Richterablehnung wegen grober Verfahrensfehler in einem Schadensersatzprozess
Zusammenfassung des Beschlusses (OLG Stuttgart, 16a W 3/20, 01.07.2020)
Dieser Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart befasst sich mit einem Ablehnungsgesuch (einem Antrag auf Richterablehnung) in einem Schadensersatzprozess im sogenannten Diesel-Abgasskandal.
Das OLG erklärte den Antrag des beklagten Autoherstellers, einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, für begründet. Das bedeutet, dass der Richter von dem Fall abgezogen werden musste. Die Frage war nicht, ob der Richter tatsächlich voreingenommen war, sondern ob eine vernünftige Prozesspartei angesichts seines Verhaltens berechtigten Grund hatte, an seiner Unparteilichkeit zu zweifeln.
Die Beklagte (ein Autohersteller) wurde von mehreren Klägern auf Schadensersatz verklagt, weil in ihren Dieselfahrzeugen unzulässige Abschalteinrichtungen (Betrugssoftware) eingebaut gewesen sein sollen.
Der Richter am Landgericht (LG) – dem zuständigen erstinstanzlichen Gericht – Dr. X. hatte in einer Reihe dieser Fälle einen Sammeltermin (eine gemeinsame Verhandlung) angesetzt.
Die Beklagte lehnte ihn aufgrund mehrerer Vorkommnisse ab:
In dem Gerichtstermin, der vor Pressevertretern stattfand, hielt der Richter eine fast zweistündige Rede und verteilte ein 73-seitiges Manuskript (die „Protokollanlage“).
Es war bekannt, dass die Ehefrau des Richters in einem ähnlichen Fall gegen die Y. AG (den VW-Konzern) klagte.
Die Beklagte sah in den Handlungen des Richters gleich drei schwerwiegende Fehler, die Zweifel an seiner Neutralität aufkommen ließen.
Das OLG Stuttgart sah die Besorgnis der Befangenheit durch das Verhalten des Richters in der Gesamtschau (Betrachtung aller Umstände zusammen) als gerechtfertigt an.
Der Richter verletzte nach Auffassung des OLG das Gebot, neutral und sachlich aufzutreten:
Der Richter vertrat in seinem Manuskript die (damals) Mindermeinung, dass geschädigte Autokäufer sich die gezogenen Nutzungen (den Wert für die gefahrenen Kilometer) nicht vom Schadensersatz abziehen lassen müssten. Das OLG befand, dass es kein Problem ist, eine Mindermeinung zu vertreten. Der Fehler war jedoch: Er stellte diese Ansicht wissentlich falsch als die allein existierende Rechtslage in Deutschland dar, obwohl er die überwiegend vertretene Gegenansicht (dass die Nutzung angerechnet werden muss) kannte. Damit verletzte er das Gebot der Fairness.
Im Zivilprozess gilt der Beibringungsgrundsatz. Das bedeutet: Die Parteien müssen die Tatsachen liefern, und das Gericht muss diese prüfen. Im Gegensatz zum Strafprozess darf das Zivilgericht nicht selbst Amtsermittlung betreiben, also selbstständig Fakten recherchieren. Der Richter zitierte in seinem Manuskript jedoch eigene Recherchen (Studien, Bescheide des Kraftfahrt-Bundesamtes) und wertete diese, was den Eindruck erweckte, er betreibe eine unzulässige Beweissuche zum Nachteil der Beklagten.
Der Richter setzte die beklagte Firma ohne ausreichende Tatsachengrundlage mit der Y. AG gleich, der er Arglist (betrügerische Absicht) vorwarf. Dies ließ eine Vorwegnahme des Urteils zulasten der Beklagten befürchten.
Der Richter beging zwei schwerwiegende Verfahrensfehler (Formfehler im Ablauf des Prozesses):
Der Richter führte eine Spruchkörper übergreifende Verfahrensverbindung durch. Er legte Verfahren von zwei verschiedenen Zivilkammern (der 3. und 22.) zusammen, obwohl die Parteien widersprachen und es dafür keine Grundlage im Geschäftsverteilungsplan des Gerichts gab.
Der Geschäftsverteilungsplan legt fest, welcher Richter für welche Fälle zuständig ist. Er dient zur Einhaltung des Verfassungsgrundsatzes vom gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG), der garantiert, dass kein Bürger willkürlich einem Richter zugewiesen wird. Durch die eigenmächtige Zusammenlegung entzog der Richter die Fälle dem zuständigen (gesetzlichen) Richter.
Der Richter kündigte an, den Fall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vorlegen zu wollen (EuGH-Vorlage). Eine solche Vorlage zeigt, dass der Richter den Fall für grundsätzlich bedeutsam hält. Nach deutschem Recht muss ein Einzelrichter (ein Richter, der den Fall alleine verhandelt) in solch einem Fall den Rechtsstreit dem gesamten Spruchkörper (der Kammer) zur Entscheidung vorlegen, ob die Kammer den Fall übernehmen soll. Dies tat der Richter bewusst nicht.
Diese groben Verfahrensfehler, insbesondere die Verletzung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters, waren für das OLG allein schon geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.
Das OLG hob den Beschluss des Landgerichts auf und erklärte das Ablehnungsgesuch für begründet.
Das Landgericht hatte zuvor argumentiert, der Autohersteller hätte sein Ablehnungsrecht verloren (Präklusion), weil er im Sammeltermin weiter verhandelt hatte, obwohl ihm die Ablehnungsgründe bekannt waren. Das OLG lehnte dies ab. Ein möglicher Verlust des Ablehnungsrechts in einem Verfahren gilt nicht automatisch für andere, gesonderte Verfahren (keine verfahrensübergreifende Präklusion), wenn diese sich in Tatsachenfragen unterscheiden.
Ein Richter muss auch dann, wenn er eine dezidierte Rechtsansicht vertritt, das Gebot der Sachlichkeit und Fairness wahren. Er darf die Rechtslage nicht wissentlich falsch darstellen und muss die formalen Verfahrensregeln (wie den Geschäftsverteilungsplan und die Vorlagepflichten) streng einhalten. Grobe, willkürliche Verfahrensfehler können eine Besorgnis der Befangenheit begründen, selbst wenn der Richter subjektiv glaubt, im Interesse der Gerechtigkeit zu handeln.
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