LAG Hamm, Urteil vom 25.03.2010 – 15 Sa 44/10

Oktober 1, 2020

LAG Hamm, Urteil vom 25.03.2010 – 15 Sa 44/10

Auszubildende haben im Anwendungsbereich des Manteltarifvertrages für das Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen Anspruch auf eine Jahressonderzahlung.
Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 25.11.2009 – 5 Ca 2439/08 – abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 319,50 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.12.2007 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Die Revision wird zugelassen.
Gründe

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf die Jahressonderzahlung gemäß § 9 des Manteltarifvertrages für das Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen hat.

Der Kläger war bei der Beklagten als Auszubildender zum Konditor gegen eine monatliche Ausbildungsvergütung von 639,00 Euro brutto beschäftigt. Auf das Ausbildungsverhältnis fand der allgemeinverbindliche Manteltarifvertrag für das Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen (i.F. MTV) Anwendung. Im Dezember 2007 zahlte die Beklagte den bei ihr beschäftigten Arbeitnehmern eine Jahressonderzahlung in Höhe von 50 % des tariflichen Monatseinkommens. Der Kläger erhielt, im Gegensatz zum Vorjahr, keine Jahressonderzahlung. Mit Schreiben vom 13.02.2008 machte der Kläger neben drei weiteren Auszubildenden der Beklagten gegenüber die Jahressonderzahlung gemäß § 9 des MTV geltend. Mit Schreiben vom 18.02.2008 lies die Beklagte durch ihre Prozessbevollmächtigte mitteilen, dass sie eine Jahressonderzahlung für 2007 an den Kläger nicht leisten werde. Der vom Kläger angerufene Ausschuss zur Schlichtung von Lehrlingsstreitigkeiten hat am 20.05.2008 getagt und das Scheitern des Schlichtungsverfahrens festgestellt. Wegen der Einzelheiten des Sitzungsprotokolls vom 20.05.2008 wird auf Blatt 8 der Akte Bezug genommen. Das gemäß § 19 MTV durchgeführte Schiedsverfahren wurde ohne Ergebnis beendet.

Mit vorliegender Klage, die am 28.05.2008 beim Arbeitsgericht Gelsenkirchen einging, verfolgt der Kläger den geltend gemachten Anspruch weiter.

Der Kläger hat vorgetragen, der persönliche Anwendungsbereich des MTV erstrecke sich auf Arbeitnehmer und Auszubildende. Es sei davon auszugehen, dass mit der Bezeichnung “Arbeitnehmer” in den Regelungen des MTV auch Auszubildende gemeint seien. Die Unterscheidung in § 7 Ziffer 7.4.3 des MTV zwischen Arbeitnehmern und Auszubildenden könne nicht automatisch auf alle Regelungen des MTV übertragen werden, deren Wortlaut allein von Arbeitnehmern spreche. Andernfalls wären auch die Entlohnung gemäß § 5, insbesondere Ziffer 5.3.4, die Arbeitsbefreiung und Arbeitsunfähigkeit gemäß § 8, die Regelung zur Berufskleidung gemäß § 10 bzw. die Kautionen gemäß § 11 MTV nur für Arbeitnehmer geregelt. Dies sei nicht der Wille der Tarifvertragsparteien gewesen, die den persönlichen Anwendungsbereich des MTV gleichermaßen auf Arbeitnehmer und Auszubildende erstreckt hätten.

Auch in Gesetzen, die dem Schutz des Arbeitnehmers dienten, z.B. dem Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) und dem Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall (Entgeltfortzahlungsgesetz), werde nicht zwischen Arbeitnehmern und Auszubildenden unterschieden. Unterscheide der Gesetzgeber in Einzelfällen doch ausdrücklich zwischen Arbeitnehmern und Auszubildenden, so geschehe dies immer zu Gunsten der Auszubildenden, beispielsweise durch Schutzgesetze, die ihr Alter und ihre Situation berücksichtigten. Dies gelte auch für tarifliche Regelungen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 319,50 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.12.2007 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, Auszubildenden stehe eine Jahressonderzahlung nach § 9 MTV nicht zu. § 1 des MTV differenziere zwischen Arbeitnehmern und Auszubildenden. Gleiches gelte für die Regelungen zur Arbeitszeit in § 3 MTV. Auch beim Urlaubsgeld gemäß § 7 MTV unterscheide der Tarifvertrag eindeutig zwischen Arbeitnehmern und Auszubildenden. Aus dieser Systematik ergebe sich, dass eine Jahressonderzahlung für Auszubildende nicht geschuldet werde. Dies folge schon daraus, dass die Regelungen in § 9 MTV hinsichtlich der Jahressonderzahlung auf die Betriebstreue abstellten. Mit steigender Betriebszugehörigkeit würden Arbeitnehmer mit einer höheren Sonderzahlung belohnt. Auszubildende erfüllten diese Voraussetzung jedoch nicht, da das Ausbildungsverhältnis aufgrund einer Befristung nach drei Jahren ende.

Das Arbeitsgericht hat die Tarifvertragsparteien um Auskunft darüber gebeten, ob bei der Vereinbarung von § 9 MTV Einigkeit darüber bestanden habe, dass Auszubildende keine Jahressonderzahlung erhalten sollten. Wegen der Auskunft der Gewerkschaft NGG vom 02.09.2008 wird auf Blatt 46 der Akten und wegen der Auskunft des DEHOGA Nordrhein-Westfalen e.V. vom 23.01.2009 auf Blatt 51 f. der Akten verwiesen.

Durch Urteil vom 25.11.2009 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen, die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt, den Streitwert auf 319,50 Euro festgesetzt und die Berufung zugelassen. Gegen diese Entscheidung, die dem Kläger am 14.12.2009 zugestellt worden ist, richtet sich die Berufung des Klägers, die am 12.01.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangen und gleichzeitig begründet worden ist.

Der Kläger vertritt weiter die Auffassung, er habe Anspruch auf die Jahressonderzahlung gemäß § 9 MTV für das Jahr 2007. Zur Begründung trägt er vor, weder aus der ausdrücklichen Erwähnung der Auszubildenden in § 1 Ziffer 3 MTV noch aus dem Umstand, dass in § 9 MTV als Anspruchsinhaber nur Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, nicht aber ausdrücklich Auszubildende aufgeführt seien, könne geschlossen werden, dass die Jahressonderzahlung nur Arbeitnehmer, nicht aber Auszubildende beanspruchen sollte. Eine solche Schlussfolgerung könne allenfalls dann gezogen werden, wenn der Tarifvertrag in allen seinen Regelungen zwischen diesen Gruppen unterscheide. Dies sei jedoch nicht der Fall. Der MTV enthalte eine Reihe von Regelungen, die auf Auszubildende anwendbar seien, ohne dass in diesen Bestimmungen Auszubildende als eigene Gruppe ausdrücklich erwähnt seien. Dies gelte etwa für den Ausgleich für die Beschäftigung an Feiertagen gemäß § 4 Ziffer 4.2., für die Entlohnung gemäß § 5 Ziffer 5.1., für den Urlaubsanspruch gemäß § 7, die Regelung zur Arbeitsbefreiung und Arbeitsunfähigkeit in § 8, der Berufskleidung in § 10 Ziffer 2 und des Günstigkeitsprinzips in § 17 MTV. Aus dem Umstand, dass § 9 MTV Auszubildende als Anspruchsteller nicht eigens erwähne, ließen sich demnach keine Schlüsse ziehen.

Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts könne auch aus der Tatssache, dass in § 7 Ziffer 7.4 MTV eine eigene Regelung für die Zahlung von zusätzlichem Urlaubsgeld für Auszubildende enthalten sei, nicht gefolgert werden, mangels einer derartigen Spezialregelung in § 9 solle die Jahressonderzahlung für Auszubildende nach dem Willen der Tarifvertragsparteien entfallen. Nur die Regelung bezüglich des zusätzlichen Urlaubsgeldes, nicht aber die zur Jahressonderzahlung sei inhaltlich so gestaltet, dass sie eine Spezialregelung für Auszubildende erfordere. Während die Jahressonderzahlung 50 % eines tariflichen Monatseinkommens betrage, werde das zusätzliche Urlaubsgeld in Form eines Festbetrages pro Urlaubstag geleistet. Angesichts des geringeren Verdienstes von Auszubildenden sei deshalb eine Spezialregelung erforderlich. Eine Gewährung desselben Festbetrages an Auszubildende und Arbeitnehmer wäre sachlich nicht gerechtfertigt. Eine entsprechende Differenzierung sei insofern erforderlich. Dies gelte für die Regelung der Jahressonderzahlung in § 9 MTV nicht.

Die Staffelung des Anspruchs auf Jahressonderzahlung je nach Betriebszugehörigkeit schließe die Anwendbarkeit von 9 MTV auf Auszubildende nicht aus. Zum einen bestehe die Staffelung seit 1998 nicht mehr. Zum anderen sei auch im Ausbildungsverhältnis eine Staffelung nach Ausbildungsjahren sinnvoll, da auch Auszubildende ihr Ausbildungsverhältnis auflösen könnten und ihnen gekündigt werden könne. Auch der Umstand, dass das Ausbildungsverhältnis regelmäßig auf drei Jahre befristet sei, schließe den Anspruch nicht aus, da auch befristete Arbeitsverhältnisse von § 9 MTV erfasst seien.

Auch die Rückzahlungsklausel in § 9 Ziffer 9.4. MTV stehe der Anwendbarkeit der Vorschrift auf Auszubildende nicht entgegen. Da auch Ausbildungsverhältnisse vor dem 01.04 des folgenden Kalenderjahres enden könnten, bleibe die Rückzahlungsklausel auch im Bereich des Berufsausbildungsverhältnisses sinnvoll. Auch der den Auszubildenden zustehende Sonderzahlungsbetrag überschreite in der Regel den von der Rückzahlungsklausel nicht erfassten Betrag von 200,00 DM (= ca. 100,00 Euro).

Weder aus dem Wortlaut der Regelungen noch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang oder dem Sinn und Zweck ergäben sich demnach Anhaltspunkte dafür, dass nach dem Willen der Tarifvertragsparteien Auszubildende vom Anspruch auf die Jahressonderzahlung ausgenommen werden sollten. Da eine Reihe von tariflichen Regelungen auch Auszubildenden Ansprüche gewähre, obwohl sie in der Vorschrift nicht eigens erwähnt seien, sei entsprechend dem Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung festzustellen, ob nach dem Willen der Tarifvertragsparteien auch Auszubildende von ihr erfasst werden sollen oder nicht. Sofern Besonderheiten im Ausbildungsverhältnis spezielle Regelungen erforderten, sei allein in diesen Fällen davon auszugehen, dass die tariflichen Regelungen nach dem Willen der Tarifvertragsparteien nur auf Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen anwendbar sein sollten. Unterscheide die tarifliche Regelung nicht ausdrücklich zwischen Arbeitnehmern und Auszubildenden, sei in der Regel anzunehmen, dass sie für beide Arbeitnehmergruppen gelte, da ansonsten die Tarifvertragsparteien – wie etwa in § 7 MTV – eigenständige und spezifische Regelungen nur für Auszubildende getroffen hätten. Lediglich dann, wenn nach Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung eine sinnvolle und sachgerechte Anwendung für Auszubildende ausgeschlossen sei, sei sie trotz fehlender eigenständiger Regelung für Auszubildende auf diese nicht anzuwenden. Die Jahressonderzahlung für Auszubildende könne jedoch nicht als eine Leistungsgewährung betrachtet werden, die im Ausbildungsverhältnis nicht sachgerecht sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 25.11.2009 – AZ.: 5 Ca 2439/08 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 319,50 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.12.2007 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gelsenkirchen vom 25.11.2009, Aktenzeichen 5 Ca 2439/08, zurückzuweisen.

Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil und trägt vor, der genannte MTV differenziere in einzelnen Bereichen zwischen Arbeitnehmern und Auszubildenden, in anderen Bereichen allerdings nicht. So spreche § 5 Ziffer 5.1 MTV zwar von der Entlohnung aller Arbeitnehmer. Tatsächlich finde sich aber in der entsprechenden Vorschrift auch die Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern und Auszubildenden. Die Ausbildungsvergütungen würden separat behandelt.

Bezüglich des Urlaubsanspruches bestünden unterschiedliche Rechtsauffassungen über den Umfang des Urlaubsanspruchs für Auszubildende. Zudem sei das Urlaubsgeld für die Auszubildenden in § 7 Ziffer 7.4.3 MTV gesondert geregelt.

Die Jahressonderzahlung gemäß § 9 MTV knüpfe entscheidend an die Betriebszugehörigkeit an. Die Betriebszugehörigkeit ende bei einem Berufsausbildungsvertrag jeweils mit dem Ende der Ausbildungszeit. Vor diesem Hintergrund hätten die Tarifvertragsparteien die Jahressonderzahlung für Auszubildende nicht berücksichtigt. Der Gedanke der Betriebstreue ergebe sich aus der historischen Entwicklung des MTV. Bei den Auszubildenden sei die Jahressonderzahlung nicht thematisiert worden, weil durch den Abschluss des befristeten Vertrages die Betriebstreue nicht Bestandteil des Ausbildungsvertrages sei. Auch die Argumentation im Hinblick auf die Rückzahlungsklausel sei nicht sachgerecht. Gerade engagierte Auszubildende hätten die Möglichkeit, die Abschlussprüfung vorzuziehen. Dies würde dazu führen, dass die besonders fleißigen und intelligenten Auszubildenden, die die Möglichkeit der Vorverlegung der Prüfung hätten, dadurch bestraft würden, weil sie die Jahressonderzahlung zurückgewähren müssten. Verlängere sich dagegen wegen Nichtbestehens der Ausbildungsvertrag, wäre sogar noch eine zusätzliche Jahressonderzahlung fällig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE :

I.

Die Berufung des Klägers ist angesichts ihrer Zulassung durch das Arbeitsgericht im Urteil vom 25.11.2009 an sich statthaft, sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

II.

Der Sache nach hat die Berufung Erfolg. Der Kläger kann die Jahressonderzahlung für das Jahr 2007 gemäß § 9 des MTV in rechnerisch unstreitiger Höhe von 319,50 Euro brutto nebst Zinsen im zuerkannten Umfang beanspruchen. Zwar heißt es in § 9 Ziffer 9.1 des streitlos anwendbaren MTV, dass “jede/r Arbeitnehmer/In, der/die am 01.12. des jeweiligen Kalenderjahres in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis steht”, Anspruch auf die Jahressonderzahlung hat. Nach Auffassung der erkennenden Kammer gilt diese tarifliche Regelung aber auch für Auszubildende. Dies ergibt die Auslegung des MTV.

1. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien, wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggfs. auch die praktische Tarifübung, ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG, Urteil vom 28.05.1998 – 6 AZR 349/96, AP Nr. 25 zu § 611 BGB Bühnenengagementvertrag; Urteil vom 29.08.2001 – 4 AZR 337/00, AP Nr. 174 zu § 1 TVG Auslegung; Urteil vom 16.06.2004 – 4 AZR 408/03, AP Nr. 24 zu § 4 TVG Effektivklausel).

2. Gemessen an diesen Grundsätzen ist § 9 MTV auch auf Ausbildungsverhältnisse anwendbar.

a) Im Ausgangspunkt zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass § 9 Ziffer 9.1. MTV nur von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern spricht, bei isolierter Betrachtung des Wortlauts dieser Tarifbestimmung also Auszubildende in seinen Regelungsbereich nicht einbezieht. Für eine dahingehende Beschränkung des Geltungsbereichs von § 9 MTV könnte sprechen, dass die Tarifvertragsparteien in § 7 MTV beim Urlaubsgeld eine differenzierte Regelung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der einen und für Auszubildende auf der anderen Seite geschaffen haben.

Andererseits gilt der MTV gemäß § 1 Ziffer 3 für alle Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und Auszubildenden. Der MTV enthält außerdem zahlreiche Regelungen, die zweifellos auch für Auszubildende gelten, obwohl in ihnen nur von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Rede ist, so zum Beispiel in den §§ 4 Ziffer 4.2, 5 Ziffer 5.1., 7 Ziffer 7.1 bis 7.3, 7 Ziffer 7.5.4 bis 7.5.8, 8, 10 Ziffer 10.2., 12, 16 und 17 des MTV. Angesichts dessen kann bei isolierter Betrachtung des Wortlauts nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmt werden, ob Auszubildende Anspruch auf die Jahressonderzahlung haben oder nicht.

b) Unter Einbeziehung des tariflichen Gesamtzusammenhangs ist nach Auffassung der erkennenden Kammer davon auszugehen, dass § 9 MTV auch auf Ausbildungsverhältnisse anzuwenden ist.

aa) Der MTV gilt nach § 1 Ziffer 3 ausdrücklich auch für Auszubildende. Finden sich also in den weiteren Bestimmungen des MTV keine Ausnahmeregelungen im Hinblick auf Ausbildungsverhältnisse, gelten seine Bestimmungen grundsätzlich für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Auszubildende, soweit nicht nach Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung eine sinnvolle und sachgerechte Anwendung für Auszubildende ausgeschlossen ist. Dem entspricht es, dass der MTV, wie oben bereits ausgeführt, an zahlreichen Stellen Regelungen enthält, die zweifellos auch für Auszubildende gelten, obwohl dort nur von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesprochen wird.

bb) Entgegen der Auffassung der Beklagten lässt die Tatsache, dass § 7 MTV eine eigenständige Regelung über die Zahlung von zusätzlichem Urlaubsgeld an Auszubildende enthält, den Schluss nicht zu, Auszubildende hätten mangels einer gesonderten Regelung in § 9 MTV nach dem Willen der Tarifvertragsparteien keinen Anspruch auf eine Jahressonderzahlung. Diese Annahme wäre nur dann gerechtfertigt, wenn in allen Regelungen des MTV, die auch auf Ausbildungsverhältnisse anwendbar sind, ausdrücklich geregelt wäre, dass sie für Auszubildende gelten. Dass dies nicht der Fall ist, wurde oben bereits ausgeführt. Vielmehr spricht der MTV auch in Regelungen, die zweifellos für Auszubildende gelten, nur von “Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern” und “Arbeitsverhältnis”, so z.B. in § 7 Ziffer 7.2.2 MTV.

Dass die Tarifvertragsparteien in § 7 MTV eine differenzierte Regelung hinsichtlich der Zahlung des zusätzlichen Urlaubsgeldes für Auszubildende geschaffen haben, hat seinen Grund darin, dass das Urlaubsgeld als Festbetrag pro Urlaubstag gewährt wird. Um zu verhindern, dass Auszubildende ein unangemessen hohes Urlaubsgeld erhalten, war zwingend eine Sonderregelung erforderlich. Unter Berücksichtigung des tariflichen Gesamtzusammenhangs ist die Regelung hinsichtlich des Urlaubsgelds für Auszubildende in § 7 MTV nicht als begünstigende, sondern als die Auszubildenden belastende Ausnahmebestimmung zu den Urlaubsgeldregelungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verstehen. Vor diesem Hintergrund können hieraus keine Rückschlüsse darauf gezogen werden, ob § 9 MTV auch für Auszubildende gilt.

c) Der Einwand der Beklagten, Ausbildungsverhältnisse würden befristet abgeschlossen, so dass der Gedanke der Betriebstreue, der bei der Gewährung der Jahressonderzahlung im Vordergrund stehe, nicht zum Tragen kommen könne, ist unerheblich. Zutreffend weist der Kläger darauf hin, dass § 9 MTV auch befristete Arbeitsverhältnisse erfasst.

d) Auch die sonstigen Regelungen in § 9 MTV schließen nach ihrem Sinn und Zweck eine sinnvolle und sachgerechte Anwendung auf Ausbildungsverhältnisse nicht aus.

aa) Dies gilt zunächst für die Rückzahlungsklausel in § 9 Ziffer 9.4. MTV. Ausbildungsverhältnisse können ebenfalls vor dem 01.04. des folgenden Kalenderjahres enden. Auch die Höhe der dem Auszubildenden zustehenden Jahressonderzahlung übersteigt in der Regel den in § 9 Ziffer 9.4. MTV bestimmten Betrag, der ihm trotz Bestehens der Rückzahlungsverpflichtung verbleiben soll.

bb) Der Einwand der Beklagten, die Regelung in § 9 Ziffer 9.4. MTV habe zur Folge, dass besonders fleißige und intelligente Auszubildende, welche die Möglichkeit hätten, die Prüfung vorzuverlegen, dadurch bestraft würden, dass sie die Jahressonderzahlung zurückgewähren müssten, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die in § 9 Ziffer 9.4. MTV geregelte Rückzahlungsverpflichtung trifft in gleicher Weise auch leistungsstarke Arbeitnehmer, die vor dem 01.04. des folgenden Kalenderjahres aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.

Die Kammer hat die Revision gemäß § 72 Abs. 2 Ziffer 1 ArbGG zugelassen.

Schlagworte

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Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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