BFH III R 40/22 – Kindergeld im Vereinigten Königreich vor dem Brexit

Februar 4, 2024

BFH III R 40/22 – Kindergeld im Vereinigten Königreich vor dem Brexit – Urteil vom 30. November 2023,
Koordinierungsverfahren

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 29. März 2021, Az: 7 K 7307/16

Zusammenfassung von RA und Notar Krau:

Das Bundesfinanzhof (BFH) hat in einem Urteil vom 30. November 2023 (BFH III R 40/22) entschieden, dass bei der Feststellung eines Anspruchs auf Kindergeld im Vereinigten Königreich vor dem Brexit das Koordinierungsverfahren Vorrang hat.

Die Entscheidung der zuständigen ausländischen Stelle über das Bestehen eines solchen Anspruchs ist bindend.

Das Gericht hob ein Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. März 2021 auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück.

Es muss festgestellt werden, ob Ansprüche auf britische Familienleistungen bestehen und ob diese den Kindergeldanspruch nach deutschem Recht ausschließen können.

Die Entscheidung betraf eine Klägerin, die mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Deutschland lebte, während ihr Ehemann im Vereinigten Königreich arbeitete und möglicherweise Anspruch auf “Child Benefit” hatte.

Inhaltsverzeichnis:

I. Einführung

A. Hintergrund

B. Verfahrensverlauf

C. Zusammenfassung der Entscheidung

II. Tatbestand

A. Streitgegenstand

B. Die Klägerin und ihr Ehemann

C. Die Entwicklung des Streitfalls

III. Entscheidungsgründe

A. Anwendbarkeit der Verordnung (EG) Nr. 883/2004

B. Anwendung von Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004

C. Notwendigkeit des Koordinierungsverfahrens

D. Bindungswirkung ausländischer Bescheinigungen

E. Ausnahmen vom Vorrang des Koordinierungsverfahrens

IV. Ergebnis

A. Aufhebung des Urteils des Finanzgerichts

B. Zurückverweisung an das Finanzgericht

C. Kostenentscheidung

V. Schlussbemerkungen

Zum Entscheidungstext:

NV: Zur Feststellung, ob und in welchem Umfang in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ein Anspruch auf Familienleistungen bestand, der nach Art. 68 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 einen Kindergeldanspruch nach deutschem Recht ganz oder teilweise ausschließen kann, ist grundsätzlich vorrangig das Koordinierungsverfahren durchzuführen (Bestätigung der Senatsrechtsprechung).

NV: Der Entscheidung der zuständigen ausländischen Stelle über das Bestehen eines solchen Anspruchs ist zu folgen. Gleiches gilt für die rechtliche Bewertung des Verhältnisses zwischen dem Anspruch auf die Familienleistung (“Child Benefit”) und einer möglicherweise gegenläufigen steuerlichen Regelung (“High Income Child Benefit Charge”).

Tenor


Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 29.03.2021 – 7 K 7307/16 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

BFH III R 40/22 – Kindergeld im Vereinigten Königreich vor dem Brexit – Tatbestand


I.


Streitig ist ein Anspruch der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) auf ungekürztes Kindergeld für die Monate November 2015 bis November 2016 (Streitzeitraum).

Die Klägerin war Ende 2016 Mutter von drei im … 2009, … 2011 und … 2014 geborenen Kindern. Sie wohnt seit August 2009 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und war im Streitzeitraum nicht berufstätig.

Die Klägerin ist mit dem Vater der Kinder verheiratet.

BFH III R 40/22 – Kindergeld im Vereinigten Königreich vor dem Brexit

Dieser war zunächst im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (Vereinigtes Königreich) und von August 2010 bis Oktober 2013 im Königreich der Niederlande erwerbstätig. Im August 2013 verlegte er seinen (melderechtlichen) Wohnsitz zur Klägerin nach Deutschland, wo die Eheleute einen gemeinsamen Haushalt führen, zu dem die Kinder gehören.

Ab November 2013 und auch im Streitzeitraum war der Ehemann der Klägerin im Vereinigten Königreich angestellt und erzielte jeweils ein jährliches Bruttoeinkommen von mehr als 60.000 Great Britain Pounds (GBP). Der Ehemann der Klägerin hatte für das erstgeborene Kind zunächst Familienleistungen im Vereinigten Königreich (“Child Benefit”) bezogen. Seit dem 23.08.2010 wurden gemäß Auskunft des zuständigen Trägers vom 21.12.2015 keine britischen Familienleistungen mehr gezahlt.

Seit August 2010 ist der Ehemann der Klägerin ausweislich einer weiteren, von der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) eingeholten Auskunft der Administrative Commission on social security for migrant workers nicht als im Vereinigten Königreich lebend erfasst.

Die Familienkasse hatte mit Bescheid vom 08.12.2014 ‑‑antragsgemäß und mit dem Einverständnis des Ehemannes der Klägerin‑‑ zugunsten der Klägerin für die Kinder Kindergeld ab November 2013 festgesetzt, ohne ausländische Familienleistungen anzurechnen.

Mit Bescheid vom 17.05.2016 setzte die Familienkasse das Kindergeld für die drei Kinder ab November 2015 vorläufig fest (§ 165 Abs. 1 der Abgabenordnung) und rechnete dabei britische Familienleistungen (“Child Benefit”) in Höhe von (umgerechnet) … € pro Monat an.

Sie führte aus, eine endgültige Festsetzung werde erfolgen, sobald die Bescheinigung über die im Vereinigten Königreich zustehenden Familienleistungen vorliege, die im Zusammenhang mit der nächsten Überprüfung des Kindergeldanspruchs angefordert werde.

Sie empfahl, einen Antrag auf “Child Benefit” zu stellen, weil der Anspruch auch bei Überschreiten der Einkommensgrenze grundsätzlich bestehe und auf das deutsche Kindergeld anzurechnen sei.

Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der auf Festsetzung von ungekürztem Kindergeld gerichteten Klage statt und setzte das Kindergeld abweichend von dem Bescheid vom 17.05.2016 und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 09.11.2016 für die Monate November und Dezember 2015 in Höhe von 570 € und für Januar bis November 2016 in Höhe von 576 € fest.

Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2023, 686 veröffentlicht.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Bundesrechts.

Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 29.03.2021 – 7 K 7307/16 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

BFH III R 40/22 – Kindergeld im Vereinigten Königreich vor dem Brexit – Entscheidungsgründe


II.


Die Revision der Familienkasse ist begründet.

Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

Das FG ist im ersten Rechtsgang davon ausgegangen, dass die Klägerin in den Monaten November 2015 bis November 2016 die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 und § 64 Abs. 2 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung für ihre drei leiblichen, im gemeinsamen Haushalt der Klägerin und ihres Ehemannes in Deutschland lebenden minderjährigen Kinder erfüllt.

Dies ist auf der Grundlage der Feststellungen des FG, an die der Senat im Revisionsverfahren gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO), im Grundsatz nicht zu beanstanden.

Das FG hat allerdings auf Grundlage seiner bisher getroffenen Feststellungen zu Unrecht entschieden, dass der Klägerin im Streitzeitraum ein Anspruch auf Kindergeld in Höhe der vollen gesetzlich vorgesehenen Beträge zusteht.

BFH III R 40/22 – Kindergeld im Vereinigten Königreich vor dem Brexit

a) Das FG hat zwar zutreffend angenommen, dass der Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004, Nr. L 166, 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004) eröffnet ist.

Es ist aber zu dem Ergebnis gekommen, dass der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld nicht teilweise durch einen ‑‑wegen der Erwerbstätigkeit im Vereinigten Königreich vorrangigen‑‑ Anspruch ihres Ehemannes auf britische Familienleistungen ausgeschlossen ist (Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004).

Dabei hat das FG nicht festgestellt, dass dem Ehemann der Klägerin ein Anspruch auf “Child Benefit” nach den britischen Regelungen zustand. Vielmehr ist es davon ausgegangen, dass ein solcher Anspruch, selbst wenn er dem Grunde nach bestünde, mit null GBP zu beziffern wäre.

Das FG hat dabei darauf abgestellt, dass ein etwaiger Anspruch des Ehemannes der Klägerin auf “Child Benefit” aufgrund der Höhe seines Einkommens durch eine gegenläufige britische Steuer vollständig kompensiert würde.

Das FG war der Ansicht, dass es sich bei dieser Steuer der Sache nach ebenfalls um die Regelung einer Familienleistung handele. Entscheidend sei, dass die Anordnung der Steuerzahlung den Anspruch des Berechtigten auf “Child Benefit” in gleicher Weise reduziere, wie wenn schon das Bestehen des Anspruchs vom Einkommen des Berechtigten abhängig gemacht oder eine Rückzahlungspflicht beim Überschreiten bestimmter Einkommensgrenzen angeordnet worden wäre.

b) Diese Überlegungen halten einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Der Senat kann auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht selbst in der Sache entscheiden.

Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 schließt einen Kindergeldanspruch nach deutschem Recht unter Umständen ganz oder teilweise aus, wenn in einem anderen Mitgliedstaat (konkurrierende) Ansprüche auf Familienleistungen bestehen

(vgl. z.B. Senatsurteile vom 18.02.2021 – III R 27/19, BFHE 272, 60, BStBl II 2022, 183;

vom 18.02.2021 – III R 60/19, BFH/NV 2021, 942;

vom 31.08.2021 – III R 10/20, BFHE 273, 536, BStBl II 2022, 186;

vom 19.05.2022 – III R 32/20, BFH/NV 2022, 1180

und vom 01.06.2022 – III R 31/20, BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 14).

Art. 68 Abs. 2 Satz 1 und 3 der VO Nr. 883/2004 sind dagegen nicht anwendbar ‑‑können also einen Kindergeldanspruch in Deutschland nicht ausschließen‑‑, wenn in keinem anderen Mitgliedstaat Ansprüche auf Familienleistungen bestehen; es fehlt dann an zu koordinierenden Ansprüchen

(Senatsurteil vom 01.06.2022 – III R 31/20, BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 14).

Daher muss spätestens das FG im Klageverfahren feststellen, ob solche Ansprüche ‑‑im Streitfall des Ehemannes der Klägerin oder der Klägerin auf “Child Benefit”‑‑ bestehen.

aa) Dazu ist grundsätzlich vorrangig das auf dem Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten basierende Koordinierungsverfahren (vgl. insbesondere Art. 68 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ‑‑ABlEU 2009, Nr. L 284, 1‑‑ in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑VO Nr. 987/2009‑‑) zwischen den jeweils zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten durchzuführen.

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Dies bedeutet, dass im Regelfall mittels eines Auskunftsersuchens gegenüber der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats zu klären ist, ob und in welchem Umfang dort ein Anspruch auf Familienleistungen bestand

(vgl. Senatsurteile vom 22.02.2018 – III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 25; vom 01.06.2022 – III R 31/20, BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 16

und vom 20.04.2023 – III R 4/20, BFH/NV 2023, 953, Rz 19).

Der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union verpflichtet den um Auskunft ersuchten Träger, den Sachverhalt, der für den Inhalt seiner Erklärung nach seinen eigenen Rechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der in der Bescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten

(vgl. Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ Herbosch Kiere vom 26.01.2006 – C-2/05, EU:C:2006:69, Rz 22 und Kommission/Belgien vom 11.07.2018 – C-356/15, EU:C:2018:555, Rz 89, m.w.N.).

Die entsprechenden Vordrucke verfolgen auch den Zweck, die Träger der Mitgliedstaaten, die die Anwendbarkeit der in Art. 68 der VO Nr. 883/2004 getroffenen Koordinierungsregelung überprüfen, von der Verpflichtung und Berechtigung zu entheben, die Frage nach dem tatsächlichen Bestehen eines materiellen Anspruchs im anderen Mitgliedstaat zu beantworten.

Insoweit hat die Entscheidung einer ausländischen Behörde über das Bestehen eines Anspruchs auf Familienleistungen nach nationalem Recht Bindungswirkung mit der Folge, dass sie ohne eine weitere Überprüfung bei der Kindergeldfestsetzung und -aufhebung zu berücksichtigen ist

(Senatsurteile vom 26.07.2017 – III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 20 f. und vom 25.07.2019 – III R 34/18, BFHE 265, 487, BStBl II 2021, 20, Rz 43). Dies gilt, solange eine derartige Bescheinigung

(in der Vergangenheit zum Beispiel E 411) nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird

(vgl. Art. 5 Abs. 2 bis 4 der VO Nr. 987/2009; Senatsurteil vom 26.07.2017 – III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 20, m.w.N.).

bb) Vom Senat zugelassene Ausnahmen vom Vorrang des Koordinierungsverfahrens betreffen namentlich Fälle, in denen das (Nicht-)Bestehen eines Anspruchs auf Familienleistungen des anderen Mitgliedstaats unbestritten oder zweifelsfrei war (Senatsurteil vom 01.06.2022 – III R 31/20, BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 17, m.w.N.).

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cc) Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union schließt Auskunftsersuchen der für die Familienleistungen zuständigen Träger der Mitgliedstaaten an die des Vereinigten Königreichs und umgekehrt nicht aus.

Denn auch im Anwendungsbereich des am 01.02.2020 in Kraft getretenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft ‑‑Austrittsabkommen‑‑ (ABlEU 2020, Nr. L 29, 7) ist bei der Koordinierung von Sozialleistungen ein Datenaustausch zwischen den Trägern vorgesehen und nimmt das Vereinigte Königreich am elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten (EESSI) teil (Art. 34 Abs. 2 des Austrittsabkommens).

dd) Nach diesen Grundsätzen ist im Streitfall zur Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens von Ansprüchen auf britische Familienleistungen das Koordinierungsverfahren durchzuführen.

Der Streitzeitraum umfasst die Monate November 2015 bis November 2016, sodass die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 unmittelbar, das heißt ohne Rückgriff auf das Austrittsabkommen, gelten.

(1) Der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld wäre daher mit einem Anspruch auf britische Familienleistungen zu koordinieren, wenn ein solcher bestünde.

Dabei steht der Umstand, dass die Kinder der Klägerin in Deutschland wohnen, einem solchen Anspruch nicht entgegen. Das folgt aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009. Nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.

Der zur Anwendung dieser Vorschrift erlassene Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 enthält eine Familienbetrachtung, nach der die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen

(vgl. Senatsurteil vom 18.02.2021 – III R 71/18, BFHE 272, 53, BStBl II 2022, 180, Rz 23).

Die in den Normen enthaltene Wohnsitzfiktion führt dazu, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen

(EuGH-Urteil Trapkowski vom 22.10.2015 – C-378/14, EU:C:2015:720, Leitsatz 1 und Rz 38 und 41).

(2) Das Koordinierungsverfahren ist nicht ausnahmsweise entbehrlich.

Ein etwaiger Anspruch des Ehemannes der Klägerin oder der Klägerin auf britische Familienleistungen ist weder unbestritten noch zweifelsfrei.

Das FG hat offen gelassen, ob ein solcher Anspruch des Ehemannes der Klägerin besteht.

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Es hat zudem ohne nähere Prüfung angenommen, dass eine gegenläufige Steuer angefallen wäre, die das “Child Benefit” vollständig aufgezehrt hätte.

Da ein “High Income Child Benefit Charge” ‑‑ausweislich der amtlichen Informationsseite (www.gov.uk/child-benefit-tax-charge)‑‑ ein “taxable income” von mehr als 50.000 GBP voraussetzt, hätte unter anderem festgestellt werden müssen, ob und in welcher Höhe das Einkommen des Ehemannes der Klägerin, der nach den Feststellungen des FG im Streitzeitraum seinen Wohnsitz in Deutschland hatte, im Vereinigten Königreich als “taxable income” berücksichtigt worden wäre

(vgl. Senatsurteil vom 01.06.2022 – III R 31/20, BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 20).

Falls der Ehemann der Klägerin dem “High Income Child Benefit Charge” unterlegen hätte, wäre in rechtlicher Hinsicht zu entscheiden, ob durch diese Abgabe der Anspruch auf “Child Benefit” im Sinne des Art. 68 Abs. 2 der VO Nr. 883/2004 entfiel oder ob es sich um einen insoweit unerheblichen anderweitigen Nachteil handelte

(vgl. Senatsurteil vom 01.06.2022 – III R 31/20, BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 21).

Auch die bereits vorliegenden Mitteilungen des britischen Trägers vom 21.12.2015 und 07.04.2017 lassen die Einholung einer Auskunft nicht als überflüssig erscheinen.

Der Bescheinigung E 411 vom 21.12.2015 ist lediglich zu entnehmen, dass seit 23.08.2010 dort kein Antrag auf “Child Benefit” gestellt und keine Leistung erbracht wurde.

In der unmittelbar an den Ehemann der Klägerin adressierten und nicht im Rahmen des Koordinierungsverfahrens eingeholten Mitteilung vom 07.04.2017 wird nur bescheinigt, dass der Ehemann der Klägerin keine Familienleistungen im Vereinigten Königreich erhalten habe.

Den Angaben des britischen Trägers ist jedoch nicht zu entnehmen, ob die Klägerin oder ihr Ehemann im Streitzeitraum einen Anspruch auf britische Familienleistungen gehabt hätten, wenn sie oder er einen Antrag gestellt hätte beziehungsweise wenn der in Deutschland gestellte Kindergeldantrag der Klägerin nach Art. 68 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 3 der VO Nr. 987/2009 im Vereinigten Königreich berücksichtigt worden wäre.

Sie gehen auch nicht darauf ein, ob bereits ein Anspruch auf “Child Benefit” ausgeschlossen ist, wenn der Berechtigte der gegenläufigen Abgabe (“High Income Child Benefit Charge”) unterliegt.

Die von der Familienkasse im Revisionsverfahren erwähnte Bescheinigung vom 31.05.2019 hat das FG im angefochtenen Urteil nicht in Bezug genommen.

Da die Familienkasse Verfahrensrügen nicht erhoben hat, kann ihr insoweit neuer Vortrag im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden (§ 118 Abs. 2 FGO).

Auch diese Bescheinigung würde am Ergebnis jedoch nichts ändern, da sie sich auf die Monate Dezember 2016 bis Mai 2019 (Ziffer 2.5) bezieht und damit nicht den Streitzeitraum betrifft.

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Im zweiten Rechtsgang ist erneut über den Kindergeldanspruch der Klägerin zu entscheiden.

Wenn die zuständige ausländische Stelle im Rahmen des dabei durchzuführenden Koordinierungsverfahrens zum Verhältnis zwischen dem Anspruch auf die Familienleistung (“Child Benefit”) und deren Besteuerung (“High Income Child Benefit Charge”) Stellung nehmen sollte, wäre deren rechtlicher Bewertung zu folgen.

Der Senat weist dazu auf die Senatsurteile vom 22.02.2018 – III R 10/17

(BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 25)

und vom 01.06.2022 – III R 31/20

(BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 22)

hin; in den diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Verfahren lag eine Mitteilung der HM Revenue & Customs vor, dass das “High Income Child Benefit Charge” den “Child Benefit” nicht aufhebe (“… has no effect on UK Child Benefit Entitlement”).

Ein entsprechendes Schreiben hat die Familienkasse auch zur Akte des vorliegenden Verfahrens mit dem Aktenzeichen III R 40/22 gereicht.

Führt der zweite Rechtsgang zu dem Ergebnis, dass ein Anspruch der Klägerin oder ihres Ehemannes auf Familienleistungen im Streitzeitraum auch im Vereinigten Königreich besteht, ist die Anspruchskumulierung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 aufzulösen

(vgl. Senatsurteile vom 26.07.2017 – III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 24

und vom 01.06.2022 – III R 31/20, BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 27).

Führt er dagegen zu dem Ergebnis, dass der Klägerin oder ihrem Ehemann kein solcher Anspruch zusteht, stehen Art. 68 Abs. 2 Satz 1 und 3 der VO Nr. 883/2004 dem vollen Kindergeldanspruch nicht entgegen

(vgl. Senatsurteil vom 01.06.2022 – III R 31/20, BFHE 277, 288, BStBl II 2023, 348, Rz 14 und 26, m.w.N.).

Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.

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