LAG Hamm, Urteil vom 27.01.2012 – 13 Sa 1493/11

Juli 6, 2020

LAG Hamm, Urteil vom 27.01.2012 – 13 Sa 1493/11
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum vom 23.08.2011 – 2 Ca 2942/10 – wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer personenbedingten Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen; der Kläger begehrt seine Weiterbeschäftigung.
Der am 24.04.1972 geborene, inzwischen geschiedene Kläger trat mit Wirkung ab 15.05.2003 in die Dienste der Beklagten, einem kommunalen Entsorger mit ca. 650 Arbeitnehmern. Der Kläger kam zuletzt als Kraftfahrer/Fuhrpark Mitarbeiter mit einer Bruttomonatsvergütung von ca. 2.800,– Euro zum Einsatz.
Ab dem Jahr 2008 hatte der Kläger folgende Arbeitsunfähigkeitszeiten und Entgeltfortzahlungskosten (einschließlich der Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung) zu verzeichnen:
2008: 41 Arbeitstage mit Gesamtkosten von 6.750,08 €
2009: 55 Arbeitstage mit Gesamtkosten von 9.054,99 €
2010: 45 Arbeitstage mit Gesamtkosten von 7.408,67 €
Hinsichtlich der genauen Einzelheiten und der Ursachen der Arbeitsunfähigkeitszeiten wird verwiesen auf die Aufstellung im klägerischen Schriftsatz vom 30.05.2011 (Bl. 106 ff. d. A.).
Im Hinblick auf die Dauer der Fehlzeiten lud die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 25.11.2008 (Bl. 40 d. A.) “zum Beratungsgespräch (Betriebliches Eingliederungsmanagement)”, worauf dieser nicht reagierte.
Wegen der weiterhin auftretenden Fehlzeiten wurde der Kläger mit Arbeitgeber seitigem Schreiben vom 19.08.2009 (Bl. 42 d. A.) zu einem Gespräch in die Personalabteilung geladen, “um Ihnen bei Ihrer Genesung behilflich sein zu können”. Weil er darauf nicht antwortete, wurde der Kläger mit Schreiben vom 29.09.2009 (Bl. 43 d. A.) erneut aufgefordert, sich an diesem Tag in der Personalabteilung zu einem Gespräch einzufinden. Daraufhin kam es zu einer Unterredung mit dem Personalreferenten S1
In dem von beiden Seiten unterzeichneten Gesprächsprotokoll heißt es:
“Der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin wurde befragt, ob Seine/Ihre Fehlzeit im ursächlichen Zusammenhang mit Seiner/Ihrer Arbeitssituation steht. Er/Sie erklärt hierzu:
Hr. L1 gibt an, keine Probleme mit seiner Arbeitssituation zu haben. Das BEM wurde erklärt. BEM ist zurzeit nicht erforderlich. Hr. L1 wurden die betriebswirtschaftlichen Kosten seines Fehlens erläutert. Hr. L1 wird noch einmal einen Arzt aufsuchen müssen.
Verabredungen/Maßnahmen
Fehlzeiten werden weiter beobachtet.
Im Hinblick auf die weiteren in der Folgezeit aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten sprach die Beklagte, nachdem sie zuvor mit Schreiben vom 22.10.2010 (Bl. 45 ff. d. A.) den im Betrieb bestehenden Betriebsrat angehört und dieser unter dem 28.10.2010 (Bl. 4 f. d. A.) Bedenken geäußert hatte, dem Kläger mit Schreiben vom 03.11.2010 die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.03.2011 aus (Bl. 3 d. A.).
Der Kläger hat behauptet, die Fehlzeiten im Jahr 2008 seien im Umfang von 30 Arbeitstagen und im Jahr 2010 im Umfang von 19 Arbeitstagen auf Erkrankungen seiner Kniegelenke zurückzuführen gewesen. Im Zuge einer fachärztlichen Behandlung seien die aufgetretenen Schwächen in den Kniegelenken durch orthopädische Hilfsmittel (Einlagen, Bandagen) so ausgeglichen worden, dass auch bei der Arbeitsbelastung keine Gesundheitsprobleme mehr auftreten würden. Es sei auch zu berücksichtigen, dass wegen seines verstärkten Einsatzes auf flach wie ein Bus gebauten, modernen Econic-Fahrzeugen mit Automatik die Gefahr einer Entzündung des linken “Kupplungsknies” nicht mehr gegeben sei – im Gegensatz zur Situation bei den älteren Actros-Fahrzeugen.
Im Jahr 2009 seien die Fehlzeiten im Umfang von 29 Arbeitstagen auf eine Blutdruckerkrankung (essentielle Hypertonie) zurückzuführen gewesen. Wegen der Symptomatik sei er im Jahre 2007 medikamentös eingestellt worden, so dass er in der Folgezeit keine Beschwerden mehr gehabt habe. Im Jahre 2009 habe sich dann seine Ehefrau von ihm getrennt, und es sei letztlich auch zur Scheidung gekommen. Wegen der damit verbundenen emotionalen Belastungen sei es im August/September 2009 wieder zum Bluthochdruck und den damit verbundenen Arbeitsunfähigkeitszeiten gekommen. Aufgrund der eingetretenen Stabilisierung der privaten Situation und der gelungenen medikamentösen Einstellung des Blutdrucks würde eine entsprechende Erkrankung jetzt nicht mehr auftreten.
Weiterhin hat der Kläger die Auffassung geäußert, die Beklagte habe zu keinem Zeitpunkt das gesetzlich gebotene Betriebliche Eingliederungsmanagement (im Folgenden kurz: BEM) ordnungsgemäß durchgeführt. Das Gespräch am 29.09.2009 reiche dafür schon aus zeitlichen Gründen nicht aus; im Übrigen habe es sich dabei um ein bloßes Fehlzeitengespräch gehandelt.
Es seien auch keine hinreichenden betrieblichen Beeinträchtigungen erkennbar; so halte die Beklagte eine Personalreserve vor, die vorübergehende Ausfälle kompensieren könne.
Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 03.11.2010 nicht zum 31.03.2011 beendet wird, sondern fortbesteht,
die Beklagte zu verurteilen, ihn zu den Bedingungen des Arbeitsverhältnisses als Kraftfahrer und Fuhrpark Arbeiter weiter zu beschäftigen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Meinung vertreten, die Kündigung sei aufgrund der Fehlzeiten und der daraus resultierenden Entgeltfortzahlungskosten sozial gerechtfertigt. Im Übrigen sei es auch zu Betriebsablaufstörungen gekommen. Das BEM habe sie ordnungsgemäß durchgeführt. Der Kläger habe nach sachgerechter Aufklärung durch den Personalreferenten S1 am 29.09.2009 weitere Maßnahmen abgelehnt, so dass eine erneute Einladung entbehrlich gewesen sei. Davon abgesehen wäre die Durchführung eines BEM im Falle des Klägers erfolglos geblieben. Namentlich die Kniebelastung trete unabhängig davon auf, auf welchem Fahrzeug der Kläger zum Einsatz komme.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 23.08.2011 der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es könne schon keine negative Zukunftsprognose gestellt werden, weil es sich bei der 29 Arbeitstage im Jahr 2009 ausmachenden Blutdruckerkrankung des Klägers um einen einmaligen, durch die Trennung von seiner Ehefrau bedingten Vorfall gehandelt habe.
Davon abgesehen sei die Kündigung unverhältnismäßig, weil es die Beklagte unterlassen habe, ein BEM ordnungsgemäß durchzuführen. Nach dem Gespräch am 29.09.2009 hätte die Beklagte – auch angesichts der zwischenzeitlich aufgetretenen weiteren erheblichen Fehlzeiten – vor Ausspruch der Kündigung eine weitere entsprechende Initiative starten und dem Kläger verdeutlichen müssen, dass es um den Erhalt seines Arbeitsplatzes gehe. Es sei auch nicht ersichtlich, dass ein BEM ausnahmsweise entbehrlich gewesen sei, weil es in keinem Falle zu einem positiven Ergebnis geführt hätte. So hätte z.B. erörtert werden können, ob es sinnvoll und möglich gewesen wäre, den Kläger längerfristig auf ECONIC-Fahrzeugen einzusetzen und dadurch die kniebedingten Ausfallzeiten zurückzuführen. Auch hätte man die mögliche Einmaligkeit der Blutdruckerkrankung im Jahr 2009 diskutieren können.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung.
Sie ist der Ansicht, eine negative Gesundheitsprognose sei gegeben – auch hinsichtlich der Blutdruckerkrankung, die ja bereits im Jahr 2007 erstmals aufgetreten sei. Auch eine umfassende Bewertung des Gesamtbildes der vielen beim Kläger aufgetretenen Fehlzeiten rechtfertige eine negative Zukunftsprognose.
Von ihr, der Beklagten, sei es auch nicht unterlassen worden, ein ordnungsgemäßes BEM durchzuführen. Der Kläger sei insgesamt dreimal vergeblich dazu aufgefordert worden. Lediglich ein vehementes und persönliches Nachfassen des Personalreferenten S1 habe dazu geführt, dass es am 29.09.2009 überhaupt zu einem Gespräch gekommen sei. Darin sei dem Kläger Sinn, Zweck und Ablauf des BEM erklärt worden. Auf ausdrückliche Nachfrage habe er einen Zusammenhang der Fehlzeiten mit seiner Arbeitssituation und der Teilnahme an einer BEM abgelehnt. Am Ende habe der Zeuge S1 ihn nochmals darauf hingewiesen, er könne sich bei Interesse an die für das BEM zuständige Dipl.-Gesundheitswirtin H1 wenden.
Angesichts der dokumentierten Weigerung des Klägers habe sie, die Beklagte, davon ausgehen können, dass der Kläger generell, also auch bei Auftreten weiterer Fehlzeiten, zur Teilnahme am BEM nicht bereit war.
Davon abgesehen hätten sich im Zuge eines BEM keine milderen Maßnahmen ergeben, um eine Kündigung zu vermeiden. So sei es im Jahre 2008 trotz des Einsatzes von zu ca. 50 % auf Fahrzeugen des Typs ECONIC zu den erheblichen Fehlzeiten gekommen – ebenso wie bei den Einsätzen als Fahrer von Sattelzugmaschinen. In allen Fällen komme es zu erheblichen körperlichen Belastungen (Ein- und Aussteigen, Umgang mit Müllbehältnissen), und der Arbeitnehmer sei den unterschiedlichen Witterungsbedingungen ausgesetzt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Bochum vom 23.08.2011 .- 2 Ca 2942/10 – abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er meint, die Indizwirkung der aufgeführten Fehlzeiten und deren Ursachen für die negative Gesundheitsprognose sei bereits erschüttert. So wiederhole sich angesichts der besonderen Umstände im Jahr 2009 die dort aufgetretene Blutdruckerkrankung nicht. Auch seien die in den Jahren 2008 und 2010 aufgetretenen Knieprobleme zwischenzeitlich erfolgreich therapiert worden.
Davon abgesehen sei die Beklagte nicht ihrer Initiativlast nachgekommen, zeitnah ein ordnungsgemäßes BEM durchzuführen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen ergänzend Bezug genommen.
Gründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
I. Zu Recht ist das Arbeitsgericht zum Ergebnis gelangt, dass die streitbefangene ordentliche Kündigung vom 03.11.2010 sozial ungerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 Satz 1 Fall 1 KSchG) und damit nach § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam ist. Gründe in der Person des Klägers aus Anlass der bei ihm in der Vergangenheit wiederholt aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten liegen nicht vor.
Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (zuletzt z.B. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08 – AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 48) ist in Fällen einer krankheitsbedingten Kündigung – wie hier – immer eine dreistufige Prüfung vorzunehmen. Zunächst bedarf es einer negativen Gesundheitsprognose (erste Stufe). Aufgrund dessen muss es zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen kommen, und zwar in Gestalt von Betriebsablaufstörungen und/oder wirtschaftlichen Belastungen (zweite Stufe). Schließlich ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob die festgestellten Beeinträchtigungen arbeitgeberseits billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (dritte Stufe).
Gemessen an diesen Voraussetzungen ist die streitbefangene Kündigung rechtsunwirksam.
1. Es ist schon äußerst zweifelhaft, ob im maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 03.11.2010 eine negative Gesundheitsprognose in Bezug auf die vom Kläger bei der Beklagten ausgeübten Tätigkeiten gegeben war. Denn in dem Zusammenhang hat das Arbeitsgericht zutreffend herausgestrichen, dass die Blutdruckerkrankung des Klägers im Zeitraum vom 18.08. bis zum 25.09.2009, die mehr als die Hälfte der im ganzen Jahr 2009 verzeichneten Fehlzeiten ausgemacht hat, aufgrund der Darlegungen des Klägers zur Ursache im persönlichen Bereich möglicherweise Ausnahmecharakter hatte und deshalb in eine verlässliche Zukunftsprognose gar nicht einfließen kann.
Letztlich kann diese – unter Umständen nur durch Heranziehung ärztlichen Sachverstandes verbindlich zu klärende – Frage aber offenbleiben.
2. Denn in jedem Fall ist die Kündigung deshalb ungerechtfertigt, weil die Beklagte im Rahmen des das gesamte Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht im erforderlichen Umfang ein BEM nach § 84 Abs. 2 SGB IX durchgeführt hat.
Insoweit folgt die Berufungskammer in allen Punkten den zutreffenden Ausführungen der angefochtenen Entscheidung unter I. 3. der Gründe und nimmt auf sie zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug.
Die Ausführungen in der Berufungsinstanz geben lediglich zu folgenden ergänzenden Bemerkungen Anlass:
a) Mit Hilfe des BEM sollen mildere Mittel als die Kündigung, z.B. eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder eine Fortbeschäftigung auf einem anderen, gegebenenfalls durch Umsetzungen freizumachenden Arbeitsplatz erkannt und entwickelt werden, um auf diese Weise für eine möglichst dauerhafte Sicherung des Arbeitsverhältnisses zu sorgen (BT-Drucks. 15/1783, S. 16; BAG, 10.12.2009 – 2 AZR 400/08 – AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 48; 10.12.2009 – 2 AZR 198/09 – AP SGB IX § 84 Nr. 3; 30.09.2010 – 2 AZR 88/09 – AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 49; 24.03.2011 – 2 AZR 170/10 – NZA 2011, 952).
Um dieser Zwecksetzung gerecht werden zu können, hat ein BEM zeitnah vor dem beabsichtigten Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung zu erfolgen.
Dem ist die Beklagte nicht gerecht geworden. Soweit sie sich auf ein erstes Schreiben vom 25.11.2008 stützt und wesentlich auf das gut 10 Monate später stattgefundene Gespräch mit dem Personalreferenten S1 am 29.09.2009 abstellt, ist sie damit schon nicht den Anforderungen für ein regelkonformes Ersuchen des Arbeitgebers um Zustimmung des Arbeitnehmers zur Durchführung eines BEM nach § 84 Abs. 2 Satz 3 SGB IX gerecht geworden (vgl. BAG, 24.03.2011 – 2 AZR 170/10 – NZA 2011, 992).
So hat die Beklagte lediglich abstrakt vorgetragen, der als Zeuge benannte Personalreferent S1 habe in dem Gespräch am 29.09.2009 dem Kläger anhand eines Flyers die Inhalte und Ziele des BEM ausführlich erläutert, anstatt im Einzelnen die dafür relevanten Tatsachen darzulegen, um so anhand des § 84 Abs. 2 Satz 3 SGB IX eine Schlüssigkeitsprüfung durchführen zu können. Im Übrigen fehlen auch jegliche Ausführungen dazu, ob der Kläger auf die Art und den Umfang der erhobenen und verwendeten Daten hingewiesen wurde, zumal nach den eigenen Angaben der Beklagten die Dipl.-Gesundheitswirtin H1 und nicht der Personalreferent S1 für den Bereich des BEM der zuständige Ansprechpartner ist. In dem von beiden Seiten unterschriebenen Gesprächsprotokoll heißt es auch nur lapidar, das BEM sei erklärt worden.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Kläger am 29.09.2009 kurz nach seiner fast sechs Wochen angedauerten Arbeitsunfähigkeit wegen Bluthochdrucks ausweislich des auch von Beklagten Seite unterschriebenen Gesprächsprotokolls ein BEM nicht dauerhaft abgelehnt hat, sondern es “zur Zeit” nicht für erforderlich hielt. Diese Reaktion ist angesichts der in der damaligen Situation aus Sicht des Klägers gerade ausgeheilten Blutdruckerkrankung ohne Weiteres nachvollziehbar.
Wenn man sich dann weiter darauf verständigte, der Kläger werde noch einmal einen Arzt aufsuchen, und die Fehlzeiten würden weiter beobachtet, dann kann daraus nicht abgeleitet werden, dass die Beklagte mangels Weigerung des Klägers gut ein Jahr später davon entbunden war, erneut ein BEM einzuleiten.
Dafür bestand umso mehr Veranlassung, als der Betriebsrat als zuständige Interessenvertretung im Sinne des § 84 Abs. 2 Satz 1 i.V.m.. § 93 SGB IX im Zuge seiner Stellungnahme vom 28.10.2010 u.a. auf die Besserung des gesundheitlichen Zustandes des Klägers durch den Einsatz von Einlegesohlen und Kniebandagen hingewiesen hatte. Dem hätte man – gegebenenfalls unter Hinzuziehung des Betriebsarztes (§ 84 Abs. 2 Satz 2 SGB IX) – im Rahmen eines geordneten BEM weiter nachgehen müssen.
b) Das BEM war entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht ausnahmsweise entbehrlich.
Allerdings ist nach der zutreffenden Ansicht des Bundesarbeitsgerichts (10.12.2009 – 2 AZR 400/08 – AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 48; 10.12.2009 – 2 AZR 198/09 – AP SGB IX § 84 Nr. 3; 30.09.2010 – 2 AZR 88/09 – AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 49; 24.03.2011 – 2 AZR 170/10 – NZA 2011, 952) das Unterlassen eines BEM unschädlich, wenn das Verfahren wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigung des Arbeitnehmers unter keinen Umständen ein positives Ergebnis hätte bringen können. Dafür muss der insoweit darlegungs- und beweispflichtige Arbeitgeber allerdings umfassend und konkret vortragen, warum weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher innegehabten Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können, warum also ein BEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, erneuten Krankheitszeiten des Arbeitnehmers vorzubeugen und ihm den Arbeitsplatz zu erhalten.
Die Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
So hätte z.B. die Möglichkeit bestanden, dass namentlich ein eingeschalteter Betriebsarzt in Kenntnis der konkreten Situation des Klägers im Jahr 2009 zu der Erkenntnis gelangt wäre, dass die zu 29 Arbeitstagen Ausfall geführte Bluthochdruckerkrankung angesichts der konkreten privaten Belastungssituation des Klägers ein einmaliges Ereignis war, wodurch für das Jahr 2009 nur noch prognoserelevante Fehlzeiten im Umfang von 26 Arbeitstagen verblieben wären.
Auch bei den im Jahr 2008 zu 30 und im Jahr 2010 zu weiteren 19 Ausfalltagen geführten Kniebeschwerden hätte im Einzelnen – gegebenenfalls unter Hinzuziehung ärztlichen Sachverstandes – eruiert werden müssen, ob sich entsprechend den Angaben des Klägers durch den Einsatz orthopädischer Einlegesohlen und Kniebandagen sein gesundheitlicher Zustand wesentlich gebessert hat. Anknüpfend daran hätten dann die Einsatzmöglichkeiten des im Kündigungszeitpunkt fast acht Jahre tätig gewesenen Arbeitnehmers, namentlich auf den ECONIC-Fahrzeugen mit knieschonendem Automatik- statt Schaltgetriebe und auf den Sattelzugmaschinen, unter Verwertung der in der Vergangenheit bereits erworbenen Erkenntnisse näher geprüft werden müssen.
Angesichts dieser Erwägungen lässt sich zu Gunsten der Beklagten nicht feststellen, dass ein BEM unter keinen Umständen ein positives Ergebnis hätte erbringen können.
II. Der Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf Fortbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen ergibt sich aus den §§ 611, 613, 242 BGB i.V.m. Artikel 1, 2 Abs. 1 GG.
Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Großen Senats des BAG (AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14) kann der gekündigte Arbeitnehmer die arbeitsvertragsgemäße Beschäftigung über den Zeitpunkt des Zugangs der streitbefangenen Kündigung hinaus verlangen, wenn diese unwirksam ist und überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers nicht entgegenstehen.
In Fällen wie hier überwiegt in aller Regel das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers. In einer solchen Situation ist es die Aufgabe des Arbeitgebers, zusätzliche Umstände darzulegen, aus denen sich im Einzelfall ein fortdauerndes vorrangiges Interesse ergibt, den Arbeitnehmer trotzdem nicht zu beschäftigen (BAG, a.a.O.).
Solche besonderen Umstände sind vorliegend von der Beklagten nicht dargelegt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben

Schlagworte

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Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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