Richterablehnung bei atypischer Vorbefassung

Oktober 12, 2025

Richterablehnung bei atypischer Vorbefassung

BGH, Beschluss vom 21.09.2021 – KZB 16/21

Dieser Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) befasst sich mit einem Fall aus dem Bereich des Kartellrechts (Illegale Absprachen) und wirft wichtige Fragen zur Neutralität von Richtern und zum Recht auf Gehör auf.

Der Sachverhalt (Was ist passiert?)

Das LKW-Kartell und die Klage

Die Kläger (Käufer von Lastkraftwagen) fordern von den Beklagten (LKW-Herstellern) Schadensersatz. Grund ist ein LKW-Kartell: Die Hersteller hatten über Jahre hinweg illegal Preise und Kosten für neue Abgastechnologien abgesprochen. Solche Absprachen sind verboten, da sie den Wettbewerb einschränken (Verstoß gegen das Kartellverbot). Die Klagen stützen sich auf die Feststellungen der Europäischen Kommission, die dieses Kartell bestätigt hatte.

Der abgelehnte Richter

Richter K. war am zuständigen Landgericht mit dem Fall betraut. Die Beklagten beantragten, ihn abzulehnen, da sie befürchteten, er sei befangen (nicht neutral).

Der Grund für die Ablehnung war eine sogenannte atypische Vorbefassung: Richter K. war, bevor er Richter wurde, als Rechtsreferendar und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Anwaltskanzlei tätig gewesen, die zwei der beklagten LKW-Hersteller in diesem und zahlreichen ähnlichen Prozessen vertrat.

Während dieser Zeit hatte Richter K.:

An der Erstellung von Schriftsätzen (schriftlichen Argumenten der Anwälte) in anderen, aber sachlich gleichen Prozessen mitgewirkt.

An der Klärung übergeordneter Rechtsfragen für die Verteidigungsstrategie der LKW-Hersteller gegen solche Schadensersatzklagen mitgearbeitet.

Die Beklagten sahen darin einen ausreichenden Grund, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln.

Die vorangegangenen Entscheidungen

Das Landgericht und das Oberlandesgericht (Instanz über dem Landgericht) lehnten das Gesuch der Beklagten, Richter K. abzulehnen, ab. Die Beklagten legten dagegen Rechtsbeschwerde (ein Rechtsmittel) beim BGH ein.

Die Entscheidung des BGH (Die zwei Hauptpunkte)

Der BGH musste zwei zentrale Fragen klären.

A. Verletzung des Rechts auf Gehör (Anhörungsrüge)

Im Laufe des Verfahrens vor dem BGH schied Richter K. aus der zuständigen Kammer des Landgerichts aus, wodurch der Befangenheitsantrag hinfällig wurde (Erledigung).

Der BGH traf daraufhin eine erste Entscheidung, in der er versehentlich annahm, beide Beklagte (Beklagte 1 und Beklagte 3) hätten ihre Rechtsbeschwerde zurückgenommen. Tatsächlich hatte aber nur die Beklagte 1 die Beschwerde zurückgenommen; die Beklagte 3 hatte lediglich die Erledigung erklärt. Weil der BGH die Rücknahme der Beklagten 3 fälschlicherweise unterstellte, legte er ihr die Kosten des Verfahrens auf.

Die Beklagte 3 legte dagegen Anhörungsrüge ein.

Entscheidung des BGH:

Die Anhörungsrüge ist erfolgreich.

Juristischer Begriff:

Die Anhörungsrüge ist ein Rechtsbehelf (eine Beschwerdemöglichkeit), wenn das Recht auf rechtliches Gehör (das Recht, dass das Gericht die eigenen Argumente und Erklärungen zur Kenntnis nimmt) verletzt wurde.

Richterablehnung bei atypischer Vorbefassung

Erläuterung:

Da die Beklagte 3 ihre Beschwerde tatsächlich nicht zurückgenommen hatte, stellte die gegenteilige Annahme des Gerichts eine Verletzung ihres Rechts auf Gehör dar. Der BGH korrigierte daher seine vorherige Entscheidung.

B. Begründetheit der Richterablehnung (Besorgnis der Befangenheit)

Obwohl der Befangenheitsantrag durch den Weggang des Richters hinfällig geworden war (Erledigung), musste der BGH klären, ob der Antrag ursprünglich begründet war. Dies war entscheidend für die Kostenverteilung des Verfahrens.

Entscheidung des BGH:

Die Rechtsbeschwerde der Beklagten wäre erfolgreich gewesen, da die Besorgnis der Befangenheit von Richter K. gegeben war.

Juristischer Begriff:

Besorgnis der Befangenheit liegt vor, wenn aus Sicht einer vernünftigen und besonnenen Prozesspartei Grund zu der Annahme besteht, dass der Richter nicht unvoreingenommen entscheidet. Es geht um den äußeren Schein der Parteilichkeit, nicht darum, ob der Richter tatsächlich voreingenommen ist.

Erläuterung:

Die Tätigkeit von Richter K. als Mitarbeiter der gegnerischen Anwaltskanzlei war zwar eine atypische Vorbefassung (keine richterliche Tätigkeit), aber sie betraf einen weitgehend identischen Sachverhaltskomplex (das LKW-Kartell).

Der BGH betonte, dass der Richter Einblicke in die strategische Planung der Verteidigung der LKW-Hersteller erhalten und Kenntnis von Sachverhaltsdetails erlangt haben könnte, die im aktuellen Prozess relevant sein könnten.

Die Mitwirkung ging deutlich über die normale Ausbildung eines Referendars hinaus.

Daher musste die Beklagte 3 als vernünftige Prozesspartei die Neutralität des Richters anzweifeln.

Ergebnis für die Beklagte zu 3 (Kosten)

Da der BGH feststellte, dass die Rechtsbeschwerde der Beklagten 3 ursprünglich begründet war (der Richter hätte abgelehnt werden müssen), stellt er fest, dass sich die Hauptsache erledigt hat.

Folge für die Kosten:

Weil die Beklagte 3 erfolgreich gewesen wäre, muss sie für die Kosten des Ablehnungsverfahrens nicht aufkommen. Die Kosten eines erfolgreichen Ablehnungsverfahrens gelten als Prozesskosten, die letztlich die Partei trägt, die den gesamten Hauptprozess verliert.

Juristischer Fachbegriff – Erklärung für juristische Laien

Besorgnis der Befangenheit

Die begründete Befürchtung, dass ein Richter nicht neutral ist (der „böse Schein“ mangelnder Objektivität).

Atypische Vorbefassung

Die Tätigkeit eines Richters vor seiner richterlichen Laufbahn (z.B. als Anwalt oder Kanzleimitarbeiter) in einem Fall, der dem aktuellen ähnlich ist.

Anhörungsrüge

Ein letztes Mittel, um sich beim Gericht zu beschweren, wenn das Recht auf rechtliches Gehör verletzt wurde.

Recht auf rechtliches Gehör

Das Recht jeder Partei, dass das Gericht ihre Argumente und Erklärungen tatsächlich zur Kenntnis nimmt und in die Entscheidung einbezieht.

Rechtsbeschwerde

Ein spezielles Rechtsmittel gegen Entscheidungen höherer Gerichte (hier: gegen die Ablehnung des Befangenheitsantrags).

Erledigung

Der Streitpunkt wird im Laufe des Verfahrens hinfällig (z.B. der Richter wechselt die Kammer). Das Gericht muss dann nur noch klären, wer die Kosten tragen muss.

RA und Notar Krau

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