Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 59752/13 und 66277/13, 59752/13, 66277/13 Europäische Menschenrechtskonvention: Erbrechtliche Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder

März 30, 2019

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 59752/13 und 66277/13, 59752/13, 66277/13
Europäische Menschenrechtskonvention: Erbrechtliche Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder
Gründe
Nichtamtliche Übersetzung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz
VERFAHREN
Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 59752/13 und 66277/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei deutsche Staatsangehörige, W. („der erste Beschwerdeführer“) und S. („der zweite Beschwerdeführer“), am 18. September 2013 bzw. 11. Oktober 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatten.
Der erste Beschwerdeführer wurde von Herrn K., Rechtsanwalt in K., und der zweite Beschwerdeführer von Herrn S., Rechtsanwalt in L., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch eine ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
Unter Bezugnahme insbesondere auf Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls machten die nichtehelich geborenen Beschwerdeführer geltend, dass sie durch die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Erbrechts durch die innerstaatlichen Gerichte aufgrund ihrer Geburt diskriminiert worden seien.
Am 26. Mai 2015 wurden die Beschwerden der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
Der erste Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in K., der zweite Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in S.
A. Das Verfahren des ersten Beschwerdeführers vor den Zivilgerichten (Individualbeschwerde Nr. 59752/13)
Der erste Beschwerdeführer ist der leibliche Sohn von Herrn H., der die Vaterschaft einige Monate nach der Geburt anerkannte. Der erste Beschwerdeführer unterhielt eine persönliche Beziehung zu seinem Vater und arbeitete in dessen Betrieb. Der Vater verstarb im Oktober 2007.
Am 6. November 2007 beantragte der Beschwerdeführer einen Erbschein, der ihm bescheinigen sollte, an dem Nachlass zu 100 % erbberechtigt zu sein.
Am 7. November 2007 stellte das Amtsgericht Köln den Erbschein aus, woraufhin der erste Beschwerdeführer den Nachlass in Besitz nahm und über ihn verfügte. Am 10. Dezember 2007 zog das Amtsgericht Köln den Erbschein jedoch wieder ein, wobei es darauf abstellte, dass der erste Beschwerdeführer als nichteheliches Kind kein gesetzlicher Erbe von Herrn H. sei. Der erste Beschwerdeführer legte Beschwerde gegen diese Entscheidung ein, das Landgericht Köln bestätigte sie jedoch am 25. August 2008.
Am 23. Juli 2009 beantragte der erste Beschwerdeführer erneut einen Erbschein und erklärte, zu 100 % erbberechtigt am Nachlass des Herrn H. zu sein, wobei er sich insbesondere auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache B. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 3545/04, 28. Mai 2009) berief.
Mit Beschluss vom 3. November 2009 wies das Amtsgericht Köln den Antrag des ersten Beschwerdeführers mit der Begründung ab, dass das Urteil in der Rechtssache B. (a. a. O.) auf seinen Fall nicht anwendbar sei. Stattdessen erteilte es der Halbschwester des ersten Beschwerdeführers und den Enkeln der verstorbenen Ehefrau Teilerbscheine.
Am 16. November 2009 legte der erste Beschwerdeführer beim Landgericht Köln Beschwerde ein und brachte vor, dass es nach Artikel 6 Abs. 5 GG, dem zufolge nichtehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen zu schaffen seien wie ehelichen Kindern, keinen Grund dafür gebe, ihn anders zu behandeln als eheliche Kinder. Er brachte vor, dass ihm ein Schadenersatzanspruch gegen den deutschen Staat zustehen würde, sollte ihm der Erbschein verwehrt werden.
Mit Beschluss vom 16. Februar 2010 bestätigte das Landgericht Köln den Beschluss des Amtsgerichts mit der Begründung, dass der erste Beschwerdeführer kein gesetzlicher Erbe sei. Das Landgericht bezog sich dabei auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 1976, in der Artikel 12 § 10 Abs. 2 des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (Nichtehelichengesetz, NEhelG) vom 19. August 1969 für verfassungskonform erklärt worden sei. Die in der Rechtssache B. (a. a. O.) entwickelten Grundsätze seien auf die vorliegende Rechtssache nicht anwendbar. Hier müsse der Aspekt des Vertrauensschutzes des Erblassers und anderer Erben berücksichtigt werden. Das Landgericht Köln vertrat auch die Ansicht, eine Auslegung der fraglichen Bestimmung des Nichtehelichengesetzes im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei nicht möglich, da das innerstaatliche Recht eindeutig sei und daher keinen Auslegungsspielraum lasse.
Am 18. März 2010 legte der erste Beschwerdeführer weitere Beschwerde beim Oberlandesgericht Köln ein und brachte vor, die Anwendung von Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG diskriminiere ihn, verletze sein Erbrecht und verstoße somit gegen sein Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz aus Artikel 3 GG und seine Rechte aus Artikel 6 Abs. 5 GG. Der erste Beschwerdeführer hob hervor, dass die Argumentation des Landgerichts das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache B. (a. a. O.) missachte und daher rechtswidrig sei. Der erste Beschwerdeführer trug außerdem vor, er habe bis zum Tod seines Vaters eine enge Beziehung zu diesem unterhalten und sogar in dessen Betrieb gearbeitet. Der Vater des ersten Beschwerdeführers sei davon ausgegangen, dass der erste Beschwerdeführer sein alleiniger Erbe werde.
Mit Beschluss vom 11. Oktober 2010 wies das Oberlandesgericht Köln die weitere Beschwerde des Beschwerdeführers mit der Begründung zurück, dass es an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden sei und dass dieses Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG für verfassungskonform erklärt habe. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache B. (a. a. O.) veranlasse keine andere Beurteilung, da die deutschen Gerichte nicht an die Entscheidungen dieses Gerichtshofs gebunden seien. Das Oberlandesgericht fügte hinzu, die Möglichkeit der Auslegung innerstaatlicher Rechtvorschriften im Lichte der Konvention sei begrenzt, soweit das innerstaatliche Recht eindeutig sei und somit keinerlei Auslegungsspielraum eröffne. Dies sei bei der Vorschrift des Artikels 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG der Fall. Darüber hinaus führte das Oberlandesgericht Köln aus, das vom ersten Beschwerdeführer eingelegte Rechtsmittel sei ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel gewesen. Das Vorbringen des ersten Beschwerdeführers, ein enges Verhältnis zu seinem Vater gehabt zu haben, bei dem es sich um einen Tatsachenvortrag handele, könne daher bei der Entscheidung über das Rechtsmittel nicht berücksichtigt werden, da es erstmalig vor dem Oberlandesgericht geltend gemacht worden sei.
B. Das Verfahren des zweiten Beschwerdeführers vor den Zivilgerichten (Individualbeschwerde Nr. 66277/13)
Der zweite Beschwerdeführer ist der leibliche Sohn von Herrn B. und wurde in der ehemaligen DDR geboren, wo er bis zu seiner Flucht aus dem Land im Jahr 1957 lebte. 1949 war Herr B. vom Amtsgericht Hamburg-Blankenese 1 dazu verurteilt worden, Unterhalt für den Beschwerdeführer zu zahlen. Dieser traf seinen Vater viermal, wurde aber von ihm gebeten, sich aus dem Leben seiner Ehefrau und seiner Tochter herauszuhalten. Der Vater verstarb im Juni 2006; er hatte seine Tochter in seinem Testament als Alleinerbin benannt.
Nachdem das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache B. (a. a. O.) ergangen war, reichte der zweite Beschwerdeführer 2009 eine Pflichtteilsklage beim Landgericht Hamburg ein.
Am 21. Januar 2010 wies das Landgericht Hamburg die Klage des zweiten Beschwerdeführers mit der Begründung ab, dass er nach Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG kein gesetzlicher Erbe sei. Diese Regelung sei verfassungskonform. Das Landgericht bezog sich dabei auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 1976. Es wies darauf hin, dass die Rechtssache B. (a. a. O.) auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, da es keinen regelmäßigen Kontakt zwischen dem zweiten Beschwerdeführer und seinem Vater gegeben habe, der Erblasser eine leibliche Tochter gehabt habe und der Beschwerdeführer nicht einen überwiegenden Teil seines Lebens in der ehemaligen DDR verbracht habe.
Der zweite Beschwerdeführer legte Berufung beim Oberlandesgericht Hamburg ein, wobei er geltend machte, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache B. (a. a. O.) die deutschen Gerichte dazu verpflichte, nichtehelichen Kindern das gleiche Erbrecht einzuräumen wie ehelichen Kindern. Die besonderen Umstände in der Rechtssache B. (a. a. O.), auf die das Landgericht sich bezogen habe, seien keine Voraussetzungen, die für eine Anwendung der in dem Urteil dargelegten Grundsätze erfüllt sein müssten.
Mit Urteil vom 15. Juni 2010 bestätigte das Oberlandesgericht Hamburg die Entscheidung des Landgerichts und folgte dessen Argumentation. Es nahm Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und betonte die Bedeutung des Vertrauensschutzes des Erblassers.
Der zweite Beschwerdeführer legte Revision beim Bundesgerichtshof ein, der mit Urteil vom 26. Oktober 2011 die Argumentation des Oberlandesgerichts Hamburg bestätigte. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs stellt weder die alte noch die geänderte Fassung von Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG eine Diskriminierung der vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kinder dar, da die Ungleichbehandlung auf rechtfertigenden Gründen beruhe. Hinsichtlich des geänderten Artikels 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG sei eine Ausweitung der Rückwirkung der Neuregelung über die vorgenommene hinaus nicht erforderlich, da die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gewahrt werden müssten. Diese Grundsätze wohnten auch der Konvention notwendigerweise inne, was bedeute, dass ein Staat nicht gezwungen sei, Rechtshandlungen und Rechtslagen, die vor der Verkündung einer Gerichtsentscheidung lägen, in Frage zu stellen, auch wenn das Erbrecht nichtehelicher Kinder in den Schutzbereich von Artikel 8 der Konvention falle. Der Bundesgerichtshof merkte weiter an, dass der in Rede stehende Sachverhalt weder unter Artikel 8 noch unter Artikel 14 der Konvention falle.
C. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
Am 18. November 2010 erhob der erste Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er machte geltend, die Anwendung von Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG stelle eine Diskriminierung dar und verstoße daher gegen Artikel 3 und Artikel 6 Abs. 5 GG, da für eine Ungleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder kein Grund vorliege. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in der diese Bestimmung für verfassungskonform erachtet werde, missachte das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache B. (a. a. O.) und sei daher rechtswidrig. Dies führe zu einem Verstoß gegen die Artikel 8 und 14 der Konvention.
Der zweite Beschwerdeführer erhob ebenfalls Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Unter Berufung auf das Urteil in der Rechtssache B. (a. a. O.) rügte er, die Anwendung der Neufassung von Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG diskriminiere ihn gegenüber ehelichen Kindern. Aufgrund dessen seien ihm seine Erbrechte verwehrt worden.
Mit Beschluss vom 18. März 2013 verwarf das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden beider Beschwerdeführer (1 BvR 2436/11 und 3155/11).
Das Bundesverfassungsgericht führte aus, das Urteil in der Rechtssache B. (a. a. O.) habe dazu geführt, dass der deutsche Gesetzgeber am 12. April 2011 das Zweite Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder erlassen habe. Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 des Nichtehelichengesetzes vom 19. August 1969 sei rückwirkend dahingehend geändert worden, dass die Unterscheidung zwischen vor und nach dem 1. Juli 1949 geborenen Kindern für Erbfälle nach dem 28. Mai 2009 nicht mehr bestehe (siehe Rdnr. 37).
Obgleich der Beschwerdeführer erst vor dem Oberlandesgericht Köln erstmalig geltend gemacht habe, er habe in einer engen persönlichen Beziehung zu seinem Vater gestanden, merkte das Bundesverfassungsgericht an, dass dieser Tatsachenvortrag für die von ihm zu beurteilende Frage ohne Belang sei. Es erklärte die Verfassungsbeschwerden beider Beschwerdeführer für zulässig.
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Verfassungskonformität des geänderten Artikels 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG. Es wiederholte, dass die vorliegenden Rechtssachen nur nach Artikel 6 Abs. 5 und nicht nach Artikel 14 GG zu prüfen seien, der das Recht auf Schutz des Eigentums beinhalte. Die Unterscheidung zwischen vor und nach dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kindern sei durch das Zweite Erbrechtsgleichstellungsgesetz vom 12. April 2011 weggefallen. Eine generelle Diskriminierung zwischen vor und nach diesem Datum geborenen Kindern sei nicht mehr gegeben. Der Stichtag in der neuen Vorschrift sei nicht an persönliche Merkmale geknüpft, sondern an ein zufälliges, von außen kommendes Ereignis. Eine Ungleichbehandlung sei daher von geringerer Intensität.
Eine Rückwirkung der Reform sei nicht erforderlich, da die Verfassungskonformität der fraglichen Bestimmung des Nichtehelichengesetzes vom Bundesverfassungsgericht wiederholt bestätigt worden sei. Der Fall B. (a .a. O.) habe nichts an dieser Einschätzung geändert, da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Marckx ./. Belgien (13. Juni 1979, Reihe A Band 31) klargestellt habe, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit, der sowohl dem Konventions- als auch dem Gemeinschaftsrecht notwendigerweise innewohne, einen Staat davon entbinde, Rechtshandlungen oder Rechtslagen, die vor der Verkündung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lagen, in Frage zu stellen.
Das Bundesverfassungsgericht gelangte zu dem Ergebnis, dass die innerstaatlichen Gerichte die maßgebliche Bestimmung in den in Rede stehenden Verfahren im Einklang mit der Verfassung ausgelegt hätten. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache B. (a. a. O.) erfordere keine andere Auslegung, insbesondere da das Vorbringen des ersten Beschwerdeführers, in einer engen persönlichen Beziehung zu seinem Vater gestanden zu haben, zu spät erfolgt sei und der zweite Beschwerdeführer gar keine Beziehung zu seinem Vater geltend gemacht habe.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND VÖLKERRECHT SOWIE DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE UND VÖLKERRECHTLICHE PRAXIS
A. Die einschlägigen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs
Gemäß § 195 BGB beträgt die regelmäßige Verjährungsfrist drei Jahre.
Gemäß § 197 Abs. 1 Nr. 2 BGB verjähren Ansprüche aus den §§ 2018 […], soweit nichts anderes bestimmt ist, in 30 Jahren.
Gemäß § 1922 BGB geht mit dem Tode einer Person deren Vermögen als Ganzes auf einen oder mehrere Erben über.
Gemäß § 2018 BGB kann ein Erbe von jedem, der auf Grund eines ihm in Wirklichkeit nicht zustehenden Erbrechts etwas aus der Erbschaft erlangt hat, die Herausgabe des Erlangten verlangen.
Nach § 2303 BGB kann ein Abkömmling des Erblassers, der durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen ist, von dem Erben den Pflichtteil verlangen (Pflichtteilsanspruch). Der Pflichtteil besteht in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils.
B. Erbrechtliche Bestimmungen
Das Gesetz über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder vom 19. August 1969 (Nichtehelichengesetz, NEhelG), das am 1. Juli 1970 in Kraft trat, bestimmte, dass nach dem 1. Juli 1949 – kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes – geborenen nichtehelichen Kindern beim Ableben des Vaters ein Erbersatzanspruch gegen die Erben in Höhe des Wertes des Erbteils zustehe. Vor dem 1. Juli 1949 geborene nichteheliche Kinder waren dagegen nach Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG vom gesetzlichen Erbrecht und dem Anspruch auf finanzielle Entschädigung ausgeschlossen.
Bei der Verabschiedung des Kinderrechteverbesserungsgesetzes vom 9. April 2002 hielt der Gesetzgeber an der Ausnahme nach Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG ebenfalls fest.
In seinem Urteil vom 28. Mai 2009 in der Rechtssache B. ./. Deutschland (a. a. O.) sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Anwendung des Artikels 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG durch die innerstaatlichen Gerichte eine Verletzung von Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention. Der Gerichtshof stellte darauf ab, dass der Schutz des Vertrauens des Erblassers und seiner Familie dem Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder unterzuordnen sei.
Infolgedessen verabschiedete der deutsche Gesetzgeber das Zweite Erbrechtsgleichstellungsgesetz vom 12. April 2011. Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 des Nichtehelichengesetzes vom 19. August 1969 wurde rückwirkend dahingehend geändert, dass die Ungleichbehandlung von vor und nach dem 1. Juli 1949 geborenen Kindern für Erbfälle aufgehoben wurde, bei denen der Erblasser am oder nach dem 28. Mai 2009 2 verstorben war. In Fällen, in denen der Erblasser vor dem 28. Mai 2009 verstorben war, bestand die Unterscheidung hingegen weiter.
Eine zusammenfassende Darstellung des weiteren einschlägigen innerstaatlichen Rechts und der weiteren einschlägigen innerstaatlichen Praxis ist dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache B. (a. a. O., Rdnrn. 17-24) zu entnehmen.
C. Resolution des Ministerkomitees des Europarats vom 6. Juni 2012
Am 6. Juni 2012 verabschiedete das Ministerkomitee in der Rechtssache B. ./. Deutschland die Resolution CM/ResDH(2012)83 und entschied nach Prüfung der allgemeinen Maßnahmen, die Deutschland unternommen hat, um ähnliche Verletzungen zu verhindern, die Prüfung der Rechtssache einzustellen.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. VERBINDUNG DER BESCHWERDEN
Aufgrund ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds entscheidet der Gerichtshof, die beiden Individualbeschwerden nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu verbinden.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 14 DER KONVENTION IN VERBINDUNG MIT ARTIKEL 1 DES 1. ZUSATZPROTOKOLLS
Die Beschwerdeführer rügten, dass es ihnen als nichtehelichen Kindern nicht möglich gewesen sei, ihr Erbrecht geltend zu machen, und dass sie daher gegenüber ehelichen Kindern diskriminiert worden seien. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass ihre Rüge nach Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zu prüfen ist, die wie folgt lauten:
Artikel 14
„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen […] der Geburt […] zu gewährleisten.“
Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls
„Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.
Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“
Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
1. Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs durch den ersten Beschwerdeführer
Die Regierung brachte vor, der erste Beschwerdeführer habe den innerstaatlichen Rechtsweg im Hinblick auf seine Rüge nicht ausgeschöpft, da er dem Oberlandesgericht Tatsachen hinsichtlich der Beziehung zu seinem Vater und damit hinsichtlich seiner familiären Bindungen im Sinne von Artikel 8 der Konvention zu spät vorgelegt habe. Ein diesbezüglicher Sachvortrag wäre auch im Hinblick auf die Prüfung, ob seine Rechte aus Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls betroffen waren, relevant gewesen.
Der erste Beschwerdeführer trat diesem Vorbringen entgegen.
Im Rahmen der Entscheidung darüber, ob davon ausgegangen werden kann, dass der erste Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft hat, erinnert der Gerichtshof daran, dass der Zweck des Artikels 35 Abs. 1, wonach der innerstaatliche Rechtsweg zu erschöpfen ist, darin besteht, den Vertragsstaaten Gelegenheit zu geben, ihnen vorgeworfene Verstöße – üblicherweise auf gerichtlichem Wege – zu verhindern oder ihnen abzuhelfen, bevor die Konventionsorgane mit ihnen befasst werden (siehe Kudła ./. Polen [GK], Individualbeschwerde Nr. 30210/96, Rdnr. 152, ECHR 2000-XI; und Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ./. die Niederlande, 23. Februar 1995, Rdnr. 48, Serie A Band 306-B). Wurde die dem Gerichtshof vorgelegte Rüge (beispielsweise wegen ungerechtfertigten Eingriffs in das Eigentumsrecht) weder ausdrücklich noch der Sache nach den innerstaatlichen Gerichten vorgelegt, obwohl sie durch Wahrnehmung eines Rechtsbehelfs, der dem Beschwerdeführer zur Verfügung stand, hätte geltend gemacht werden können, so wurde der innerstaatlichen Rechtsordnung die Möglichkeit genommen, sich mit der konventionsrechtlichen Frage auseinanderzusetzen, die ihr durch die Regel der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zugestanden werden soll (siehe Azinas ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 56679/00, Rdnr. 38, ECHR 2004-III).
Im Fall des ersten Beschwerdeführers stellt der Gerichtshof fest, dass er am 23. Juli 2009 zum zweiten Mal einen Erbschein beantragte, wobei er geltend machte, zu 100 % am Nachlass des Herrn H. erbberechtigt zu sein. Er nahm insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache B. (a. a. O.) Bezug. In seiner Beschwerde vom 16. November 2009 brachte er vor, dass es nach Artikel 6 Abs. 5 GG, dem zufolge nichtehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen seien wie ehelichen Kindern, keinen Grund dafür gebe, ihn anders zu behandeln als eheliche Kinder. Sollte ihm der Erbschein verwehrt werden, würde ihm ein Schadenersatzanspruch gegen den deutschen Staat zustehen (siehe Rdnrn. 9 und 11).
Es trifft zu, dass der erste Beschwerdeführer vor dem Amtsgericht und dem Landgericht weder auf Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls noch auf die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes ausdrücklich Bezug genommen hat. Er hat jedoch ausdrücklich vorgetragen, dass er diskriminiert werden würde, sollte ihm der Erbschein aufgrund seiner Stellung als nichteheliches Kind verwehrt werden. Er hat ferner ein Recht am Nachlass seines Vaters geltend gemacht und vorgebracht, dass er einen Schadenersatzanspruch gegenüber Deutschland hätte, sollte ihm der Erbschein verwehrt werden. Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass der erste Beschwerdeführer seine Rüge zumindest der Sache nach vor den innerstaatlichen Gerichten geltend gemacht hat. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht eine inhaltliche Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des ersten Beschwerdeführers getroffen (siehe Rdnrn. 25-28). Folglich sind im Fall des ersten Beschwerdeführers die Erfordernisse aus Artikel 35 Abs. 1 der Konvention hinsichtlich der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs als erfüllt anzusehen.
Daher ist die Einwendung der Regierung wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen.
2. Anwendbarkeit von Artikel 14 der Konvention
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt Artikel 14 der Konvention eine Ergänzung der übrigen materiellrechtlichen Bestimmungen der Konvention und der Protokolle dar. Er existiert nicht für sich allein, da er nur in Bezug auf den „Genuss der Rechte und Freiheiten“, die durch diese Bestimmungen geschützt sind, Wirkung entfaltet. Obgleich die Anwendung von Artikel 14 eine Verletzung dieser Bestimmungen nicht voraussetzt und er insoweit autonom ist, kann es Raum für seine Anwendung nur geben, wenn der in Frage stehende Sachverhalt unter eine oder mehrere dieser Bestimmungen fällt (siehe u. v. a. Fabris ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 16574/08, Rdnr. 47, ECHR 2013 (Auszüge); B., a. a. O., Rdnr. 28).
Der Gerichtshof muss daher prüfen, ob die Sachverhalte der vorliegenden Rechtssachen in den Anwendungsbereich von Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention fallen.
Im Hinblick auf die allgemeinen Grundsätze, die der Gerichtshof diesbezüglich festgelegt hat (siehe, mit weiteren Verweisen, Fabris, a. a. O., Rdnrn. 49-51), wiederholt der Gerichtshof insbesondere, dass in Fällen, die eine Rüge nach Artikel 14 i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls betreffen, der zufolge einem Beschwerdeführer wegen eines unter Artikel 14 fallenden diskriminierenden Grundes ein bestimmter Vermögensgegenstand vollständig oder teilweise verwehrt wurde, das maßgebliche Prüfkriterium in der Frage besteht, ob er einen nach innerstaatlichem Recht durchsetzbaren Anspruch auf den betreffenden Vermögensgegenstand gehabt hätte, wenn der von ihm gerügte diskriminierende Grund nicht vorgelegen hätte (siehe Fabris, a. a. O., Rdnr. 52). Dieses Prüfkriterium ist in der vorliegenden Rechtssache erfüllt. Den Beschwerdeführern wurde das Erbrecht am Nachlass ihrer Väter allein aufgrund ihrer Stellung als nichteheliche Kinder verwehrt.
Folglich fallen die vermögensrechtlichen Interessen der Beschwerdeführer in den Anwendungsbereich von Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention und des von diesem geschützten Rechts auf Achtung ihres Eigentums. Dies reicht aus, damit Artikel 14 der Konvention anwendbar ist.
3. Schlussfolgerung
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerden nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet sind. Sie sind auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich sind sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
Der erste Beschwerdeführer brachte vor, das Zweite Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder vom 12. April 2011 habe die ungerechtfertigte Diskriminierung gegen ihn nicht verhindern können, da es die Unterscheidung zwischen vor und nach dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kindern lediglich in denjenigen Fällen aufgehoben habe, in denen der Vater nach dem 28. Mai 2009 gestorben sei. In Fällen, in denen der Vater vor dem 28. Mai 2009 verstorben sei, habe die Unterscheidung weiterbestanden. Angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei das möglicherweise bestehende Vertrauen der Erblasser und ihrer Familien dem Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder unterzuordnen.
Nach Ansicht des zweiten Beschwerdeführers hat die Anwendung des Zweiten Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder vom 12. April 2011 ihn diskriminiert, da es kein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Ziel hergestellt habe. Hätte der deutsche Gesetzgeber in Fällen, in denen der Vater vor dem 28. Mai 2009 gestorben war, am Ausschluss vor dem Stichtag 1. Juli 1949 geborener nichtehelicher Kindern von gesetzlichen Erbansprüchen festhalten wollen, hätten Entschädigungsansprüche gegenüber den Erben vorgesehen werden sollen, um das Gesetz mit der Konvention in Einklang zu bringen.
Die Regierung trug hingegen vor, dass für die Ungleichbehandlung, die nach Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder vom 12. April 2011 fortbestanden habe, eine objektive und vernünftige Rechtfertigung vorgelegen habe. Sie sei durch die überwiegenden Belange des Vertrauensschutzes derjenigen Personen gerechtfertigt gewesen, die bereits Rechte aus einem Erbfall erlangt hätten, welche wiederum von Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention geschützt würden. Durch die Rückwirkung der Gesetzesänderung auf den Tag des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache B. (a. a. O.) sei ein verhältnismäßiger Ausgleich zwischen den Interessen der von dieser Gesetzesänderung betroffenen Abkömmlinge und den Interessen nichtehelicher Kinder hergestellt worden. Die Tatsache, dass Erben den Nachlass nach innerstaatlichem Recht mit Ableben des Erblassers erlangen, ohne dass es dazu weiterer rechtlicher Schritte bedürfte, mache eine weiter reichende Reform dieser Gesetzesbestimmung unmöglich. Darüber hinaus würde es in Erbfällen, in denen der Nachlass bereits zwischen den Erben verteilt worden sei, zu rechtlichen und praktischen Problemen kommen. Eine weitere Rückwirkung des Gesetzes aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sei daher nicht erforderlich gewesen, insbesondere angesichts des Grundsatzes der Rechtssicherheit und der zugrunde liegenden Grundsätze, die der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Marckx (a. a. O.) festgelegt habe.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Allgemeine Grundsätze
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 14 im Hinblick auf den Genuss der nach der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten Schutz vor Ungleichbehandlung von Menschen in vergleichbaren Situationen bietet, wenn dafür keine objektive und vernünftige Rechtfertigung geliefert wird. Im Sinne von Artikel 14 ist eine Ungleichbehandlung diskriminierend, wenn es für sie „keine objektive und vernünftige Rechtfertigung“ gibt, d. h. wenn mit ihr kein „legitimes Ziel“ verfolgt wird oder „die eingesetzten Mittel zum angestrebten Ziel nicht in einem angemessenen Verhältnis stehen“ (siehe Fabris, a. a. O., Rdnr. 56; und Mazurek ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 34406/07, Rdnrn. 46 und 48, ECHR 2000-II).
Der Gerichtshof ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten des Europarats der Frage der zivilrechtlichen Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder eine hohe Bedeutung beimessen. Daher müssten sehr schwerwiegende Gründe vorgetragen werden, ehe eine Ungleichbehandlung aufgrund nichtehelicher Geburt als mit der Konvention vereinbar angesehen werden könnte (siehe, mit weiteren Verweisen, Fabris, a. a. O., Rdnr. 59).
Deshalb weist der Gerichtshof im Hinblick auf die Frage, ob das eingesetzte Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel stand, erneut darauf hin, dass der Gesichtspunkt des Schutzes des „Vertrauens“ der Erblasser und ihrer Familien dem Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder unterzuordnen ist (siehe Fabris, Rdnr. 68; und B., Rdnr. 43, beide a. a. O.).
Allerdings erkennt der Gerichtshof auch an, dass der Schutz von erlangten Rechten dem Interesse der Rechtssicherheit dienen kann, die Teil des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und damit ein der Konvention zugrunde liegender Wert ist (siehe Fabris, a. a. O., Rdnr. 66; Nejdet Şahin und Perihan Şahin ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 13279/05, Rdnrn. 56-57, 20. Oktober 2011; und Brumărescu ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 28342/95, Rdnr. 61, ECHR 1999-VII).
Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten das Recht, Übergangsregelungen zu schaffen, wenn sie eine Gesetzesreform erlassen, um ihren Verpflichtungen aus Artikel 46 Abs. 1 der Konvention gerecht zu werden (siehe z. B. Fabris, a. a. O., Rdnr. 74; und P.B. und J.S. ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 18984/02, Rdnr. 49, 22. Juli 2010).
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist zu entscheiden, welche Auslegung des innerstaatlichen Rechts die zutreffendste ist, sondern festzustellen, ob durch die Art der Anwendung dieses Rechts die von Artikel 14 der Konvention gewährten Rechte eines Beschwerdeführers verletzt wurden (siehe Fabris, a. a. O., Rdnr. 63). In der vorliegenden Rechtssache hat er demnach festzustellen, ob die Anwendung einer starren Stichtagsregelung ein angemessenes Verhältnis zwischen dem eingesetzten Mittel und dem angestrebten Ziel hergestellt hat oder ob sie eine ungerechtfertigte Diskriminierung von nichtehelichen Kindern dargestellt hat. In diesem Zusammenhang haben die innerstaatlichen Behörden einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen betroffenen Interessen, nämlich den Interessen der Familie des Erblassers einerseits und denen der nichtehelichen Kinder andererseits, herzustellen, wobei hierbei die Frage zu berücksichtigen ist, ob die Entscheidung mit der innerstaatlichen verfassungsmäßigen Ordnung und dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar wäre (siehe sinngemäß Fabris, a. a. O., Rdnr. 75).
Unter den besonderen Umständen der Rechtssache Fabris (a. a. O., Rdnr. 68) hat der Gerichtshof im Hinblick auf den Ausgleich der verschiedenen betroffenen Interessen berücksichtigt, ob die betroffenen Personen von der Existenz eines nichtehelichen Kindes, das einen Anspruch auf einen Teil des Nachlasses haben könnte, Kenntnis hatten oder hätten haben müssen und ob die gesetzliche Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen war, was zur Folge gehabt hätte, dass die erbrechtlichen Ansprüche der Erben nach innerstaatlichem Recht noch anfechtbar waren. Der Gerichtshof hat es in diesem Fall auch für wichtig erachtet, dass die Klage des Beschwerdeführers vor den innerstaatlichen Gerichten anhängig war, als das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Mazurek (a. a. O.) erging.
Der Gerichtshof kann deshalb anerkennen, dass es in Fällen, in denen die erbrechtlichen Ansprüche der Familie des Erblassers Rechtskraft erlangt haben und nach innerstaatlichem Recht nicht mehr geändert werden können, nicht erforderlich ist, eine rechtskräftige Entscheidung im Lichte eines nach diesen Entscheidungen ergangenen Urteils des Gerichtshofs aufzuheben (vgl. sinngemäß Marckx, a. a. O., Rdnr. 58). Können die erbrechtlichen Ansprüche der Familie des Erblassers hingegen nach innerstaatlichem Recht noch angefochten werden und sind die zu schützenden Rechtspositionen damit nur „relativ“, so sollten die Rechte nichtehelicher Kinder genauso durchsetzbar sein wie die Rechte anderer Beteiligter.
Daher ist der Gerichtshof in Fällen wie dem vorliegenden, bei denen ein Ausgleich zwischen den von der Konvention geschützten Rechten verschiedener Personen hergestellt werden muss, der Auffassung, dass der Ausgang des Beschwerdeverfahrens theoretisch nicht davon abhängen sollte, ob die Beschwerde beim Gerichtshof von dem nichtehelichen Kind eingereicht wurde, dem nach innerstaatlichem Recht die erbrechtlichen Ansprüche genommen sind, oder von einem anderen Erben, dem angeblich bereits erlangte Rechte genommen wurden (vgl. H. ./. Deutschland (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, Rdnr. 106, ECHR 2012).
b) Anwendung im vorliegenden Fall
ii) Gab es eine Ungleichbehandlung aufgrund nichtehelicher Geburt?
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Regierung nicht bestritten hat, dass die Anwendung der geänderten Fassung von Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG zu einer Ungleichbehandlung eines vor dem Stichtag 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kindes, dessen Vater vor dem 28. Mai 2009 verstorben war, gegenüber anderen Kindern geführt hat.
Daher ist festzustellen, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt war.
ii) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung
α) Verfolgung eines legitimen Ziels
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass Deutschland nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache B., a. a. O., seine Rechtsvorschriften geändert und zwei Jahre nach Erlass des Urteils – wie in der Resolution des Ministerkomitees des Europarats vom 6. Juni 2012 bestätigt (siehe Rdnr. 39) – unter Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur maßgeblichen Zeit seine erbrechtlichen Vorschriften reformiert hat (siehe Rdnr. 37). Der Gerichtshof begrüßt diese Maßnahme, mit der das deutsche Recht mit dem Nichtdiskriminierungsgrundsatz aus der Konvention in Einklang gebracht werden sollte. Er nimmt auch das Datum zur Kenntnis, an dem das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung (siehe Rdnr. 23) erlassen hat, nämlich der 18. März 2013, was zeitlich mit dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Fabris (a. a. O.) zusammenfiel. Er stellt fest, dass das Bundesverfassungsgericht noch die Rechtsprechung zugrunde gelegt hatte, die der Gerichtshof vor dem Erlass des Urteils der Großen Kammer in der Rechtssache Fabris (Rdnrn. 24-28) angewandt hatte.
Der Gerichtshof ist ferner der Auffassung, dass es sich bei den durch die Beibehaltung der Ungleichbehandlung von vor und nach dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kindern verfolgten Zielen in Fällen, in denen der Vater vor dem 28. Mai 2009 gestorben war, um legitime Zielt handelt, nämlich die Gewährleistung von Rechtssicherheit und den Schutz des Testaments des Erblassers sowie der Rechte seiner Familie (vgl. B., a. a. O., Rdnr. 41).
β) Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel gegenüber dem verfolgten Ziel
Der Gerichtshof nimmt das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach eine weiter reichende Rückwirkung als die durch das Zweite Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder in Erbfällen, in denen der Nachlass bereits zwischen den Erben verteilt worden sei, rechtliche und praktische Probleme verursachen würde. Nach dem deutschen Erbrecht erlangen Erben gemäß § 1922 BGB mit dem Tode des Erblassers gesetzliche Rechte auf einen Anteil am Nachlass (siehe Rdnr. 31).
In der vorliegenden Rechtssache hat Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 des Nichtehelichengesetzes, das in seiner ursprünglichen Fassung am 19. August 1969 verabschiedet wurde, die Unterscheidung zwischen vor und nach dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kindern für Erbfälle am oder nach dem 28. Mai 2009 (siehe Rdnr. 37) aufgehoben. Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang die Begründung des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis, wonach im Lichte der Rechtssache B. (a. a. O.) eine weiter reichende Rückwirkung den Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt hätte, der sowohl dem Konventions- als auch dem Gemeinschaftsrecht notwendigerweise innewohne (siehe Rdnr. 27). Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass das Bundesverfassungsgericht die Rechte der Beschwerdeführer gegenüber einem der Konvention zugrunde liegenden Wert abgewogen hat (vgl. Rdnr. 62). Darüber hinaus hält es der Gerichtshof für zutreffend, dass die Einführung eines Stichtags hinsichtlich der Anwendbarkeit einer neuen Vorschrift, mit der frühere Ungerechtigkeiten aufgehoben werden, wie vom Bundesverfassungsgericht ausgeführt (siehe Rdnr. 26) an sich nicht diskriminierend ist und dass es sich dabei um ein geeignetes Mittel handelt, um Klarheit zu schaffen und Rechtssicherheit zu wahren.
Dennoch gilt es nun im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und ehelicher Kinder (siehe Fabris, Rdnr. 68; und B., Rdnr. 43, beide a. a. O.) zu klären, ob durch die strenge Anwendung der Stichtagsregelung durch die innerstaatlichen Behörden unter den besonderen Umständen der vorliegenden Fälle ein gerechter Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen hergestellt wurde (siehe Rdnr. 62). In diesem Zusammenhang hält der Gerichtshof die Berücksichtigung folgender Faktoren für maßgeblich: der Kenntnisstand der betroffenen Personen, der Status der betroffenen erbrechtlichen Ansprüche und die bis zur Geltendmachung der Rügen vergangene Zeit.
Im Hinblick auf den ersten Beschwerdeführer stellt der Gerichtshof fest, dass es sich bei ihm nicht um einen den später benannten Erben unbekannten Abkömmling handelte. Vielmehr hatte ihm das erstinstanzliche Gericht zunächst einen Erbschein ausgestellt, der später wegen seiner nichtehelichen Geburt wieder eingezogen wurde (siehe Rdnr. 9). Der Gerichtshof hält dies für einen hinreichenden Beleg dafür, dass die Stellung der späteren Erben hinsichtlich ihrer Ansprüche auf den Nachlass des Erblassers bekanntermaßen strittig war. Hierfür spricht auch, dass die späteren Erben zunächst nicht selbst einen Erbschein beantragten, sondern erst als Erben benannt wurden, nachdem der erste Beschwerdeführer erneut einen Erbschein beantragt hatte. Darüber hinaus ist im Fall des ersten Beschwerdeführers zu berücksichtigen, dass dieser für einen gewissen Zeitraum bereits im Besitz des Nachlasses war (vgl. Rdnr. 8).
Im Hinblick auf den zweiten Beschwerdeführer stellt der Gerichtshof fest, dass das Amtsgericht Hamburg-Blankenese 3 seinen Vater 1949 zu Unterhaltszahlungen für ihn verurteilt hatte (siehe Rdnr. 15). Darüber hinaus traf der zweite Beschwerdeführer seinen Vater bis zu dessen Tod viermal. Da der Vater ihn gebeten hatte, sich von seiner Familie fernzuhalten (siehe Rdnr. 15), erkennt der Gerichtshof an, dass die Halbschwester des zweiten Beschwerdeführers nichts von dessen Existenz gewusst haben könnte. Der Erblasser hatte seine Tochter in seinem Testament als Alleinerbin benannt und dadurch seine und ihre Interessen in einer vom innerstaatlichen Recht vorgesehen Art und Weise wahrgenommen.
Im Hinblick auf die Frage, ob die rechtliche Stellung der Erben in den beiden vorliegenden Fällen nach dem innerstaatlichen Recht noch anfechtbar war, stellt der Gerichtshof fest, dass es in beiden Fällen nach innerstaatlichem Recht eine gesetzliche Frist für die Geltendmachung von Ansprüchen gab, die noch nicht abgelaufen war (siehe Rdnrn. 29 und 30). Die rechtmäßigen Erben hätten daher wissen müssen, dass der Erbfall das Recht anderer Erben auf einen gesetzlichen Erbteil oder auf Geltendmachung eines Pflichtteilsanspruchs nicht ausschloss, auch wenn der Nachlass bereits auf sie übergegangen war, und dass durch die Geltendmachung eines solchen Anspruchs die Rechte am Nachlass insgesamt oder der Umfang der Rechte eines jeden Abkömmlings in Frage gestellt werden konnten (vgl. Fabris, a. a. O., Rdnr. 68). Folglich war ihr Vertrauen in dem Zeitraum bis zur Verjährung der Ansprüche auf einen gesetzlichen Erbteil oder einen Pflichtteil am Nachlass des Erblassers jedenfalls bestenfalls relativ.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführer unmittelbar nach Erlass des Urteils in der Rechtssache Brauer (a. a. O.; vgl. Fabris, a. a. O., Rdnr. 68) Klagen vor den innerstaatlichen Gerichten erhoben hatten. Die verstrichene Zeit ist demnach kein Gesichtspunkt, den man ihnen entgegenhalten könnte.
Obgleich die Familienangehörigen des Erblassers im Fall des zweiten Beschwerdeführers möglicherweise nichts von der Existenz eines weiteren potentiellen Erben wussten, sprechen schlussendlich alle anderen Faktoren der Verhältnismäßigkeitsprüfung stark für die Beschwerdeführer. Die einzigen Faktoren, die zu einem Ausschluss der Beschwerdeführer von gesetzlichen Erbteilsansprüchen auf die Nachlässe ihrer Väter führten, waren erstens ihre nichteheliche Geburt vor dem 1. Juli 1949 und zweitens das Versterben ihrer Väter vor dem 28. Mai 2009. Angesichts der enormen Bedeutung der Beseitigung aller Unterschiede bei der Behandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder waren die auf Rechtssicherheit abstellenden Argumente der innerstaatlichen Gerichte – auch wenn es sich dabei um einen gewichtigen Faktor handelt – nicht ausreichend, um die Ansprüche der Beschwerdeführer auf einen Anteil am Nachlass ihrer Väter unter den konkreten Umständen zu überwiegen.
Der neu eingeführte Stichtag 28. Mai 2009 hatte keine Auswirkungen auf die rechtliche Stellung der Beschwerdeführer gegenüber den Rechten anderer Erben hinsichtlich eines gesetzlichen Erbteilanspruchs. Der Grund für den Ausschluss der Beschwerdeführer von jeglichen Erbansprüchen ist nach wie vor gerade die Ungleichbehandlung aufgrund ihrer Stellung als nichteheliche Kinder. Der Gerichtshof hat eine solche Ungleichbehandlung bereits als Verstoß gegen die Garantien des Artikels 14 der Konvention gewertet.
Letztlich berücksichtigt der Gerichtshof, dass die Anwendung von Artikel 12 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG in der geänderten Fassung die Beschwerdeführer ohne Gewährung einer finanziellen Entschädigung von einer gesetzlichen Beteiligung am Nachlass ausschloss, wie es bereits die frühere Fassung, die als Verstoß gegen die Konvention gewertet worden war, getan hatte (siehe B., a. a. O., Rdnr. 44).
Die vorstehenden Ausführungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass die eingesetzten Mittel zum verfolgten Ziel nicht in einem angemessenen Verhältnis standen.
Daher liegt ein Verstoß gegen Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls vor.
III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 14 IN VERBINDUNG MIT ARTIKEL 8 DER KONVENTION
Unter Berufung auf die gleichen Gründe wie im Zusammenhang mit dem Recht auf Achtung ihres Eigentums rügten die Beschwerdeführer eine ungerechtfertigte Diskriminierung, die ihr in Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 8 garantiertes Recht auf Achtung ihres Familienlebens verletze.
Unter Berücksichtigung der Sachverhalte, der Vorbringen der Parteien und seiner Feststellungen nach Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls ist der Gerichtshof jedoch der Auffassung, dass er die wesentlichen in den zwei vorliegenden Individualbeschwerden aufgeworfenen Rechtsfragen geprüft hat und es nicht erforderlich ist, zu den übrigen Rügen der Beschwerdeführer ein gesondertes Urteil zu erlassen (vgl. Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 47848/08, Rdnr. 156, ECHR 2014).
IV. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Der erste Beschwerdeführer
1. Schaden
Der erste Beschwerdeführer forderte 25.000 Euro für materiellen Schaden, da er diesen Betrag aufgrund zweier gerichtlicher Vergleiche zur Abgeltung von erbrechtlichen Klageforderungen gegen ihn habe zahlen müssen. Er machte keinen immateriellen Schaden geltend.
Die Regierung trat dieser Forderung entgegen. Sie brachte vor, dass der erste Beschwerdeführer die Vergleiche freiwillig abgeschlossen habe und die Regierung die Forderung für materiellen Schaden daher nicht zu zahlen habe.
as die Forderung des ersten Beschwerdeführers in Bezug auf den materiellen Schaden angeht, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegt, dass ein eindeutiger Kausalzusammenhang zwischen dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten materiellen Schaden und der festgestellten Konventionsverletzung bestehen muss (siehe u. a. Stretch ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 44277/98, Rdnr. 47, 24. Juni 2003). Der Gerichtshof kann keinen Kausalzusammenhang zwischen dem festgestellten Verstoß und dem vom ersten Beschwerdeführer angeblich erlittenen materiellen Schaden erkennen und weist diese Forderung daher zurück.
Da der erste Beschwerdeführer keinen immateriellen Schaden geltend gemacht hat, spricht der Gerichtshof unter dieser Rubrik keinen Betrag zu.
2. Kosten und Auslagen
Der erste Beschwerdeführer forderte 28.676,62 Euro für die in dem innerstaatlichen Verfahren entstandenen Kosten und für die Kosten der Rechtsvertretung. Dieser Betrag umfasste 13.193,16 Euro für die im ersten Verfahren 2007 hinsichtlich des Erbscheins entstandenen Kosten, 3.137,80 Euro für die hinsichtlich der zweiten Beantragung eines Erbscheins entstandenen Kosten, 6.348,06 Euro für die in dem Verfahren, das seine Halbschwester vor dem Landgericht gegen ihn angestrengt hatte, entstandenen Kosten, einen Nettobetrag in Höhe von 2.403,80 Euro für die im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Anwaltskosten und 3.593,80 Euro für die vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten. Der Beschwerdeführer legte Abschriften der Rechnungen seiner Rechtsanwälte und der innerstaatlichen Gerichte vor.
Die Regierung trug vor, dass sich die gesetzliche Vergütung bei Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auf ca. 500 Euro und vor dem Gerichtshof auf ca. 600 Euro belaufen würde.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind.
Im Fall des ersten Beschwerdeführers hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, 5.000 Euro zur Deckung der in den innerstaatlichen Verfahren und vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten und Auslagen zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.
3. Verzugszinsen
Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
B. Der zweite Beschwerdeführer
Der zweite Beschwerdeführer verlangte 50.000 Euro für materiellen Schaden, welcher dem Mindestwert des Nachlasses entspreche, der ihm als gesetzlichem Erben zugestanden hätte. Er legte einen Kostenfestsetzungsbeschluss des Oberlandesgerichts Hamburg vor, aus dem hervorgehe, dass der Nachlasswert den Vorbringen beider Verfahrensbeteiligten zufolge mindestens 200.000 Euro betrug, wovon der zweite Beschwerdeführer ein Viertel forderte. Er verlangte überdies 15.000 Euro für immateriellen Schaden.
Die Regierung trug vor, dass die Behauptung des zweiten Beschwerdeführers, wonach der Mindestwert seines Erbes als gesetzlicher Erbe 50.000 Euro betragen hätte, nicht durch Beweismittel gestützt sei. Sie trat ferner seiner Behauptung entgegen, einen immateriellen Schaden erlitten zu haben.
Der zweite Beschwerdeführer forderte 42.409,51 Euro für die in dem innerstaatlichen Verfahren entstandenen Kosten und für die Kosten für die Rechtsvertretung. Dieser Betrag umfasste 9.916,04 Euro für die in dem Verfahren vor dem Landgericht entstandenen Anwaltskosten und Gerichtsgebühren, 5.867,66 Euro für die in dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht entstandenen Anwaltskosten und Gerichtsgebühren, 17.901,46 Euro für die in dem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof entstandenen Anwaltskosten und Gerichtsgebühren, einen Nettobetrag in Höhe von 2.020,00 Euro für die in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Anwaltskosten, einen Nettobetrag in Höhe von 3.520,00 Euro für die in dem Verfahren vor dem Gerichtshof entstandenen Anwaltskosten und 3.284,35 Euro für Übersetzungskosten. Der Beschwerdeführer legte ebenfalls Abschriften der Rechnungen seines Rechtsanwalts und der Gerichte vor.
Die Regierung trug vor, dass sich die gesetzliche Vergütung bei Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auf ca. 500 Euro und vor dem Gerichtshof auf ca. 600 Euro belaufen würde.
Im Hinblick auf den zweiten Beschwerdeführer ist der Gerichtshof unter den Umständen des Falles der Auffassung, dass die Frage der Anwendung von Artikel 41 der Konvention noch nicht entscheidungsreif ist. Daher muss ihre Beurteilung zurückgestellt werden und das weitere Verfahren die Möglichkeit einer Einigung zwischen dem beschwerdegegnerischen Staat und dem Beschwerdeführer gebührend berücksichtigen (Artikel 75 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs). Der Gerichtshof räumt den Parteien eine Frist von drei Monaten, nachdem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig geworden ist, ein, um ihre schriftlichen Stellungnahme zu der Angelegenheit zu unterbreiten und insbesondere, ihn von jeder Einigung, die sie möglicherweise erzielen, zu unterrichten.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerden werden verbunden;
2. die Rügen der Beschwerdeführer nach Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention werden für zulässig erklärt;
3. Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention ist im Hinblick auf beide Beschwerdeführer verletzt worden;
4. es ist nicht erforderlich, zu der Rüge der Beschwerdeführer nach Artikel 14 der Konvention i. V. m. mit Artikel 8 ein gesondertes Urteil zu erlassen;
5. a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem ersten Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, 5.000 Euro (fünftausend Euro), zuzüglich der dem ersten Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuer, als Entschädigung für die Kosten und Auslagen zu zahlen;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
6. im Übrigen wird die Forderung des ersten Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
7. Im Hinblick auf den zweiten Beschwerdeführer ist die Frage der Anwendung von Artikel 41 nicht entscheidungsreif;
folglich
a) behält der Gerichtshof sich die Beurteilung dieser Frage ganz vor;
b) fordert er die Regierung und den zweiten Beschwerdeführer auf, ihm innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig geworden ist, schriftlich ihre Stellungnahmen zu der Angelegenheit zu unterbreiten und insbesondere, ihn von jeder Einigung, die sie möglicherweise erzielen, zu unterrichten;
c) behält er sich das weitere Verfahren vor und überträgt dem Kammerpräsidenten die Befugnis, es ggf. zu bestimmen.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 23. März 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Milan Blaško Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident

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Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

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Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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