BAG 1 AZR 46/93

Oktober 20, 2017

BAG 1 AZR 46/93 – Nachwirkung einer teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung – Zahlung von Weihnachtsgeld – § 77 Abs. 5 BetrVG

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Zahlung von Weihnachtsgeld für das Jahr 1991. Die beiden Kläger sind seit 1958 bzw. 1975 im Betrieb der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte betreibt ein Unternehmen der Metallverarbeitung mit rund 1.200 Arbeitnehmern. Bei der Beklagten besteht ein Betriebsrat.

Die Beklagte und der Betriebsrat haben am 10. Oktober 1988 eine Betriebsvereinbarung über die Zahlung eines freiwilligen Weihnachtsgeldes geschlossen. Nach dieser Betriebsvereinbarung sollten die Mitarbeiter unter Berücksichtigung der tariflichen Sonderzahlung ein nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffeltes Weihnachtsgeld in Höhe von 50 % bis 150 % eines Monatseinkommens erhalten.

Der Kläger zu 1 (B ) hatte nach dieser Betriebsvereinbarung ein Weihnachtsgeld in Höhe von 125 % eines Monatseinkommens zu beanspruchen, der Kläger zu 2 (K ) ein Weihnachtsgeld von 100 % eines Monatsverdienstes. Nach Ziff. 5 der Betriebsvereinbarung konnte die Betriebsvereinbarung von Arbeitgeber und Betriebsrat “entsprechend den in § 77 Abs. 5 BetrVG genannten Fristen gekündigt werden.”

BAG 1 AZR 46/93

Die Beklagte hat die Betriebsvereinbarung mit Schreiben vom 5. Juni 1991 zum 30. September 1991 gekündigt. In einem Aushang vom 6. Juni 1991 hat sie ihre Mitarbeiter darüber informiert, daß die Kündigung aus Gründen der Kostenanpassung erforderlich gewesen sei. Das neue und niedrigere Niveau des freiwilligen Weihnachtsgeldes werde Gegenstand weiterer Verhandlungen mit dem Betriebsrat sein.

Die Verhandlungen mit dem Betriebsrat haben zu keinem Ergebnis geführt. Die Beklagte hat mit Aushang vom 26. September 1991 die Neuregelung der Zahlung von Weihnachtsgeld für das Jahr 1991 mitgeteilt. Diese Regelung sieht auch ein in der Höhe nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffeltes Weihnachtsgeld vor, das aber geringer ist als das in der Betriebsvereinbarung festgelegte.

Der Kläger zu 1 (B ) hat nach dieser Regelung 100 % einer Monatsvergütung als Weihnachtsgeld erhalten (3.611,00 DM), der Kläger zu 2 (K ) 75 % einer Monatsvergütung (2.856,00 DM). Beide Kläger haben damit erheblich weniger Weihnachtsgeld erhalten als ihnen auf der Grundlage der Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 zugestanden hätte. Mit ihrer Klage haben sie den sich hieraus ergebenden Differenzbetrag geltend gemacht.

BAG 1 AZR 46/93

Die Kläger sind der Auffassung, die Beklagte habe die in der Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 geregelten Grundsätze über die Zahlung eines freiwilligen Weihnachtsgeldes nur unter Beachtung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ändern können. Die Mißachtung des Mitbestimmungsrechts durch die Beklagte führe zur Unwirksamkeit der Kündigung der Betriebsvereinbarung und damit zum Fortbestand der alten Regelung.

Die Kläger haben beantragt,

die Beklagte zu verur­teilen, an den Kläger zu
1(B ) 902,75 DM brutto zu bezahlen, an den
Kläger zu 2 (K ) 952,00 DM brutto zu bezah-
len.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie vorgetragen, sie sei wegen der schlechten Auftragslage zur Kündigung der Betriebsvereinbarung berechtigt gewesen. Sie habe versucht, mit dem Betriebsrat eine Einigung über eine Neuregelung der Zahlung von Weihnachtsgeld herbeizuführen. Der Betriebsrat habe jedoch darauf bestanden, daß das Weihnachtsgeld weiterhin auf der Grundlage der Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 gezahlt werde. Da sie die Betriebsvereinbarung wirksam gekündigt habe, könnten die Kläger hieraus keine Ansprüche herleiten.

Das Arbeitsgericht hat durch Beschluß vom 14. Mai 1992 die Verfahren B ./. W GmbH und K ./. W GmbH zum Zwecke gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden. Nach der Verbindung der Verfahren hat das Arbeitsgericht den Klagen stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klagen abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Zahlungsansprüche weiter, während die Beklagte um Zurückweisung der Revision bittet.

Entscheidungsgründe BAG 1 AZR 46/93

Die Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klagen zu Unrecht abgewiesen, da die Kläger einen Anspruch auf Weihnachtsgeld aus der Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 haben. Das Landesarbeitsgericht hat zwar zutreffend angenommen, daß die Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 zum 30. September 1991 von der Beklagten wirksam gekündigt worden ist, hat aber nicht erkannt, daß die Betriebsvereinbarung nachwirkt.

1. Die Beklagte hat mit Schreiben vom 5. Juni 1991 die Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 wirksam zum 30. September 1991 gekündigt.

a) Die Beklagte war gemäß § 77 Abs. 5 BetrVG zur Kündigung berechtigt, da in der Betriebsvereinbarung nichts anderes vereinbart war. Mit der Kündigung vom 5. Juni 1991 zum 30. September 1991 hat die Beklagte auch die Kündigungsfrist von 3 Monaten eingehalten. Weitere Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Kündigung einer Betriebsvereinbarung bestehen nicht.

In der Literatur wird zwar versucht, eine Einschränkung der Kündigungsmöglichkeit von Betriebsvereinbarungen zu begründen, um auf diese Weise das Vertrauen der Arbeitnehmer darauf zu schützen, daß die in der Betriebsvereinbarung vereinbarten Leistungen nicht ohne sachlichen Grund entfallen.

So wird dem ultima-​ratio-​Prinzip entnommen, der Arbeitgeber müsse vor Ausspruch einer Beendigungskündigung der Betriebsvereinbarung die Möglichkeit einer Änderungskündigung prüfen (Schaub, BB 1990, 289 ff.). Hanau/Preis (NZA 1991, 81 ff.) sind der Auffassung, Betriebsvereinbarungen mit betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen sowie Betriebsvereinbarungen über Sozialleistungen, die auch individualrechtlich als freiwillige Leistungen vereinbar wären, könnten grundsätzlich frei gekündigt werden.

Soweit der Widerruf von Leistungen jedoch nicht frei, sondern nur nach billigem Ermessen möglich sei, bedürfe es sowohl bei individualrechtlicher als auch bei kollektivrechtlicher Grundlage sachlicher Gründe für die Wirksamkeit einer Kündigung.

Erdiente Leistungen, die den Umfang der beiderseitigen Hauptpflichten betreffen, können nach dieser Ansicht nur unter den Voraussetzungen des § 2 KSchG gekündigt oder aufgehoben werden. Nach Ansicht von Hilger/Stumpf ist die Kündigung einer Betriebsvereinbarung durch einen nach Dringlichkeit der Kündigung gestuften Vertrauensschutz eingeschränkt (BB 1990, 929, 931; Hilger, Festschrift für Gaul, 1992, S. 327, 333 ff.).

BAG 1 AZR 46/93

Der Senat hat sich keiner dieser Auffassungen anschließen können. Für eine Beschränkung der Kündigungsmöglichkeit von Betriebsvereinbarungen gibt es im BetrVG keine Anhaltspunkte.

aa) Die Kündigung einer Betriebsvereinbarung bedarf grundsätzlich keines sachlichen Grundes (ebenso BAGE 61, 87 = AP Nr. 40 zu § 77 BetrVG 1972; BAGE 61, 323 = AP Nr. 2 zu § 1 BetrAVG Betriebsvereinbarung; BAGE 64, 336 = AP Nr. 4 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung; BAG Beschluß vom 10. März 1992 – 3 ABR 54/91 – AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Betriebsvereinbarung).

Aus dem verfassungsrechtlichen ultima-​ratio-​Prinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit läßt sich nicht herleiten, daß der Arbeitgeber vor einer Beendigungskündigung die Möglichkeit einer Änderungskündigung der Betriebsvereinbarung zu prüfen hat. Hierzu bedarf es eines gesetzlichen Anknüpfungspunktes, der im Gegensatz zum Kündigungsschutzgesetz im Betriebsverfassungsgesetz fehlt (BAGE 64, 336, 342 f. = AP Nr. 4 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung, zu II 2 b (2) der Gründe; BAG Beschluß vom 10. März 1992, aaO, zu 2 c der Gründe; Loritz, RdA 1991, 65, 67 f.).

bb) Einer Einschränkung der Kündigungsmöglichkeit von Betriebsvereinbarungen steht entgegen, daß das BetrVG die Beendigung von Betriebsvereinbarungen in § 77 BetrVG ausdrücklich regelt und mit der Nachwirkungsregelung des § 77 Abs. 6 BetrVG für mitbestimmungspflichtige Betriebsvereinbarungen auch einen besonderen Schutz für die anspruchsberechtigten Arbeitnehmer gewährt.

Dies steht einer weitergehenden allgemeinen Einschränkung der Kündigungsmöglichkeit entgegen. Insbesondere scheidet aus diesem Grunde auch die Annahme einer unbewußten Regelungslücke als Voraussetzung für die analoge Anwendung des im Kündigungsschutzrecht anerkannten Vorrangs der Änderungskündigung vor der Beendigungskündigung aus (dazu BAGE 47, 26 = AP Nr. 8 zu § 2 KSchG 1969; BAGE 65, 61 = AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung). Im übrigen bestehen erhebliche Zweifel, ob diese Grundsätze, die speziell für die Kündigung von Arbeitsverhältnissen entwickelt worden sind, analogiefähig sind und auf die Kündigung von Betriebsvereinbarungen übertragen werden können (vgl. dazu Loritz, RdA 1991, 65, 69).

b) Von der Kündbarkeit einer Betriebsvereinbarung sind die Rechtsfolgen einer Kündigung zu unterscheiden. Der Dritte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat für Betriebsvereinbarungen über eine betriebliche Altersversorgung wiederholt darauf hingewiesen (zuletzt BAG Beschluß vom 10. März 1992 – 3 ABR 54/91 – AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Betriebsvereinbarung), daß der Arbeitnehmer Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung erst erhält, wenn er seinerseits vorgeleistet hat. Deshalb könne die vom Arbeitgeber zugesagte Gegenleistung auch nicht einfach wegfallen, ohne daß es hierfür rechtlich billigenswerte Gründe gebe.

BAG 1 AZR 46/93

Das gilt nach ständiger Rechtsprechung (BAG Beschluß vom 10. März 1992, aaO; BAG Urteil vom 18. April 1989, BAGE 61, 323 = AP Nr. 2 zu § 1 BetrAVG Betriebsvereinbarung) auch, wenn die betriebliche Altersversorgung in einer Betriebsvereinbarung zugesagt wird.

Auch die aufgrund einer Betriebsvereinbarung erworbenen Besitzstände werden nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes geschützt. Je stärker in diese Besitzstände eingegriffen wird, desto gewichtiger müssen die Änderungsgründe sein (BAGE 61, 323 = AP Nr. 2 zu § 1 BetrAVG Betriebsvereinbarung sowie Beschluß des Dritten Senats vom 10. März 1992, aaO, zu 2 d der Gründe).

Ob diese für die Betriebsvereinbarung über betriebliche Altersversorgung entwickelte Rechtsprechung auf andere Fallgestaltungen übertragen werden kann (dafür Hilger, Festschrift für Gaul, 1992, S. 327, 337 f.), kann vorliegend dahingestellt bleiben, weil sich der geltend gemachte Anspruch aus der Nachwirkung der Betriebsvereinbarung ergibt.

2. Trotz des Ablaufs der Kündigungsfrist am 30. September 1991 hat die Betriebsvereinbarung ihre unmittelbare Wirkung behalten, da die Betriebsvereinbarung Nachwirkung entfaltet.

a) Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Beschluß vom 21. August 1990, BAGE 66, 8 = AP Nr. 5 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung) sowie der Rechtsprechung des Dritten Senats (BAGE 61, 323 = AP Nr. 2 zu § 1 BetrAVG Betriebsvereinbarung), des Sechsten Senats (BAGE 64, 336 = AP Nr. 4 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung) und des Achten Senats (BAGE 61, 87 = AP Nr. 40 zu § 77 BetrVG 1972) wirken freiwillige Betriebsvereinbarungen nach erfolgter Kündigung nicht nach.

Dies gilt grundsätzlich auch für teilmitbestimmte Betriebsvereinbarungen über freiwillige Leistungen, bei denen der Betriebsrat nur hinsichtlich des Leistungsplans mitzubestimmen hat (vgl. die Entscheidungen des erkennenden Senats sowie des Dritten, Sechsten und Achten Senats, aaO, sowie Leinemann, BB 1989, 1905, 1908; von Hoyningen-​Huene, Betriebsverfassungsrecht, 2. Aufl., S. 204; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 77 Rz 42; Kreutz, GK-​BetrVG, 4. Aufl., § 77 Rz 338; Loritz, RdA 1991, 65, 75 ff.).

Im Beschluß vom 21. August 1990 (BAGE 66, 8 = AP Nr. 5 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung) hat der erkennende Senat unter ausführlicher Auseinandersetzung mit der abweichenden Auffassung im Schrifttum ausgeführt, daß dann, wenn die Betriebspartner eine Betriebsvereinbarung über eine freiwillige Leistung abgeschlossen haben, zu deren Gewährung der Arbeitgeber nicht über einen Spruch der Einigungsstelle gezwungen werden kann, die Arbeitnehmer auf diese freiwillige Leistung einen Anspruch nur solange haben, wie diese Betriebsvereinbarung in Kraft ist.

BAG 1 AZR 46/93

Der Umstand, daß die nähere Ausgestaltung der freiwilligen Leistung durch den sogenannten Leistungsplan der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterliegt, ändert daran nichts.

Ein solcher Leistungsplan ist grundsätzlich auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats bei freiwilligen Arbeitgeberleistungen nur solange von Bedeutung, als der Arbeitgeber die freiwillige Leistung erbringt (Senatsbeschluß vom 21. August 1990, aaO, zu B II 3 der Gründe).

Wenn der Arbeitgeber die freiwillige Leistung gänzlich und ersatzlos streichen will, kann es nach dem Wirksamwerden der Kündigung keine Nachwirkung der Betriebsvereinbarung mehr geben, weil dann für den Betriebsrat nichts mehr mitzubestimmen ist. Es gibt dann nichts mehr zu verteilen (Loritz, RdA 1991, 65, 76; Leinemann, BB 1989, 1905, 1908).

An dieser Rechtsprechung wird festgehalten (im Grundsatz zustimmend Kittner in seiner Anm. EzA § 77 BetrVG 1972 Nr. 36; ablehnend allerdings Schirge, DB 1991, 441).

b) Das Bundesarbeitsgericht hatte bisher nur über die Nachwirkung von teilmitbestimmungspflichtigen Betriebsvereinbarungen zu entscheiden, wenn der Arbeitgeber die (freiwillige) Leistung völlig zum Erlöschen bringen wollte. In diesen Fällen scheidet eine Nachwirkung nach Sinn und Zweck des § 77 Abs. 6 BetrVG schon deshalb aus, weil der nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bestimmungspflichtige Leistungsplan nur solange von Bedeutung ist, als der Arbeitgeber eine freiwillige Leistung erbringt (Senatsentscheidung vom 21. August 1990, BAGE 66, 8 = AP Nr. 5 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung).

Ausdrücklich offen gelassen hatte der Senat, wie zu entscheiden ist, wenn die Kündigung der Betriebsvereinbarung nur zu einer Verringerung des Volumens und einer Änderung des Verteilungsplans führen soll.

In diesen Fällen wirkt nach Überzeugung des Senats die Betriebsvereinbarung nach. Soll mit der Kündigung die Verringerung des Volumens für die freiwillige Leistung aus der Betriebsvereinbarung und die Änderung des Verteilungsplans erreicht werden, ist der mitbestimmungspflichtige Teil der Betriebsvereinbarung betroffen. Sinn der Nachwirkung nach § 77 Abs. 6 BetrVG ist es aber, aus der Mitbestimmungspflichtigkeit einer Regelung die Konsequenz zu ziehen, daß trotz Kündigung der Betriebsvereinbarung die mitbestimmte Regelung weitergilt (BAG Beschluß vom 21. August 1990, BAGE 66, 8 = AP Nr. 5 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung, zu B II 4 der Gründe).

BAG 1 AZR 46/93

Da nur die gesamte Betriebsvereinbarung nachwirken kann, führt die Anwendung von § 77 Abs. 6 BetrVG bei teilmitbestimmten Betriebsvereinbarungen zur Nachwirkung auch des mitbestimmungsfreien Teils. Das bedeutet eine gewisse überschießende Wirkung.

Daraus kann aber nicht der Schluß gezogen werden, bei teilmitbestimmungspflichtigen Betriebsvereinbarungen gebe es selbst dann keine Nachwirkung, wenn mit der Kündigung der Betriebsvereinbarung nur eine Verringerung des Volumens und eine Änderung des Leistungsplans beabsichtigt ist (so aber Loritz, RdA 1991, 65, 76 ff.), denn auch in diesen Fällen ersetzt der Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat.

Bei dem Spruch über eine die Nachwirkung ablösende Betriebsvereinbarung hat allerdings die Einigungsstelle das vom Arbeitgeber für die freiwillige Leistung zur Verfügung gestellte Volumen als mitbestimmungsfreie Vorgabe seiner Verteilungsentscheidung zugrunde zu legen (ebenfalls für eine Nachwirkung nur in diesen Fällen: Hanau, NZA 1985, Beilage 2, S. 3, 10; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., § 77 Rz 63; Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, BetrVG, 3. Aufl., § 77 Rz 65; Blomeyer/Otto, BetrAVG, Einl. Rz 198; dahin tendierend Kreutz, GK-​BetrVG, 4. Aufl., § 77 Rz 339).

Bei der vergleichbaren Problematik der Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf eine freiwillige Leistung bzw. des Widerrufs einer freiwilligen Zulage zu dem Zweck, das Zulagenvolumen zu kürzen und nach anderen Grundsätzen zu verteilen, besteht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein Mitbestimmungsrecht bezüglich der Neuverteilung des gekürzten Zulagenvolumens, bei dessen Nichtbeachtung der einzelne Arbeitnehmer einen Anspruch auf Weiterzahlung der Leistung in bisheriger Höhe hat (BAG Urteil vom 3. August 1982, BAGE 39, 277 = AP Nr. 12 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung und BAG Urteil vom 11. August 1992 – 1 AZR 279/90 – AP Nr. 53 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung).

3. Vorliegend hat die Beklagte die Betriebsvereinbarung am 5. Juni zum 30. September 1991 gekündigt und im unmittelbaren Anschluß daran am 6. Juni 1991 der Belegschaft mitgeteilt, das neue und niedrigere Niveau des freiwilligen Weihnachtsgeldes werde Gegenstand weiterer Verhandlungen mit dem Betriebsrat sein. Die Beklagte hatte also von vornherein vor, auch nach dem Ablauf der Kündigungsfrist (gekürzte) Mittel für die Zahlung eines freiwilligen Weihnachtsgeldes zur Verfügung zu stellen.

Sie hat sich auch entsprechend ihrer Ankündigung verhalten und mit dem Betriebsrat über eine neue Regelung des Weihnachtsgeldes verhandelt. Als sie feststellte, daß sie sich mit dem Betriebsrat nicht einigen konnte, hat sie allerdings nicht – wie § 87 Abs. 2 BetrVG vorschreibt – die Einigungsstelle angerufen, die das reduzierte Volumen für das Weihnachtsgeld bei ihrer Verteilungsentscheidung hätte zugrunde legen müssen, sondern hat am 26. September 1991 am Schwarzen Brett eine einseitig von ihr beschlossene Neuregelung des Weihnachtsgeldes ausgehängt, die auf einer Reduzierung des zur Verfügung gestellten Volumens beruhte und geringere Leistungen nach einem veränderten Verteilungsplan vorsah.

BAG 1 AZR 46/93

Während die Arbeitnehmer nach der Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 vom Eintrittsjahr an ein Weihnachtsgeld erhielten, das sich um bestimmte Prozentsätze steigerte, sieht die Weihnachtsgeldregelung vom 26. September 1991 für die ersten fünf Jahre der Betriebszugehörigkeit kein Weihnachtsgeld vor; vom 6. Jahr der Betriebszugehörigkeit an erhalten die Arbeitnehmer auch nach dieser Regelung ein – wenn auch geringeres – Weihnachtsgeld.

Hat die Beklagte also mit der Kündigung beabsichtigt, das Volumen für das Weihnachtsgeld zu reduzieren und den Verteilungsplan zu ändern, wirkt vorliegend die Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG nach.

Dementsprechend haben die Kläger einen Anspruch auf Zahlung von Weihnachtsgeld auf der Grundlage dieser Betriebsvereinbarung.

Dem Differenzbetrag von gezahltem Weihnachtsgeld und dem Anspruch aus der Betriebsvereinbarung vom 10. Oktober 1988 entsprechen die geltend gemachten Beträge, so daß die Klagen begründet sind.

Deshalb war auf die Revision der Kläger das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.

Dr. Kissel Dr. Weller Dr. Rost
Dr. Bartelt Schneider

BAG 1 AZR 46/93

Schlagworte

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Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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