Sittenwidrigkeit eines Behindertentestaments sowie eines Pflichtteilsverzichtsvertrages

November 3, 2025

Sittenwidrigkeit eines Behindertentestaments sowie eines Pflichtteilsverzichtsvertrages

Zusammenfassung Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 09.12.2009 (Az.: 2 U 46/09)

Vorinstanz: Landgericht Köln, 37 O 653/08

Das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Köln befasste sich mit einer zentralen Frage des Erbrechts in Verbindung mit dem Sozialhilferecht: Sind Verfügungen, die ein behindertes Kind erbrechtlich so stellen, dass sein Vermögen nicht vom Sozialhilfeträger zur Kostendeckung herangezogen wird, sittenwidrig und damit ungültig?

Eckdaten des UrteilsDetails
GerichtOberlandesgericht Köln (OLG)
Datum09. Dezember 2009
Aktenzeichen2 U 46/09
SchlagworteBehindertentestament, Pflichtteilsverzicht, Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB)

Die Ausgangslage

Ein Ehepaar hatte eine lernbehinderte Tochter, die seit Jahren vom Sozialhilfeträger (Kläger) Eingliederungshilfe erhielt. Die Kosten beliefen sich auf einen hohen Betrag (über 400.000 €).

Kurz vor dem Tod der Mutter (Erblasserin) trafen die Eltern folgende Regelungen, um ihr Familienheim und die finanzielle Sicherheit des überlebenden Vaters (Beklagter) zu schützen:

  1. Gemeinschaftliches Testament (Behindertentestament): Sie setzten sich gegenseitig als Alleinerben ein. Die behinderte Tochter wurde für den Schlusserbfall (nach dem Tod des Letztversterbenden) nur als nicht befreite Vorerbin für einen Anteil eingesetzt, der ihren Pflichtteil nur unwesentlich überstieg. Diese Konstruktion stellt sicher, dass das Erbe nicht direkt in das verwertbare Vermögen des Kindes fällt und somit dem Zugriff des Sozialhilfeträgers entzogen bleibt.
  2. Pflichtteilsverzicht: Am selben Tag verzichtete die Tochter notariell auf ihren Pflichtteil nach dem Tod der Mutter. Ihre Geschwister taten dies ebenfalls.

Sittenwidrigkeit eines Behindertentestaments sowie eines Pflichtteilsverzichtsvertrages

Nach dem Tod der Mutter leitete der Sozialhilfeträger (Kläger) den Pflichtteilsanspruch der Tochter auf sich über und forderte vom Vater Auskunft über den Wert des Nachlasses (des Hauses) sowie die Zahlung des Pflichtteils.

Der Streitpunkt: Sittenwidrigkeit

Der Sozialhilfeträger argumentierte, sowohl das Behindertentestament als auch der Pflichtteilsverzichtsvertrag seien sittenwidrig (§ 138 Bürgerliches Gesetzbuch), da sie einzig dem Zweck dienten, ihn als Träger der Sozialhilfe zu benachteiligen und von der Kostenerstattung auszuschließen. Die Tochter müsse vorrangig ihr eigenes Vermögen zur Deckung der Kosten einsetzen.


Die Entscheidung des OLG Köln

Das OLG Köln wies die Klage des Sozialhilfeträgers ab und bestätigte die Wirksamkeit beider Verfügungen.

1. Zum Behindertentestament

Das Gericht entschied in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH):

  • Die Konstruktion eines Behindertentestaments ist grundsätzlich nicht sittenwidrig.
  • Die Testierfreiheit (das Recht, frei über sein Vermögen zu verfügen) der Eltern wiegt schwerer als der Nachranggrundsatz der Sozialhilfe.
  • Die Eltern verfolgen damit einen sittlich anzuerkennenden Zweck: Sie wollen ihrem behinderten Kind nicht nur die reine Sozialhilfe, sondern durch das geschützte Erbe auch zusätzliche Mittel zur Verbesserung seiner Lebensqualität sichern, ohne dass das gesamte Vermögen sofort zur Deckung der Sozialhilfekosten verwendet wird.

2. Zum Pflichtteilsverzicht

Das Gericht stellte fest, dass der Pflichtteilsverzichtsvertrag der Tochter wirksam ist und nicht gegen die guten Sitten verstößt, auch wenn die Tochter Sozialleistungen bezog:

  • Kein Vertrag zu Lasten Dritter: Der Vertrag ist kein unzulässiger Vertrag, der nur zulasten des Sozialhilfeträgers ginge.
  • Ungesicherte Erwerbschance: Anders als beim Verzicht auf einen bereits bestehenden Unterhaltsanspruch verzichtet die Tochter bei einem Verzicht zu Lebzeiten der Mutter lediglich auf eine zukünftige, ungesicherte „Erwerbschance“ (Leitsatz 2).
  • Absicherungszweck: Der Verzicht diente hier vorrangig einem sittlich anzuerkennenden Zweck, nämlich der finanziellen Absicherung des überlebenden Vaters und dem Schutz des Familienheims vor einem Verkauf. Die Tatsache, dass alle Kinder auf den Pflichtteil verzichteten, unterstrich diese familiäre Motivation.

Ergebnis

Der Sozialhilfeträger konnte den Pflichtteil nicht erfolgreich geltend machen. Der Pflichtteilsverzicht war wirksam, und das Behindertentestament wurde nicht als sittenwidrig eingestuft.

Das Gericht ließ die Revision (die Überprüfung durch den BGH) zu, da die Frage der Sittenwidrigkeit eines Pflichtteilsverzichts in diesem Kontext noch nicht höchstrichterlich geklärt war.

RA und Notar Krau

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