LAG Hamm, Urteil vom 17.11.2010 – 4 Sa 1388/10

September 1, 2020

LAG Hamm, Urteil vom 17.11.2010 – 4 Sa 1388/10
Arbeitnehmer, die in einer Verkaufsstelle des Einzelhandels in der Zeit von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr aufgrund eines vorab erstellten Dienstplans Arbeitsleistungen erbringen, haben auch dann Anspruch auf Zahlung des tariflichen Nachtarbeitszuschlags von 55% nach § 7 Abs. 1 Buchst. d) des Manteltarifvertrags für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen (MTV), wenn die Verkaufsstelle um 20.00 Uhr schließt und danach Abschlussarbeiten i.S.v. § 2 Abs. 6 MTV anfallen. Der reduzierte Zuschlagssatz von 40% nach § 7 Abs. 2 MTV betrifft ausschließlich Arbeiten, die über die vereinbarte oder festgelegte Arbeitszeit hinaus zu leisten sind.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 27.07.2010 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 9,28 Euro; brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.09.2009 zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
TATBESTAND :
Die Parteien streiten über die Zahlung eines tariflichen Nachtarbeitszuschlags.
Die Beklagte betreibt ein Unternehmen des Einzelhandels mit zahlreichen Filialen. Die Klägerin ist bei ihr seit dem 01.06.1992 als Verkäuferin gegen einen Stundenlohn in Höhe von zuletzt 12,67 Euro brutto beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit die tariflichen Bestimmungen für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen Anwendung.
Die Filiale H1, in der die Klägerin beschäftigt wird, schließt regelmäßig um 20.00 Uhr. Wegen der danach anfallenden Arbeiten wird in den Dienstplänen der Beschäftigten dieser Verkaufsstelle ein gestaffeltes Arbeitszeitende für 20.15 Uhr, 20.20 Uhr oder 20.30 Uhr festgesetzt. Nach dem für die Klägerin maßgeblichen Dienstplan wurde diese in der Zeit vom 04.10.2008 bis zum 28.05.2009 an insgesamt 29 Arbeitstagen in der Zeit nach 20.00 Uhr bis 20.15 Uhr oder länger beschäftigt. Die einzelnen Tage sind zwischen den Parteien unstreitig; sie ergeben sich aus der von der Klägerin mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 18.03.2010 (Aktenblatt 40) gefertigten Aufstellung.
An den fraglichen Tagen hat die Beklagte der Klägerin für die Zeit von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr auf den Stundenlohn einen Zuschlag von 40 % gezahlt; erst ab 20.11 Uhr wurde ein Zuschlag von 55 % vergütet. Die Beklagte stützt sich dazu auf § 7 Abs. 2 Satz 1 des Manteltarifvertrages für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom 25.07.2008 (MTV):
“Für Arbeiten gemäß § 2 Abs. 6 nach 20.00 Uhr (montags bis samstags) wird ein Zuschlag von 40 % gewährt.”
In § 2 Abs. 6 MTV heißt es:
“Dringende Vor- und Abschlussarbeiten, Aufräumungsarbeiten und Kassenschluss sind als Ausnahmen über die vereinbarte oder festgelegte Arbeitszeit hinaus zu leisten. Die hierfür erforderliche Zeit darf 10 Minuten täglich nicht überschreiten. Sie ist ohne Mehrarbeitszugschlag auszugleichen.”
Die Klägerin ist demgegenüber der Auffassung, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr schon ab 20.00 Uhr einen Nachtarbeitszuschlag gemäß § 7 Abs. 1 MTV zu zahlen, der folgenden Wortlaut hat:
“Mehr-, Nacht-, Sonntags-, Feiertags-, Spätöffnungs- und zuschlagpflichtige Samstagsarbeit sind mit Ausnahmen in Tankstellen- und Garagengewerbe mit folgenden Zuschlägen abzugelten:
a) Spätöffnungsarbeit (§ 5 Abs. 1) 20 %
b) Mehrarbeit (§ 4) 25 %
c) Mehrarbeit ab der 5. Mehrarbeitsstunde
in der Woche 40 %
d) Nachtarbeit (§ 6) ausgenommen Wechsel-
schichtarbeit gemäß § 6 Abs. 5 55 %
e) Sonntagsarbeit 120 %
f) Feiertagsarbeit sofern der Feiertag auf einen
Wochentag fällt 200 %.”
Die Vergütungsdifferenz beträgt pro Arbeitstag 0,32 Euro brutto. Die Klägerin hat ihre diesbezüglichen Ansprüche mit Schreiben vom 31.03. und 27.07.2009 geltend gemacht.
Das Arbeitsgericht Hagen hat die Klage durch Urteil vom 27.07.2010 abgewiesen und die Berufung zugelassen. Das Arbeitsgericht Hagen nimmt an, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zahlung eines Nachtarbeitszuschlages von 55 % und damit eines Differenzbetrages von 0,32 Euro brutto zum gewährten Zuschlag von 40 % für die von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr an den streitgegenständlichen 29 Tagen verrichteten Arbeiten. Dies ergebe eine Auslegung des MTV. Zwar sei die Zeitspanne von 20.00Uhr bis 20.10 Uhr nach der ausdrücklichen Regelung der Tarifvertragsparteien in § 6 Abs. 1 MTV von dem Begriff der Nachtarbeit in Verkaufsstellen umfasst. Allerdings sehe § 7 Abs. 2 MTV als Ausnahme und speziellere Regelung zu § 7 Abs. 1 Buchst. d) MTV vor, dass für Arbeiten gemäß § 2 Abs. 6 MTV nach 20.00 Uhr von Montag bis Samstag lediglich ein Zuschlag von 40 % gewährt werden müsse. Um solche Arbeiten gehe es hier. Kassenschluss- und Aufräumungsarbeiten seien in § 2 Abs. 6 MTV ausdrücklich genannt, ohne dass es darauf ankomme, ob solche Arbeiten dringende seien oder nicht. Der von den Tarifvertragsparteien am Anfang des § 2 Abs. 6 MTV benutzte Begriff “dringende” beziehe sich nur auf die Vor- und Abschlussarbeiten, nicht aber erkennbar zugleich auf die Aufräumungsarbeiten und den Kassenschluss. Der Beklagten sei auch darin zuzustimmen, dass die Regelung des § 7 Abs. 2 MTV allein einen Verweis auf die Beschreibung der Arbeiten gemäß § 2 Abs. 6 MTV enthalte. Demzufolge sei es für den Zuschlag von 40 % nicht relevant, ob die betreffenden Arbeiten als Ausnahmen über die vereinbarte oder festgelegte Arbeitszeit hinaus zu leisten seien. Dies sei nur für die Frage der durch § 2 Abs. 6 MTV geregelten Arbeitszeit von Bedeutung. Ein anderes Ergebnis ergebe sich auch nicht dadurch, dass es sich bei den von der Klägerin in der Zeit von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr verrichteten Arbeiten um solche Tätigkeiten handele, die regelmäßig und von vorn herein geplant anfielen. Jedenfalls die hier in Rede stehenden Kassenschluss- und Aufräumungsarbeiten resultierten nun einmal aus der Gleichförmigkeit des Geschehens und damit aus den nach einer bestimmten Regel geschehenen Abläufen nach der Schließung der Verkaufsstelle um 20.00 Uhr. Soweit es um die ersten zehn Minuten nach 20.00 Uhr gehe, hätten die Tarifvertragsparteien mit der Regelung des § 7 Abs. 2 MTV die Arbeiten gemäß § 2 Abs. 6 MTV von dem Zuschlag für Nachtarbeit nach § 7 Abs. 1 Buchst. d) MTV ausdrücklich und einschränkungslos ausgenommen. Der von der Klägerin vertretenen Ansicht, dass es sich bei jedweder Arbeit nach 20.00 Uhr um Nachtarbeit im Sinne des § 6 Abs. 1 MTV handele, könne daher nicht gefolgt werden. Würde stets ein Zuschlag von 55 % für alle nach 20.00 Uhr verrichteten Arbeiten geschuldet, hätte die Regelung des § 7 Abs. 2 MTV keinen eigenen Anwendungsbereich und wäre überflüssig. Es könne aber nicht davon ausgegangen werden, dass Tarifvertragsparteien eine überflüssige und sinnlose Regelung träfen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des angefochtenen Urteils wird auf Aktenblatt 64 bis 74 Bezug genommen.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 03.08.2010 zugestellte Urteil mit am 12.08.2010 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am 24.08.2010 eingegangenem Schriftsatz begründet.
Die Klägerin trägt unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens vor, das Arbeitsgericht Hagen habe nicht ausreichend gewürdigt, dass es sich bei den Arbeitszeiten bis 20.30 Uhr um regelmäßig zu leistende Arbeit gehandelt habe, so dass die streitigen 10 Minuten nicht über den festgelegten Arbeitsschluss hinaus zu leisten gewesen seien. In der fraglichen Zeit habe sie normale Arbeit geleistet, also nicht nur Aufräumungsarbeiten, sondern auch Tätigkeiten verrichtet, die auch tagsüber erledigt würden oder beispielsweise solche, die mit der Reinigung der Verkaufsstelle zu tun gehabt hätten. Die gesamte geplante und von ihr geleistete Arbeitszeit habe der Erfüllung der tarifvertraglichen Arbeitszeit gedient. Arbeiten gemäß § 2 Abs. 6 MTV seien von der Definition her bereits nicht zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit zu rechnen, weil sie gerade über die vereinbarte oder festgelegte Arbeitszeit hinaus zu leisten seien. Da die Zeit von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr zur festgelegten Arbeitszeit gehöre, sei es nicht zu einer vom Arbeitsgericht unterstellten zehnminütigen Unterbrechung der regelmäßigen Arbeitszeit gekommen. Das Gericht lasse eine Begründung dafür vermissen, warum gerade in der Zeit von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr mit einem niedrigeren Nachtzuschlag abgerechnet werden solle. § 2 Abs. 6 MTV spreche nur von dringenden Vor- und Abschlussarbeiten, Aufräumungsarbeiten und Kassenschluss, ohne dass an den Geschäftsschluss des jeweiligen Tages angeknüpft werde. Entscheidend für die Höhe des zu zahlenden Nachtzuschlags sei die Zuordnung der jeweiligen Arbeiten entweder zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit oder zu den darüber hinaus geleisteten Arbeiten. In ihrem Fall habe es sich um eine zuvor festgelegte Arbeitszeit gehandelt, die nicht gleichzeitig Arbeiten nach § 2 Abs. 6 MTV enthalten könne. Auch von der Begrifflichkeit her sei das vom Arbeitsgericht gefundene Ergebnis nicht nachvollziehbar. Dass Abschlussarbeiten in der Zeitspanne von 20.00 Uhr bis 20.10Uhr anfielen, danach aber für weitere 20 Minuten normal weitergearbeitet werde, stelle die “Abschluss-“arbeiten in Frage, bei denen man vermuten dürfe, dass diese unmittelbar dem Arbeitsschluss vorangingen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 27.07.2010 – 5 Ca 2298/09 – abzuändern und
die Beklagte zu verurteilen, an sie 9,28 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 25.09.2009 (Rechtshängigkeit) zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und trägt ergänzend vor, um die Frage, welche Art von Arbeitszeit vorliege, gehe es bei dem Verweis gemäß § 7 Abs. 2 MTV nicht. Wäre die Meinung der Klägerin richtig, würden die Arbeiten nach § 2 Abs. 6 MTV in der Zeit nach 20.00 Uhr unterschiedlich bezahlt, abhängig davon, ob der Arbeitnehmer nach 20.00 Uhr eingeplant gewesen sei oder nicht. Dies sei sinnwidrig, weil damit Arbeitnehmer, die aufgrund der Bestimmung des § 2 Abs. 6 MTV nach dem regulären Arbeitsende noch am Arbeitsplatz verweilen müssten, weniger Entgelt bekämen als die Arbeitnehmer, die von vornherein für die Zeit nach 20.00 Uhr eingeplant gewesen seien und dann die Arbeiten nach § 2 Abs. 6 MTV leisteten. Eine Abgrenzung der Vergütung allein nach der Frage, ob die Arbeitszeit eingeplant gewesen sei oder nicht, sei kein geeignetes Differenzierungsmerkmal, da ansonsten der Arbeitgeber durch Nichtplanung der Arbeitszeit einem höheren Zuschlag entgehen könne. Vielmehr sei § 7 Abs. 2 MTV als Ausnahmevorschrift zu dem grundsätzlich 55-prozentigen Zuschlag für Nachtarbeit allein als Verweis auf die Arten der Arbeit, wie sie in § 2 Abs. 6 MTV beschrieben seien, zu verstehen. Die tarifliche Zuschlagsregelung sei vor dem Hintergrund zustande gekommen, dass um 20.00 Uhr entgegen der früheren Ladenöffnungszeiten regelmäßig Ladenschluss sei, sodass gerade nach 20.00Uhr Vorarbeiten für den nächsten Tag, Abschluss-, Aufräum- und Kassenschlussarbeiten durchzuführen seien. Die Tarifvertragsparteien hätten diese Arbeiten für die Dauer von zehn Minuten aus dem Nachtzuschlag ausklammern wollen, unabhängig davon, ob in diesen zehn Minuten die Arbeiten insgesamt erledigt werden könnten oder nicht. Die in § 2 Abs. 6 MTV statuierte Ausnahme über die vereinbarte oder festgelegte Arbeitszeit beziehe sich nur auf die Verpflichtung des Arbeitnehmers, über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus (also nach dem regulären Arbeitsende) die in § 2 Abs. 6 Satz 1 MTV genannten Arbeiten noch zu leisten und nicht auf die Frage der dafür zu gewährenden Vergütung. Dieses Auslegungsergebnis ergebe sich nicht nur aus der durch das Arbeitsgericht Hagen richtig festgestellten Systematik des Tarifvertrages und der Sinnhaftigkeit der Regelung, sondern auch aus dem Wortlaut. § 7 Abs. 2 MTV verweise auf die Arbeiten nach § 2 Abs. 6 MTV und nicht auf die Rechtsfolge dieser Arbeiten. Dass die Klägerin meine, sie leiste keine Abschlussarbeiten, sondern regelmäßige Arbeiten, da diese wiederkehrend seien, sei unbeachtlich. Entscheidend sei die Art der Tätigkeit, die die Klägerin nach 20.00 Uhr verrichte.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die zu Protokoll genommenen Erklärungen ergänzend Bezug genommen.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE :
Die Berufung der Klägerin ist zulässig. Sie ist nach § 64 Abs. 2 Buchst. a ZPO durch Zulassung im erstinstanzlichen Urteil statthaft und wurde form- und fristgerecht einlegt und begründet.
Die Berufung ist auch begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte für Arbeiten, die sie nach 20.00 Uhr planmäßig für diese verrichtet hat, Anspruch auf Zahlung eines Nachtarbeitszuschlags gemäß § 7 Abs. 1 Buchst. d MTV in Höhe von 55 % ihres Tariflohns. Sie kann deshalb Nachzahlung in Höhe von insgesamt 9,28 Euro; brutto für 29 Arbeitstage in der Zeit vom 04.10.2008 bis zum 28.05.2009 verlangen, für die die Beklagte ihr tarifwidrig für die Zeit zwischen 20.00 Uhr und 20.10 Uhr anstatt des Nachtarbeitszuschlags nur einen Zuschlag in Höhe von 40 % nach § 7 Abs. 2 MTV vergütet hat.
Im Einzelnen hat die Kammer dazu die nachfolgenden Erwägungen angestellt:
Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der die Kammer folgt, den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebende Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübungen und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrags ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG, Urteil vom 19.09.2007 – 4 AZR 670/06 = NZA 2008, 950 ff.; BAG, Urteil vom 30.05.2001 – 4 AZR 269/00 = NZA-RR 2002, 664).
In Anwendung dieser Auslegungsgrundsätze kommt die Kammer zum Ergebnis, dass Arbeiten nach 20.00 Uhr, die aufgrund einer vorherigen Vereinbarung oder Festlegung planmäßig geleistet werden, ungeachtet der Art der Tätigkeit stets mit dem Nachtzuschlag nach § 7 Abs. 1 Buchst. d) MTV in Höhe von 55 % des Tariflohns zu vergüten sind.
In § 6 Abs. 1 MTV wird Nachtarbeit im Sinne des Tarifvertrags definiert als der Zeitraum von 19.30 Uhr bis 06.00 Uhr, in Verkaufsstellen von 20.00 Uhr bis 06.00Uhr. Da die Klägerin als Verkäuferin in einer Verkaufsstelle der Beklagten beschäftigt ist, gilt für sie somit als Nachtarbeit Arbeit, die in der Zeit von 20.00 Uhr bis 06.00 Uhr verrichtet wird. Nach § 7 Abs. 1 Buchst. d) MTV ist Nachtarbeit, abgesehen von dem hier nicht einschlägigen Fall der Wechselschichtarbeit, mit einem Zuschlag von 55 % abzugelten. Als Ausnahme von diesem Grundsatz bestimmt § 7 Abs. 2 MTV, dass für Arbeiten gemäß § 2 Abs. 6 MTV nach 20.00 Uhr (montags bis samstags) ein Zuschlag von 40 % gewährt wird. Nach der systematischen Stellung schränkt § 7 Abs. 2 MTV nicht den Begriff der Nachtarbeit ein. Es handelt sich um eine Sondervorschrift für “Arbeiten gemäß § 2 Abs. 6” MTV. Solche Arbeiten sind nach § 2 Abs. 6 MTV: “Dringende Vor- und Abschlussarbeiten, Aufräumungsarbeiten und Kassenschluss”. Die von der Beklagten vertretene Auslegung läuft darauf hinaus, alle in der fraglichen Verkaufsstelle anfallenden Arbeiten nach Ladenschluss um 20.00 Uhr unter die Ausnahmevorschrift des § 7 Abs. 2 MTV zu fassen, weil dann eine Verkaufstätigkeit nicht mehr stattfindet, sondern stattdessen regelmäßig der Kassenabschluss durchzuführen ist und weitere Abschluss- und Aufräumungsarbeiten anfallen. Die Kammer vermag dieser Interpretation nicht zu folgen. Dabei kann dahin stehen, ob Arbeiten im Sinne von § 2 Abs. 6 MTV überhaupt denkbar sind, sofern diese regelmäßig anfallen (dagegen: Decruppe, Tarifverträge des Einzelhandels in Nordrhein-Westfalen, 4. Aufl. 2004, § 2 MTV Rn. 19 a und 19 c). Für die in § 2 Abs. 6 Satz 1 genannten Arbeiten wird nämlich ausdrücklich vorausgesetzt, dass diese über die vereinbarte oder festgelegte Arbeitszeit hinaus zu leisten sind. § 2 Abs. 6 Satz 1 MTV gilt somit nicht, wenn Arbeiten im Rahmen einer von vornherein vereinbarten oder festgelegten Arbeitszeit geleistet werden. Vielmehr ist der Anwendungsbereich des § 2 Abs. 6 Satz 1 MTV beschränkt auf dringende Vor- und Abschlussarbeiten, Aufräumungsarbeiten und auf den Kassenschluss, die außerhalb der vereinbarten oder festgelegten Arbeitszeit anfallen. Daraus folgt, dass immer dann, wenn ein Arbeitnehmer aufgrund einer einzelvertraglichen Regelung oder einer in einem Dienstplan festgelegten Einteilung Arbeiten der in § 2 Abs. 6 Satz 1 MTV genannten Art leistet, er arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeiten verrichtet, die innerhalb der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 MTV anfallen. Für einen derartigen Sachverhalt gilt § 2 Abs. 6 MTV nach seiner systematischen Stellung in § 2 MTV (Arbeitszeit) nicht.
Für § 7 Abs. 2 MTV kann entgegen der Auffassung der Beklagten keine einschränkende Definition der “Arbeiten gemäß § 2 Abs. 6” MTV gelten, weil dies zu einem nicht praktikablen Ergebnis führen würde. Wenn in § 2 Abs. 6 Satz 1 MTV lediglich Arbeiten außerhalb der vereinbarten oder festgelegten Arbeitszeit angesprochen sind, dann kann durch die Verweisung in § 7 Abs. 2 MTV nicht allein auf Art der verrichteten Tätigkeit abgestellt werden, ohne dass es für den anfallenden Zuschlag von (lediglich) 40 % darauf ankäme, ob die Arbeiten von vornherein eingeplant waren oder außerhalb der vereinbarten oder festgelegten Arbeitszeit angefallen sind. Würde man die Verweisungsvorschrift des § 7 Abs. 2 MTV in der von der Beklagten vertretenen Weise interpretieren, dann müsste streng unterschieden werden, welche konkreten Arbeiten die Arbeitnehmer in der Zeit zwischen 20.00 Uhr und 20.10 Uhr verrichtet haben. Um den tariflichen Vorgaben zu genügen, wäre es dafür erforderlich, minutengenau zu dokumentieren, welche Arbeiten welchem einzelnen Mitarbeiter in der Zeit zwischen 20.00 Uhr und 20.10Uhr übertragen waren. Alle Arbeiten, die als dringende Vor- und Abschlussarbeiten, Aufräumungsarbeiten oder Kassenschluss im Sinne von § 2 Abs. 6 Satz 1 MTV zu qualifizieren wären, müssten mit dem geringeren Zuschlagssatz von 40 % vergütet werden, alle anderen Arbeiten mit einem Zuschlag von 55 % gemäß § 7 Abs. 1 Buchst. d) MTV. Die Beklagte, die insoweit die Darlegungs- und Beweislast tragen würde, weil es sich bei § 7 Abs. 2 MTV um eine Ausnahmevorschrift handelt, auf die sie sich berufen möchte, hat nicht vorgetragen, dass sie so verfährt. Vielmehr geht sie ersichtlich davon aus, dass sie aufgrund der tariflichen Vorschriften generell berechtigt ist, die nach Ladenschluss um 20.00 Uhr anfallenden Arbeiten in den ersten zehn Minuten mit dem geringen Zuschlagssatz von 40% zu vergüten. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle anfallenden Arbeiten nach Ladenschluss ohne Weiteres und ausnahmslos dringende Vor- und Abschlussarbeiten oder Aufräumungsarbeiten sind oder zum Kassenschluss gehören, verstößt die Beklagte mit dieser Verfahrensweise aber gegen die von ihr jedenfalls in diesem Verfahren vertretene Auslegung des Tarifvertrags. Im Übrigen erscheint es auf der Grundlage der Interpretation des § 7 Abs. 2 MTV durch die Beklagte auch nicht konsequent, nach Ablauf von zehn Minuten den höheren Zuschlagssatz zu zahlen. Diese zeitliche Beschränkung kann nur auf § 2 Abs. 6 Satz 2 MTV beruhen. Würde aber § 7 Abs. 2 MTV nur hinsichtlich der Art der zu leistenden Arbeiten auf § 2 Abs. 6 MTV verweisen, dürfte für den Zuschlag von 40% eine zeitliche Grenze gar nicht gelten. Dies wird aber auch von der Beklagten nicht angenommen – und zwar zu Recht, weil § 7 Abs. 2 MTV eben auf § 2 Abs. 6 MTV insgesamt und damit auch auf dessen Satz 2 verweist.
Versteht man demgegenüber die Verweisung in § 7 Abs. 2 MTV als eine solche, die nur Arbeiten betrifft, die außerhalb der vereinbarten oder festgelegten Arbeitszeit hinaus zu leisten sind, dann treten diese Abgrenzungsschwierigkeiten nicht auf. Für dringende Vor- und Abschlussarbeiten, Aufräumungsarbeiten und Kassenschluss wäre nach § 7 Abs. 2 MTV der Zuschlag von 40 % zu zahlen, und andere Arbeiten darf der Arbeitgeber grundsätzlich außerhalb der regulären Arbeitszeit ohnehin nicht anordnen. Mit diesem Verständnis des § 7 Abs. 2 MTV wird zugleich vermieden, dass Arbeiten, die in der Nachtzeit gemäß § 6 Abs. 1 MTV nach Ladenschluss anfallen, künstlich aufgespalten werden müssten in einen zehnminütigen Zeitraum mit einer geringeren Vergütungspflicht und einer nachfolgenden Arbeitsphase mit voller Zuschlagspflicht. Dies lässt sich, worauf die Klägerin zu Recht hingewiesen hat, schwerlich mit dem Begriff der Abschlussarbeit vereinbaren. Fallen nämlich in der Zeit von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr Abschlussarbeiten an, so fragt es sich, wie die nachfolgenden Tätigkeiten von 20.11 Uhr bis 20.30 Uhr qualifiziert werden sollen. Entweder waren in der Zeit bis 20.10 Uhr die verrichteten Arbeiten noch nicht abgeschlossen, dann kann es sich aber auch nicht um Abschlussarbeiten gehandelt haben, weil ein Abschluss in dieser Zeit nicht erreicht werden konnte, oder nach 20.10 Uhr waren nicht von § 2 Abs. 6 Satz 1 MTV erfasste Tätigkeiten angefallen, dann wären zwar die davor verrichteten Arbeiten abgeschlossen, nicht aber der Arbeitstag.
Diese Überlegungen verdeutlichen, dass die von der Beklagten vorgenommene Tarifauslegung nicht zu einem vernünftigen, sachgerechten und praktisch brauchbaren Ergebnis gelangt. Demgegenüber führt die von der Klägerin vertretene Auslegung des Tarifvertrags, die die Kammer für zutreffend hält, dazu, dass im Voraus vereinbarte oder festgelegte Arbeitszeit nach 20.00 Uhr generell mit dem Nachtarbeitszuschlag des § 7 Abs. 1 d) MTV von 55 % zu vergüten ist. Dies steht in Einklang mit der Definition der Nacharbeit in § 6 Abs. 1 MTV und dem Zweck des Nachtarbeitszuschlags, die besonderen Belastungen, die mit der Verrichtung von Nachtarbeit typischerweise verbunden sind, auszugleichen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist dieses Auslegungsergebnis auch nicht sinnwidrig. Zwar trifft es zu, dass danach ein Arbeitnehmer, der von vornherein geplant nach 20.00 Uhr in einer Verkaufsstelle arbeitet, in der Zeit von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr einen höheren Zuschlag erhält als ein Arbeitnehmer, der sich auf ein Arbeitszeitende um 20.00 Uhr eingerichtet hat und dann nach seinem regulären Arbeitsende noch am Arbeitsplatz die in § 2 Abs. 6 Satz 1 MTV genannten Tätigkeiten verrichten muss. Diese vermeintliche Ungereimtheit liegt jedoch in dem Umstand begründet, dass die Tarifvertragsparteien es für geboten gehalten haben, trotz begrifflich vorliegender Nachtarbeit die Ausnahmevorschrift des § 7 Abs. 2 MTV mit einem geringeren prozentualen Zuschlag zu schaffen. Dies entspricht somit dem Willen der Tarifvertragsparteien, während es für die Annahme, dass alle anfallenden Arbeiten nach Ladenschluss in der Zeit zwischen 20.00 Uhr und 20.10 Uhr keine Nachtarbeit im Sinne von § 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 Buchst. d MTV sein sollen, keinen Anhaltspunkt im Tarifvertrag gibt. Auch die Erwägung der Beklagten, dass ein Arbeitgeber allein durch Nichtplanung der Arbeitszeit nach 20.00 Uhr dem höheren Zuschlag entgehen könne, erweist sich nur beim ersten Hinsehen als stichhaltiges Argument gegen das hier gewonnene Auslegungsergebnis. Abgesehen davon, dass die Kammer ausdrücklich offengelassen hat, ob Arbeiten im Sinne von § 2 Abs. 6 MTV nur dann angenommen werden können, wenn sie ausnahmsweise anfallen, kann nicht angenommen werden, dass ein Betriebsrat es auf Dauer hinnehmen wird, dass regelmäßig anfallende Arbeiten von den Beschäftigten des Betriebs außerhalb der regulären Arbeitszeit zu erbringen sind, ohne dass hierüber eine Betriebsvereinbarung oder Regelungsabrede auf Grundlage des § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG getroffen wird.
Nach alledem geht die Kammer davon aus, dass die gebotene Auslegung der §§ 7 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 2, 2 Abs. 6 Satz 1 MTV zu dem Ergebnis führt, dass die Klägerin von der Beklagten für die streitgegenständlichen 29 Tage in der Zeit vom 04.10.2008 bis 28.05.2009 auch für die Zeit von 20.00 Uhr bis 20.10 Uhr Zahlung des tariflichen Nachtarbeitszuschlag von 55 % verlangen kann, weil sie an diesen Tagen jeweils nach dem Dienstplan in der genannten Zeitspanne zu arbeiten hatte und gearbeitet hat. Der rechnerisch zutreffende und im Übrigen unstreitige Differenzbetrag von arbeitstäglich 0,32 Euro; ergibt multipliziert mit 29 Tagen die Klageforderung von 9,28 Euro; brutto. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288, 291 BGB.
Das erstinstanzliche Urteil des Arbeitsgerichts Hagen war daher entsprechend abzuändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
Die Kammer hielt es für geboten, die Revision nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.

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