung) gefilmt wurde, ist in Bezug auf die Aufdeckung und Verfolgung seiner Tat nicht schutzwürdig. Das Persönlichkeitsrecht kann nicht dazu dienen, der Verantwortung für vorsätzliches rechtswidriges Handeln zu entgehen. Die Speicherung der relevanten Sequenzen bleibt daher grundsätzlich erforderlich, solange die Rechtsverfolgung materiell-rechtlich möglich ist.
Das BAG wies die Sache zurück, weil das LAG noch nicht ausreichend geklärt hatte, ob die Videoüberwachung unter Abwägung aller Umstände unverhältnismäßig war. Es fehlten Feststellungen:
Zur Größe der Räumlichkeiten und der Erfassung durch die Kameras.
Ob es überwachungsfreie Zonen gab (z. B. für Pausen).
Wie oft und zu welchem Zweck der ebenfalls überwachte Büroraum genutzt wurde.
Nur wenn die Überwachung so intensiv war, dass sie einen unzumutbaren psychischen Anpassungs- und Leistungsdruck erzeugte (vergleichbar einer heimlichen Totalüberwachung), wäre sie unverhältnismäßig und die Verwertung der Aufnahmen unzulässig.
Ein Arbeitgeber, der den Arbeitsplatz (insbesondere im Kassenbereich oder an Warenlagern) offen und unter Beachtung der Hinweis- und Transparenzpflichten videoüberwacht, darf die so gewonnenen Aufnahmen in einem späteren Rechtsstreit in der Regel als Beweis für vorsätzliche Pflichtverletzungen (wie Diebstahl oder Unterschlagung) verwenden.
Das gilt auch, wenn die relevanten Sequenzen erst nach Wochen oder Monaten ausgewertet werden. Ein Beweisverwertungsverbot besteht nur, wenn die Überwachung selbst unverhältnismäßig intensiv war (etwa eine lückenlose Erfassung aller Bewegungen ohne überwachungsfreie Zonen) oder geheim erfolgte, ohne dass ein konkreter Tatverdacht vorlag.
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