Wie unterscheidet sich die Auslegung eines Vertrages von der Auslegung einer einzelnen Willenserklärung?
Von RA und Notar Krau
Die Auslegung von Verträgen und Willenserklärungen spielt im Rechtsverkehr eine zentrale Rolle, da häufig Unklarheiten über den Inhalt und die Bedeutung von Erklärungen bestehen.
Obwohl beide Auslegungsarten auf den §§ 133, 157 BGB basieren, gibt es einige wichtige Unterschiede.
Gemeinsamkeiten:
- Ziel der Auslegung: Sowohl bei der Vertragsauslegung als auch bei der Auslegung von Willenserklärungen ist das Ziel, den wahren Willen der Erklärenden zu ermitteln. Es geht darum, herauszufinden, was die Parteien oder der Erklärende tatsächlich gemeint haben.
- Objektiver Empfängerhorizont: Bei der Auslegung wird nicht auf den subjektiven Willen des Erklärenden abgestellt, sondern auf den objektiven Empfängerhorizont. Es kommt also darauf an, wie ein verständiger Empfänger die Erklärung unter Berücksichtigung aller Umstände verstehen durfte.
- Auslegungsgrundsätze: Sowohl bei der Vertragsauslegung als auch bei der Auslegung von Willenserklärungen sind die allgemeinen Auslegungsgrundsätze zu beachten. Dazu gehören insbesondere:
- Wortlaut: Der Wortlaut der Erklärung ist der Ausgangspunkt der Auslegung.
- Systematik: Die Erklärung ist im Zusammenhang mit anderen Erklärungen und Regelungen zu sehen.
- Zweck: Der Zweck der Erklärung ist zu berücksichtigen.
- Treu und Glauben: Die Erklärung ist nach Treu und Glauben auszulegen.
- Verkehrssitte: Die Verkehrssitte ist zu berücksichtigen.
Wie unterscheidet sich die Auslegung eines Vertrages von der Auslegung einer einzelnen Willenserklärung?
Unterschiede:
Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es einige wichtige Unterschiede zwischen der Auslegung eines Vertrages und der Auslegung einer einzelnen Willenserklärung:
- Parteienperspektive: Bei der Vertragsauslegung ist der gemeinsame Wille beider Vertragsparteien zu ermitteln. Es geht darum, den Vertrag so auszulegen, wie ihn beide Parteien bei Vertragsschluss verstanden haben oder hätten verstehen müssen. Bei der Auslegung einer Willenserklärung hingegen ist der Wille des Erklärenden maßgeblich.
- Vertragszweck: Bei der Vertragsauslegung spielt der Vertragszweck eine besondere Rolle. Der Vertrag ist so auszulegen, dass der mit ihm verfolgte Zweck erreicht wird. Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der Zweck zwar auch zu berücksichtigen, er steht aber nicht so stark im Vordergrund.
- Umstände des Vertragsschlusses: Bei der Vertragsauslegung sind die Umstände des Vertragsschlusses in stärkerem Maße zu berücksichtigen als bei der Auslegung einer einzelnen Willenserklärung. Dazu gehören beispielsweise die Verhandlungen der Parteien, frühere Vereinbarungen und die allgemeine Geschäftspraxis.
- Auslegungsmittel: Bei der Vertragsauslegung können weitere Auslegungsmittel herangezogen werden, die bei der Auslegung einer einzelnen Willenserklärung nicht zur Verfügung stehen. Dazu gehören beispielsweise die Vertragsüberschrift, die Präambel und die Anlagen zum Vertrag.
- Ergänzende Vertragsauslegung: Im Vertragsrecht kommt die ergänzende Vertragsauslegung hinzu. Hier geht es darum, Lücken im Vertrag zu füllen, die die Parteien nicht bedacht haben. Dies geschieht durch die Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens: Was hätten die Parteien vereinbart, wenn sie den Punkt bedacht hätten? Die ergänzende Vertragsauslegung findet bei einzelnen Willenserklärungen keine Anwendung.
- Gesetzliche Regelungen: Für die Auslegung von Verträgen gibt es spezielle gesetzliche Regelungen, die bei der Auslegung von einzelnen Willenserklärungen nicht gelten. Dazu gehören beispielsweise die §§ 133, 157 BGB, die die Auslegung von Verträgen nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte vorschreiben.
Wie unterscheidet sich die Auslegung eines Vertrages von der Auslegung einer einzelnen Willenserklärung?
Beispiel:
- Vertrag: Ein Kaufvertrag über ein „Fahrrad“ kann unterschiedlich ausgelegt werden, je nachdem, ob die Parteien ein Rennrad, ein Mountainbike oder ein Citybike im Sinn hatten. Die Auslegung des Vertrages muss den gemeinsamen Willen der Parteien ermitteln.
- Willenserklärung: Die Aussage „Ich möchte ein Fahrrad kaufen“ ist eine einzelne Willenserklärung. Hier ist der Wille des Erklärenden maßgeblich. Es kommt darauf an, welche Art von Fahrrad er kaufen möchte.
Fazit:
Die Auslegung von Verträgen und Willenserklärungen ist ein komplexer Prozess, der sich an den §§ 133, 157 BGB orientiert.
Obwohl es Gemeinsamkeiten gibt, unterscheiden sich beide Auslegungsarten in einigen wichtigen Punkten.
Bei der Vertragsauslegung ist der gemeinsame Wille beider Parteien maßgeblich, während bei der Auslegung einer Willenserklärung der Wille des Erklärenden im Vordergrund steht.