LAG Hessen, 19.12.2017 – 12 Sa 265/17

März 24, 2019

LAG Hessen, 19.12.2017 – 12 Sa 265/17
Orientierungssatz:

Erfolglose Berufung gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts, mit welcher das Bestehen des vollen Jahresurlaubsanspruchs im Falle des unterjährigen Ausscheidens wegen der Inanspruchnahme von Altersrente für besonders langjährig Versicherte und einer tarifvertraglichen Zwölftelungsregelung abgelehnt worden ist. Der Kläger ist mit 63 Jahren wegen des Bezugs von “Altersrente für besonders langjährig Versicherte” aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. § 16 Ziff. 3 4. Absatz MTV der Metall- und Elektroindustrie in Hessen sieht den vollen Jahresurlaubsanspruch nur vor, wenn der Mitarbeiter “nach Erreichen der Altersgrenze” aus dem Betrieb ausscheidet. Nach Auffassung der Kammer ist nur die Vollendung des 65. Lebensjahrs nach § 35 SGB VI a.F. bzw. die Regelaltersgrenze nach § 35 SGB VI n.F. als Altersgrenze im Sinne von § 16 Ziff. 3 4. Absatz MTV anzusehen.
Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 18. Januar 2017 – 4 Ca 387/16 – wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand

Die Parteien streiten um das Bestehen eines Urlaubsabgeltungsanspruchs.

Der am xx.xx.1953 geborene Kläger war in der Zeit vom 01. September 1968 bis zum 31. Juli 2016 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt gegen ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt i.H.v. 4.073,03 EUR.

Auf das Arbeitsverhältnis fanden kraft beiderseitiger Verbandsmitgliedschaften die Tarifverträge der Hessischen Metall- und Elektroindustrie Anwendung. Darüber hinaus galten im Arbeitsverhältnis eine Vielzahl von Betriebsvereinbarungen, unter anderem eine Betriebsvereinbarung über freiwillige soziale Leistungen vom 25. Februar 1975. Diese sieht bei einer Betriebszugehörigkeit des Mitarbeiters von 20 Jahren zumindest zwei Tage Zusatzurlaub vor.

Der zum 01. Januar 2006 in Kraft getretene Manteltarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie für das Land Hessen vom 20. Juli 2005 (fortan: MTV), der in dem Arbeitsverhältnis des Klägers zur Anwendung kam, enthält auszugsweise folgende Regelungen:

§ 16

Urlaubsanspruch

1. Jeder Beschäftigte hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.

2. …

3. Im Eintritt- und Austrittsjahr erhält der Beschäftigte soviel Zwölftel des ihm für das Kalenderjahr zustehenden Urlaubs, als er Monate im Betrieb beschäftigt gewesen ist.

Ein Beschäftigungsmonat wird voll gerechnet, wenn der Beschäftigte mehr als zwölf Kalendertage im Betrieb beschäftigt war. Der Anspruch auf Urlaub entfällt jedoch im Eintrittsjahr, wenn der Beschäftigte weniger als einen Monat im Betrieb beschäftigt war. Im Übrigen wird bei dem Teilanspruch keine Wartezeit vorausgesetzt.

Ist der Urlaub bei Austritt des Beschäftigten bereits in voller Höhe gewährt, so hat es damit sein Bewenden.

Scheidet ein Beschäftigter nach Erreichen der Altersgrenze oder wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit aus dem Berufsleben aus, so erhält er abweichend von Abs. 1 für das Austrittsjahr den vollen Jahresurlaub, wenn er länger als 5 Monate im Urlaubsjahr dem Betrieb angehört hat. Maßgeblich ist der Rentenbescheid.

4. Bruchteile von Urlaubstagen, die mindestens einen halben Tag ergeben, sind auf volle Urlaubstage aufzurunden.

§ 17

Urlaubsdauer

1. Der Urlaub beträgt 30 Arbeitstage.

§ 18

Urlaubsentgelt – Urlaubsgeld

1. Der Beschäftigte erhält für jeden Urlaubstag ein Urlaubsentgelt. Die Berechnung erfolgt gemäß § 27.

2. Zusätzlich zu dem Urlaubsentgelt ist für jeden Urlaubstag ein Urlaubsgeld zu zahlen. Das Urlaubsgeld beträgt 50 % des Urlaubsentgelts gemäß Ziff. 1.

Der zum 01. Januar 2006 in Kraft getretene Tarifvertrag über eine betriebliche Sonderzahlung für Beschäftigte (Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen) und Auszubildenden der Metall- und Elektroindustrie für das Land Hessen vom 08. Dezember 2005 (fortan: TV-Sonderzahlung) enthält in § 2 unter der Überschrift: “Sonderzahlungen und deren Voraussetzungen” auszugsweise folgende Bestimmungen:

1. Beschäftigte, die am Auszahlungstag in einem Arbeitsverhältnis stehen und zu diesem Zeitpunkt dem Betrieb ununterbrochen sechs Monate angehören, haben je Kalenderjahr einen Anspruch auf betriebliche Sonderzahlung. Ausgenommen sind Beschäftigte, die zu diesem Zeitpunkt ihr Arbeitsverhältnis gekündigt haben und Beschäftigte, denen wegen Arbeitsvertragsverletzung wirksam gekündigt worden ist.

6. Beschäftigte, die die Voraussetzungen der Ziff. 1 erfüllen, jedoch wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wegen Erreichens der Altersgrenze oder aufgrund Kündigung zwecks Inanspruchnahme eines vorgezogenen Altersruhegeldes vor dem Auszahlungstag ausgeschieden sind, erhalten die volle Sonderzahlung. Beschäftigte, die bis zum 30. Juni des Auszahlungsjahres ausscheiden, erhalten die halbe Sonderzahlung.

Im Kalenderjahr 2016 nahm der Kläger 18 Tage tarifvertraglichen Urlaub sowie einen weiteren Tag Zusatzurlaub auf Grundlage der Betriebsvereinbarung vom 25. Februar 1975 in Anspruch.

Das Arbeitsverhältnis des Klägers endete durch seine Eigenkündigung zum Ablauf des 31. Juli 2016, da der Kläger seit dem 01. August 2016 Altersrente für besonders langjährig Versicherte erhält.

Der Kläger hat – soweit für die Berufung von Bedeutung – die Auffassung vertreten, ihm stünden über die 18 auf Grundlage des MTV gewährten Urlaubstage weitere zwölf tarifliche Urlaubstage sowie ein weiterer Urlaubstag auf Grundlage der Betriebsvereinbarung von 1975 zu. Diese 13 Urlaubstage seien abzugelten, wobei bezüglich der tariflichen Urlaubstage zusätzlich Urlaubsentgelt nach § 18 MTV zu zahlen sei.

Der Kläger hat gemeint, bei Abschluss des im MTV habe es die Rente mit 63 Jahren für besonders langjährig Versicherte noch nicht gegeben. Da es sich aber auch bei dieser Rente um eine ungeminderte Altersrente handele, sei sie von der Begriffsdefinition des “Erreichens der Altersgrenze” umfasst. Unter dem Begriff der Altersgrenze sei die Möglichkeit zu verstehen, eine ungeminderte Altersrente in Anspruch zu nehmen.

Der Kläger hat – soweit für das Berufungsverfahren von Bedeutung – beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.558,13 EUR brutto nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 01. August 2016 zu zahlen.

Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt und insbesondere darauf hingewiesen, dass der im Singular in § 16 Ziff. 3 vierter Absatz MTV verwendete Begriff der Altersgrenze ausschließlich die Regelaltersgrenze meinen könne, da ansonsten die Formulierung “Erreichen einer Altersgrenze” gewählt worden wäre.

Hinsichtlich des weiteren Parteivorbringens erster Instanz wird ergänzend der Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils (Blatt 83 bis 85 der Akte) in Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Offenbach am Main hat der Klage – soweit für das Berufungsverfahren von Bedeutung – im Umfang von 749,08 EUR brutto stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Es hat angenommen, dem Kläger stünde für das Kalenderjahr 2016 lediglich der anteilige tarifliche Urlaub für den Zeitraum vom 01. Januar bis zum 31. Juli zu. Diesbezüglich sei in Anwendung von § 16 Ziff. 3 erster Absatz MTV von 17,5 Tagen bzw. nach Aufrundung gemäß § 16 Ziff. 4 MTV von 18 Tagen auszugehen. Da jedoch der gesetzlichen Mindesturlaub i.H.v. 20 Tagen bereits zu Beginn des Jahres 2016 in voller Höhe entstanden sei, sei es den Tarifvertragsparteien nach § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG verwehrt, diesen zu kürzen. Infolgedessen seien zwei weitere (tarifliche) Urlaubstage einschließlich des Urlaubsgeldes abzugelten. Hierbei sei zwischen den Parteien nicht streitig, dass von einem Urlaubsentgeltanspruch i.H.v. 187,27 EUR brutto pro Tag auszugehen sei und dass dieser Betrag auch für die Berechnung der Höhe des Urlaubsgelds heranzuziehen sei. Daneben müsse auch der weitere Urlaubstag, der aus der Betriebsvereinbarung vom 25. Februar 1975 folge, abgegolten werden, da Umstände, die eine Kürzung dieses Zusatzurlaubs, dem § 77 Abs. 3 BetrVG nicht entgegenstehe, rechtfertigen könnten, nicht gegeben seien.

Hinsichtlich der weiteren zehn Urlaubstage, die der Kläger für das Kalenderjahr 2016 abgegolten sehen möchte, sei die Klage unbegründet, da ein Anspruch auf ungekürzten Jahresurlaub gemäß § 16 Ziff. 3 vierter Absatz MTV nicht gegeben sei. Der Kläger sei nicht nach “Erreichen der Altersgrenze” im Sinne des MTV aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Der Tarifvertrag gehe nicht von dem Erreichen “einer” Altersgrenze, sondern von dem Erreichen “der” Altersgrenze aus. Wenn die Tarifvertragsparteien, von deren Kenntnis des Bestehens verschiedener Altersgrenzen auszugehen sei, den Singular verwendeten, könne damit nur die Altersgrenze gemeint sein, die für alle Arbeitnehmer in gleicher Weise gelte. Dies sei die Regelaltersgrenze gemäß § 35 SGB VI. Dieses Verständnis ergäbe sich auch aus dem TV-Sonderzahlung, der zum 01. Januar 2006 in Kraft getreten sei. Diese zeitlich lediglich geringfügig jüngere Tarifnorm zeige, dass die Tarifvertragsparteien genau zwischen der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung als Grundlage des Bezugs der Regelaltersrente und sonstigen vorgezogenen Altersruhegeldern oder flexiblen Altersgrenzen unterschieden hätten.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils – Blatt 85 bis 87 der Akte – Bezug genommen.

Gegen das dem Kläger am 03. Februar 2017 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat dieser mit Schriftsatz vom 22. Februar 2017 am 22. Februar 2017 Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 22. März 2017 am 22. März 2017 begründet.

Der Kläger ist der Auffassung, zehn weitere Urlaubstage seien inklusive des tariflichen Urlaubsgeldes abzugelten. Die Tarifnorm knüpfe an das Ausscheiden aus dem Berufsleben an. Zweck einer solchen Regelung könne nur sein, den Mitarbeitern den Übergang in den Ruhestand dadurch zu erleichtern, dass sie auch bei unterjährigem Ausscheiden noch den gesamten Jahresurlaub bei vollen Bezügen – auch inklusive des zusätzlichen Urlaubsgeldes – genießen könnten. Diese Interessenlage sei bei jedem Ausscheiden aus dem Berufsleben wegen des Bezugs von Altersrente bzw. Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gleich, d.h. unabhängig von der jeweiligen Altersgrenze. Der TV-Sonderzahlung spreche nicht dafür, § 16 MTV im Sinne der Sichtweise der Beklagten auszulegen, da dieser zu einem späteren Zeitpunkt als der MTV abgeschlossen worden sei. Auch stelle der TV-Sonderzahlung auf den Umstand der Kündigung durch den Arbeitnehmer wegen des Bezugs vorgezogenen Altersruhegeldes ab. Die Eigenkündigung sei nach § 2 Ziff. 1 TV-Sonderzahlung allerdings grundsätzlich anspruchsausschließend. Die Tarifvertragsparteien hätten mit § 2 Ziff. 6 TV-Sonderzahlung lediglich klargestellt, dass der Anspruchsausschluss im Falle einer Kündigung wegen vorgezogene Rente nicht gelten solle.

Hinsichtlich des Vorbringens im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründungsschrift (Blatt 104 ff. der Akte) verwiesen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 18. Januar 2017 – 4 Ca 387/16 – teilweise abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, über die erstinstanzlich bereits zugesprochenen 749,08 EUR hinaus, an ihn weitere 2.809,05 EUR brutto nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01. August 2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags. Hinsichtlich des Vortrags im Einzelnen wird auf die Berufungserwiderungsschrift (Blatt 114 ff. der Akte) und auf den Schriftsatz vom 15. Dezember 2017 (Blatt 125 ff. der Akte) verwiesen.
Gründe

I. Die gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 18. Januar 2017 – 4 Ca 387/16 – eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig.

Das Rechtsmittel ist gem. §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 2 Buchstabe b) ArbGG statthaft, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,- EUR übersteigt. Die Berufung ist auch zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 1, 3 und 5 ZPO.

II. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht hinsichtlich des vollen tariflichen Urlaubsanspruchs mit überzeugender Begründung nicht stattgegeben. Die Kammer folgt den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils, § 69 Abs. 2 ArbGG (unter 1). Im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers im Berufungsrechtszug sind lediglich kurze Ergänzungen veranlasst (unter 2.).

1. Zu Recht hat das Arbeitsgericht die zutreffende Auslegung des Begriffs “Erreichen der Altersgrenze” als streitentscheidend angesehen.

a. Unter Zugrundelegung der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Regelungen und ihrem systematischen Zusammenhang Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, gesetzeskonformen und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG 07. Oktober 2015 – 7 AZR 945/13 – NZA 2016, 441 m.w.N.).

b. Der Wortlaut des Tarifvertrags stellt lediglich auf das “Erreichen der Altersgrenze” ab, ohne diese Altersgrenze genauer zu bezeichnen. Hierin unterscheidet sich der Tarifvertrag von der tariflichen Regelung, die Gegenstand der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 21. November 2000 (9 AZR 654/99, NZA 2001, 619 [BAG 21.11.2000 – 9 AZR 654/99]) war. In dem dort zugrunde liegenden Tarifvertrag war in § 39 eine Regelung über die “Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung, gegenseitiges Einvernehmen oder Erreichung der Altersgrenze” enthalten, in der es hieß: “Das Arbeitsverhältnis endet, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit Ablauf des Monats, in dem der Arbeitnehmer das fünfundsechzigste Lebensjahr vollendet hat”. Gleichzeitig regelte dort § 36: “Scheidet der Arbeitnehmer wegen Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder wegen Erreichung der Altersgrenze aus dem Arbeitsverhältnis aus, so hat er Anspruch auf den vollen Erholungsurlaub.” In einer solchen Konstellation ist es naheliegend, hinsichtlich des Begriffs der Erreichung der Altersgrenze in § 39 auf die Regelung in § 36 abzustellen. Derartige Angaben enthält jedoch der vorliegende MTV nicht.

Der einzige, mit dem unmittelbaren Wortlaut des MTV begründbare Anhaltspunkt für die Auslegung des Begriffs “Erreichen der Altersgrenze” ist, worauf das Arbeitsgericht zutreffend hingewiesen hat, der verwendete Singular des Begriffs der Altersgrenze. Da der Tarifvertrag selber an keiner Stelle eine Altersgrenze enthält, können nur Altersgrenzen aufgrund gesetzlicher Regelungen Betracht kommen. Bei Abschluss des MTV regelten die §§ 35, 36, 37 und 40 SGB VI in der im Zeitraum vom 01. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung die “Renten wegen Alters”. Auch wenn der Gesetzeswortlaut den Begriff der Altersgrenze nicht ausdrücklich verwendet hat, so wird doch in den §§ 35 ff. SGB VI geregelt, ab welchem Zeitpunkt die verschiedenen Renten wegen Alters beansprucht werden können. Den Zeitpunkt des Beginns eines Rentenanspruchs wegen Alters als Altersgrenze zu bezeichnen, ist insoweit naheliegend.

Die in den §§ 35 ff. SGB VI a.F. geregelten Altersgrenzen variierten stark und waren unterschiedlichen Anforderungen unterworfen. Während beispielsweise nach § 40 SGB VI ein Altersrentenanspruch für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres gegeben sein konnte, war für den Bezug der Regelaltersrente nach § 35 SGB VI die Vollendung des 65. Lebensjahres erforderlich.

Wenn nun die Tarifvertragsparteien in § 16 Ziff. 3 vierter Absatz MTV von Altersgrenze sprechen, es jedoch keine tarifvertragliche Altersgrenze gibt und das Gesetz verschiedene Altersgrenzen für den Erwerb einer (Voll-) Rente vorsieht, kann dies zweierlei bedeuten: Entweder sind alle gesetzlichen Altersgrenzen erfasst oder nur eine einzelne Altersgrenze, die gegenüber den anderen allerdings eine Sonderstellung einnehmen muss, um identifizierbar zu sein.

Gegen die Sichtweise, dass mit dem Begriff der Altersgrenze in § 16 Ziff. 3 vierter Absatz MTV alle gesetzlichen Altersgrenzen gemeint sind, spricht der Wortlaut durch die Verwendung des Singulars. Soweit der Kläger meint, der Begriff der Altersgrenze stelle lediglich einen Oberbegriff dar, überzeugt dies nicht, da die Tarifvertragsparteien in § 2 Abs. 6 TV-Sonderzahlung zwischen “Erreichen der Altersgrenze” und “Kündigung zwecks Inanspruchnahme eines vorgezogenen Altersruhegeldes” differenziert haben. Mit dieser Regelung haben sie klargestellt, dass eine Sonderzahlung auch dann zu leisten ist, wenn nicht “die Altersgrenze” erreicht ist, sondern vor Erreichen der Altersgrenze Altersruhegeld bezogen wird. Durch diese Regelung wird deutlich, dass die Tarifvertragsparteien mit dem “Erreichen der Altersgrenze” grundsätzlich nicht jeglichen Bezug einer Rente wegen Alters gemeint haben können.

Dieser Sichtweise kann auch nicht erfolgreich entgegengehalten werden, dass der TV-Sonderzahlung zeitlich nach dem MTV abgeschlossen worden ist. Zwar ist zutreffend, dass der MTV am 20. Juli 2005 vereinbart worden ist und der TV-Sonderzahlung ca. 4,5 Monate später am 08. Dezember 2005. Beide Tarifverträge sind aber nach dem Willen der Tarifvertragsparteien erst zum 01. Januar 2006 in Geltung getreten. Anhaltspunkte dafür, dass dem TV-Sonderzahlung ein anderes Verständnis der Tarifvertragsparteien zugrunde gelegen haben könnte als dem MTV, sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat es zwischen Juli 2005 und Dezember 2005 keine Änderungen der in diesem Zusammenhang maßgebenden gesetzlichen Regelungen gegeben. Im Übrigen wäre es den Tarifvertragsparteien auch unbenommen gewesen, im Falle eines veränderten Verständnisses, noch vor Inkrafttreten des MTV durch eine entsprechende Protokollnotiz den Begriff klarzustellen. Da dies unterblieben ist, spricht vieles dafür, dass der MTV bezüglich des Begriffs “Erreichen der Altersgrenze” ebenso wie der TV-Sonderzahlung eine einzelne gesetzliche Grenze meint und keinen Oberbegriff für alle Renten wegen Alters darstellt.

Die Auffassung des Klägers, die Regelung in § 2 Abs. 6 TV-Sonderzahlung bezwecke einzig, den Ausschlusstatbestand gemäß § 2 Abs. 1 TV-Sonderzahlung außer Kraft zu setzen, überzeugt bereits deshalb nicht, weil der Tarifvertrag auch für den Fall des Bezugs der Regelaltersrente keinen Beendigungsautomatismus bzgl. des Arbeitsverhältnisses enthält. Auch im Fall der Regelaltersrente muss von einer oder beiden Arbeitsvertragsparteien ein Beendigungstatbestand gesetzt werden. Da dies auch eine Kündigung durch den Arbeitnehmer sein kann, § 2 Abs. 6 TV-Sonderzahlung diesbezüglich aber nur auf das “Erreichen der Altersgrenze” abstellt ohne die Kündigung als unschädlich zu bezeichnen, wird deutlich, dass es gerade nicht um das außer Kraft setzen des Ausschlusstatbestands gemäß § 2 Abs. 1 TV-Sonderzahlung geht, wenn der Sonderzahlungsanspruch auch bei “Kündigung zwecks Inanspruchnahme eines vorgezogenen Altersruhegeldes” gewährt wird.

Da mithin die Tarifvertragsparteien mit der Formulierung des “Erreichens der Altersgrenze” in § 16 Ziffer 3 vierter Absatz MTV lediglich eine bestimmte Altersgrenze gemeint haben, kommt insoweit nur die Regelaltersgrenze nach § 35 SGB VI in Betracht. Zwar ist es zutreffend, dass in § 35 SGB VI a.F. der Begriff der Regelaltersgrenze nicht verwendet worden ist, dies war allerdings ausschließlich dem Umstand geschuldet, dass diese Grenze für alle Versicherten mit der Vollendung des 65. Lebensjahres einheitlich erreicht war. Infolge der stufenweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 Jahren auf 67 Jahre für die Geburtsjahrgänge 1949 bis 1963 aufgrund der Regelungen in § 236 SGB VI ist die Grenze für den Bezug der Regelaltersrente nach § 35 SGB VI vom Geburtsjahr abhängig. Hieraus erklärt sich, weshalb der Gesetzgeber den Begriff der Regelaltersgrenze einführen musste, um den Zeitpunkt zu bezeichnen, in welchem der Anspruch auf Regelaltersrente entsteht.

Der Gesetzgeber hat bereits mit der Überschrift “Regelaltersrente” zu verstehen gegeben, welche Altersrente er als den Regelfall ansieht. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis lässt sich auch aus § 41 Satz 2 SGB VI alte wie neue Fassung herleiten, da dort geregelt ist, dass die Vollendung des 65. Lebensjahres (alte Fassung) bzw. das Erreichen der Regelaltersgrenze (neue Fassung) in bestimmten Konstellationen als vereinbart gilt, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zuvor eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne Kündigung für einen Zeitpunkt vereinbart haben, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen Alters beantragen kann.

2. Soweit der Kläger meint, eine Auslegung des Tarifvertrags nach Sinn und Zweck ergäbe, dass dem Mitarbeiter der Übergang in den Ruhestand dadurch erleichtert werden solle, dass er auch bei unterjährigem Ausscheiden noch den gesamten Jahresurlaub bei vollen Bezügen genießen könne, und diese Interessenlage bei jedem Ausscheiden aus dem Berufsleben gleich sei, verkennt er, dass ein solcher Wille der Tarifvertragsparteien in den tariflichen Regelungen keinen Niederschlag gefunden hat. Ebenso gut ließe sich die These vertreten, Sinn und Zweck von § 16 Ziffer 3 vierter Absatz MTV geböte die gegenteilige Sichtweise, da es darum gehe, die Arbeitnehmer zu privilegieren, die erst mit Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden und hierdurch zu honorieren, dass diese Arbeitnehmer gewissermaßen bis zum Schluss durchgehalten haben und ihre Arbeitsverhältnisse nicht vorzeitig beendet haben, um in den Genuss einer vorgezogenen Altersrente zu gelangen (LAG Baden-Württemberg 08. Juli 2016 – 9 Sa 16/16 – dokumentiert in Juris).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

IV. Die Zulassung der Revision ist nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG veranlasst, da die Manteltarifverträge der Metall- und Elektroindustrie zumindest in Hessen und Rheinland-Pfalz den Begriff des “Erreichens der Altersgrenze” verwenden und diesbezüglich eine höchstrichterliche Klärung bislang nicht herbeigeführt ist.

Schlagworte

Warnhinweis:

Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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