Grundsätze des Missbrauchs der Vertretungsmacht gelten auch im Anwendungsbereich des Rechtsscheintatbestands des § 15 I HGB – BGH Urteil vom 09.01.2024 – II ZR 220/22

Juli 18, 2024

Grundsätze des Missbrauchs der Vertretungsmacht gelten auch im Anwendungsbereich des Rechtsscheintatbestands des § 15 I HGB – BGH Urteil vom 09.01.2024 – II ZR 220/22

Zusammenfassung RA und Notar Krau


Die Klägerin, eine GmbH mit einem Stammkapital von 25.000 €, erwarb 2015 ein bebautes Grundstück in Berlin und teilte es in 30 Gewerbe- und Wohneinheiten auf.

Im Jahr 2017 erklärte ihr Geschäftsführer D. in einem “Letter of guarantee”, dass er ohne Zustimmung der Gesellschafterversammlung keine Veräußerung oder Belastung des Vermögens vornehmen würde.

Im Juni 2018 wurde D. auf einer Gesellschafterversammlung abberufen, die von der Mehrheitsgesellschafterin einberufen wurde.

Trotz der Abberufung verkaufte D. am 16. Juni 2018 das gesamte Grundstück an die Beklagte für 12,2 Mio. €.

Das Landgericht und das Berufungsgericht wiesen die Klage der Klägerin ab, die Beklagte zur Zustimmung zur Löschung der Auflassungsvormerkungen zu verurteilen.

Rechtsfragen und Begründung des BGH


Der BGH hob das Urteil des Berufungsgerichts auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurück.

Im Kern geht es um die Anwendung von § 15 Abs. 1 HGB, der den Schutz des Rechtsverkehrs vor der wahren Rechtslage sicherstellt, solange eine eintragungspflichtige Tatsache (wie die Abberufung eines Geschäftsführers) nicht im Handelsregister eingetragen ist.

Vertretungsmacht des Geschäftsführers:

Der Abberufungsbeschluss vom 14. Juni 2018 war wirksam, weshalb D. im Zeitpunkt des Verkaufs keine Vertretungsmacht mehr hatte.


Da die Abberufung jedoch nicht im Handelsregister eingetragen war, konnte sich die Beklagte auf den Rechtsschein der fortbestehenden Vertretungsmacht D.s berufen (§ 15 Abs. 1 HGB).

Grundsätze des Missbrauchs der Vertretungsmacht gelten auch im Anwendungsbereich des Rechtsscheintatbestands des § 15 I HGB – BGH Urteil vom 09.01.2024 – II ZR 220/22


Kenntnis der Beklagten:

Entscheidend ist, ob die Beklagte positive Kenntnis von der Abberufung hatte. Grob fahrlässige Unkenntnis genügt nicht.


Das Berufungsgericht stellte fest, dass die Beklagte nicht bösgläubig war, selbst wenn sie von der Abberufung gewusst hätte, weil die Wirksamkeit der Abberufung streitig war und nicht im Handelsregister eingetragen war.


Missbrauch der Vertretungsmacht:

Ein Missbrauch der Vertretungsmacht liegt vor, wenn der Geschäftsgegner weiß oder es sich ihm aufdrängen muss, dass der Vertreter seine Vertretungsmacht missbraucht.


Das Berufungsgericht verneinte dies im vorliegenden Fall, da die Beklagte sich auf die Unbedenklichkeitserklärung des beurkundenden Notars verlassen durfte.


Entscheidungsgründe des BGH


Der BGH bestätigte, dass die Klägerin nach § 15 Abs. 1 HGB so behandelt werden muss, als hätte D. noch Vertretungsmacht.

Er stellte jedoch fest, dass die Begründung des Berufungsgerichts in Bezug auf den Missbrauch der Vertretungsmacht unvollständig war.

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Selbsthilferecht der Mehrheitsgesellschafterin:

Die Mehrheitsgesellschafterin war zur Einberufung der Gesellschafterversammlung befugt, weil der Geschäftsführer ihrem Einberufungsverlangen nicht ordnungsgemäß nachgekommen war.
Rechtsschein der fortbestehenden Vertretungsmacht:

Der Schutz des Rechtsverkehrs nach § 15 Abs. 1 HGB greift, solange die eintragungspflichtige Tatsache nicht im Handelsregister eingetragen ist. Positive Kenntnis der Beklagten von der Abberufung konnte nicht festgestellt werden.


Missbrauch der Vertretungsmacht und Schutzbedürftigkeit der Beklagten:

Das Berufungsgericht muss klären, ob die Beklagte aufgrund des Rats des Notars in einem entschuldbaren Rechtsirrtum über die Notwendigkeit eines Gesellschafterbeschlusses handelte.


Es fehlt eine vollständige Würdigung der Beweisaufnahme, insbesondere der Aussagen der Zeugen K. und M., was eine erneute Verhandlung erforderlich macht.


Fazit


Der BGH hob das Urteil des Berufungsgerichts auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück.

Er betonte die Bedeutung des Schutzes des Rechtsverkehrs nach § 15 Abs. 1 HGB und die Notwendigkeit einer gründlichen Prüfung des Missbrauchs der Vertretungsmacht.

Die Entscheidung verdeutlicht, dass positive Kenntnis und grobe Fahrlässigkeit unterschiedliche Rechtswirkungen haben und der Dritte grundsätzlich keinen Nachforschungspflichten unterliegt, solange der Rechtsschein besteht.

Schlagworte

Warnhinweis:

Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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