Rechtsschutz bei isolierter Aussetzung wegen EuGH-Vorlage in Parallelverfahren
Aufsatz von Dr. Lorenz Lloyd Fischer, NJW 2025, 1382
Gerichte in Deutschland setzen Verfahren häufig aus, um die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in einem vermeintlichen Parallelverfahren abzuwarten.
Ein aktueller Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 23. Januar 2025 (I. Zivilsenat) befasst sich mit der Frage,
ob gegen einen solchen Aussetzungsbeschluss das Rechtsmittel der Beschwerde eingelegt werden kann.
Bisher wurde dies überwiegend abgelehnt, doch der BGH schließt sich nun der wachsenden Meinung an, die eine Beschwerde in dieser speziellen Konstellation bejaht.
Nach Art. 267 AEUV können nationale Gerichte den EuGH um Klärung unionsrechtlicher Fragen ersuchen. Letztinstanzliche Gerichte sind dazu sogar grundsätzlich verpflichtet.
Wenn ein Gericht den EuGH anruft, setzt es das Verfahren in der Regel aus, beispielsweise analog § 148 I ZPO im Zivilprozess.
Eine besondere Situation entsteht, wenn die unionsrechtliche Frage bereits Gegenstand eines anhängigen EuGH-Verfahrens ist.
Deutsche Gerichte haben sich hier etabliert, das Verfahren ohne eigene Vorlage auszusetzen und auf die Entscheidung im Parallelverfahren zu warten.
Dies wird von den obersten Bundesgerichten praktiziert, obwohl es unionsrechtlich umstritten ist, da es die alleinige Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung von Art. 267 III AEUV umgehen könnte.
Für nicht vorlagepflichtige Instanzgerichte bestehen europarechtlich jedoch keine Bedenken gegen diese Vorgehensweise.
Die Kernfrage, die sich hier stellt, ist:
Kann sich eine Prozesspartei dagegen wehren, wenn ein Gericht ein Verfahren aussetzt, weil es fälschlicherweise annimmt, dass eine unionsrechtliche Auslegungsfrage in einem Parallelverfahren geklärt wird?
Dies unterscheidet sich vom bekannteren Fall der willkürlichen Nichtvorlage an den EuGH, die eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I 2 GG) darstellen kann.
Hier geht es um eine „willkürliche“ Aussetzung, die das grundrechtliche Recht der Parteien auf eine zügige Entscheidung ihres Rechtsstreits (Art. 2 I iVm Art. 20 III GG) beeinträchtigen kann.
Gemäß § 252 ZPO ist gegen einen Aussetzungsbeschluss grundsätzlich die sofortige Beschwerde statthaft (§ 567 I Nr. 1 ZPO).
Die herrschende Meinung lehnt die Statthaftigkeit der Beschwerde jedoch ab, wenn sie sich gegen einen Aussetzungsbeschluss zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens richtet.
Begründet wird dies damit, dass eine Überprüfung der Entscheidungserheblichkeit ins Rechtsmittelverfahren verlagert und
somit in den Rechtsfindungsprozess des Untergerichts eingegriffen würde, was der richterlichen Unabhängigkeit widerspräche.
Zudem drohe bei einer eigenen Vorlage kein Verfahrensstillstand, da das Verfahren vor dem EuGH fortgesetzt werde und Parteien dort mitwirken könnten.
In jüngerer Zeit hat sich jedoch eine Gegenmeinung entwickelt, die eine Ausnahme für die sogenannte schlichte oder isolierte Aussetzung fordert.
Hier wird argumentiert, dass in diesen Fällen die Identität mit der Vorlageentscheidung fehle.
Es müsse eine Möglichkeit bestehen, die Frage zu klären, ob tatsächlich eine „Parallelsache“ vorliegt, die eine Aussetzung rechtfertigt.
Die besonderen Gründe für den Ausschluss der Beschwerde bei eigener Vorlage an den EuGH griffen bei der isolierten Aussetzung nicht.
Zahlreiche Oberlandesgerichte haben sich dieser Auffassung angeschlossen.
Der I. Zivilsenat des BGH schließt sich in seiner Entscheidung der jüngeren Linie an, die eine Beschwerde bei isolierter Aussetzung als statthaft erachtet.
Der BGH begründet dies damit, dass bei isolierter Aussetzung tatsächlich ein Verfahrensstillstand drohe und es an einer Selbstkontrolle der Gerichte fehle.
Den Einwand eines unzulässigen Eingriffs in die Entscheidungszuständigkeit des Untergerichts durch das Beschwerdegericht lässt der Senat nicht gelten.
Die Entscheidung des BGH ist überzeugend.
Die Sympathien des BGH für die grundsätzliche Unanfechtbarkeit bei eigener Vorlage sind nachvollziehbar.
Hier kommt der Rechtsstreit nicht zum Stillstand, da er vor dem EuGH fortgesetzt wird und die Parteien sich dort beteiligen können.
Auch das Argument des Eingriffs in die autonome Vorlageentscheidung des Untergerichts hat Gewicht.
Die rechtsschutzfreundliche Ausrichtung des BGH bei der isolierten Aussetzung ist jedoch richtig.
Bei einer schlichten Aussetzung tritt ein echter Verfahrensstillstand ein, ohne dass die Parteien am Verfahren vor dem EuGH mitwirken können,
da es sich um ein Parallelverfahren eines anderen Gerichts handelt.
Zudem fehlt bei einer schlichten Aussetzung ein Anreiz für das aussetzende Gericht, die Entscheidungserheblichkeit ausführlich zu begründen, was die Selbstkontrolle mindert.
Die Befürchtung unzulässiger Eingriffe in die Sachentscheidungskompetenz des Untergerichts teilt der BGH zu Recht nicht.
Wenn ein Gericht keine eigene Vorlage vornimmt, gibt es keinen Grund, die Aussetzung vollständig einer Überprüfung zu entziehen.
Die Frage des Vorliegens eines Aussetzungsgrundes unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle.
Darüber hinaus spricht vieles dafür, dass die Möglichkeit einer fachgerichtlichen Kontrolle des Aussetzungsbeschlusses
aufgrund der Beeinträchtigung des grundrechtlichen Justizgewährleistungsanspruchs sogar verfassungsrechtlich geboten ist.
Methodisch betrachtet ist die Bejahung der Statthaftigkeit der Beschwerde im Sonderfall der isolierten Aussetzung eine Rückkehr zur gesetzlichen Ausgangslage,
da § 252 ZPO die Beschwerde gegen sämtliche Aussetzungsbeschlüsse vorsieht.
Die Unstatthaftigkeit der Beschwerde bei gleichzeitiger Vorlage stellt demgegenüber eine begründungsbedürftige Abweichung vom Gesetz dar.
Die Entscheidung des I. Zivilsenats des BGH ist sehr zu begrüßen.
Sie schließt eine Rechtsschutzlücke und klärt für die Praxis, dass ein isolierter oder schlichter Aussetzungsbeschluss im Zivilverfahren mit der sofortigen Beschwerde angegriffen werden kann.
Dies sichert die effektive Durchsetzung des Rechts auf eine Sachentscheidung und damit den Justizgewährleistungsanspruch der Prozessparteien.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die anderen Senate des BGH und die übrigen obersten Gerichtshöfe des Bundes dieser Linie anschließen werden.