Kammergericht Berlin 6 W 31/23 – Anfechtung der Erbausschlagung bei Irrtum über werthaltigen Nachlassgegenstand

März 21, 2024

Kammergericht Berlin 6 W 31/23 – Anfechtung der Erbausschlagung bei Irrtum über werthaltigen Nachlassgegenstand, Beschl. v. 19.10.2023

Zusammenfassung von RA und Notar Krau:

Der Beschluss des Kammergerichts Berlin 6 W 31/23 vom 19.10.2023 betrifft die Anfechtung der Erbausschlagung aufgrund eines Irrtums über einen werthaltigen Nachlassgegenstand.

Die verstorbene Erblasserin hatte ein gemeinschaftliches Testament mit ihrem verstorbenen Ehemann, in dem sie sich gegenseitig als Alleinerben einsetzten.

Das Testament enthielt keine Schlußerbeneinsetzung, so daß die Antragstellerin gesetzliche Erbin wurde.

Die Antragstellerin, adoptierte Tochter der Erblasserin, schlug das Erbe zunächst aus, da sie annahm, der Nachlass sei überschuldet, basierend auf ungenauen Informationen.

Später erfuhr sie von einem beträchtlichen Sparvermögen der Erblasserin und focht die Ausschlagung erfolgreich an.

Das Gericht entschied, dass die Antragstellerin gesetzliche Erbin ist und die Anfechtung der Erbausschlagung rechtens war, da ihr Irrtum kausal für die Ausschlagung war.

Somit wurde die Antragstellerin als alleinige Erbin anerkannt.

Inhaltsverzeichnis:

I. Einleitung

  • Hintergrund des Falls
  • Testamentarische Verfügung der Erblasserin

II. Vorhergehendes Erbscheinverfahren

  • Beschluss des AG Köpenick vom 15.3.2023 – 63 VI 946/22

III. Kammergericht Berlin 6 W 31/23 – Anfechtung der Erbausschlagung bei Irrtum über werthaltigen Nachlassgegenstand A. Sachverhalt

  • Familienverhältnisse der Erblasserin
  • Testamentarische Verfügung der Eheleute G. und X.
  • Ausschlagung der Erbschaft durch die Antragstellerin
  • Anfechtung der Ausschlagung und Erteilung eines Erbscheins B. Rechtliche Bewertung
  • Zulässigkeit der Beschwerde
  • Erfolg der Beschwerde
  • Beurteilung des Irrtums über den werthaltigen Nachlassgegenstand
  • Kausalität des Irrtums für die Ausschlagungserklärung

IV. Schlussfolgerung

  • Kostenentscheidung
  • Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde

vorhergehendes Erbscheinverfahren:

AG Köpenick Beschl. v. 15.3.2023 – 63 VI 946/22


Kammergericht Berlin 6 W 31/23 – Anfechtung der Erbausschlagung bei Irrtum über werthaltigen Nachlassgegenstand – Gründe:


I. Die am 12.1.2022 in Berlin verstorbene Erblasserin war in zweiter Ehe verheiratet mit dem vorverstorbenen G.

Aus dieser Ehe ist kein Kind hervorgegangen.

Beide Ehegatten hatten jedoch Kinder aus ihren ersten Ehen:


G. zwei Töchter und einen Sohn; die Erblasserin die Antragstellerin, die sie zusammen mit ihrem ersten Ehemann noch minderjährig an Kindes statt angenommen hatte.


Mit privatschriftlichem gemeinschaftlichem Testament vom 10./11.7.1997 verfügten die Eheleute wie folgt:


„Unser letzter Wille

Wir, die Eheleute G. und X., setzen uns gegenseitig zu Alleinerben ein.

Aus der Ehe sind keine gemeinsamen Kinder hervorgegangen.

Zwischen den Eheleuten wurde vereinbart, daß die 3 Kinder aus der geschiedenen Ehe des G., K., L. und M. sowie die Tochter aus der geschiedenen Ehe der X., Y., je 10.000 DM vor Wirksamwerden des gemeinsam erstellten Testaments, erhalten. (s. beiliegende Zahlungsbelege)

Mit dieser Vorableistung von insgesamt 40.000,- DM sind an den Überlebenden keine Forderungen auf ein Pflichtteil zu stellen. […]“

Eine Ablichtung dieses eröffneten Testaments wurde der Antragstellerin mit Verfügung des Nachlassgerichts vom 22.2.2022 zugestellt.

Unter dem 28.4.2022 schrieb das AG Köpenick – Nachlassgericht – sie wegen eingegangener Unterlagen des Bestattungsinstituts als potenzielle gesetzliche Erbin an.

Anfang Mai 2022 meldete sich die Vermieterin der Erblasserin wegen eventueller Mietforderungen und Räumungskosten beim Nachlassgericht.

Kammergericht Berlin 6 W 31/23 – Anfechtung der Erbausschlagung bei Irrtum über werthaltigen Nachlassgegenstand


Am 13.5.2022 schlug die Antragstellerin das Erbe vor dem AG Brandenburg an der Havel – Abteilung für Nachlasssachen – aus; hilfsweise focht sie die Annahme der Erbschaft durch Fristversäumnis an.

Sie erklärte ua zu Protokoll:


„Ich habe Ende Februar ein Testament der Erblasserin vom 11.7.1997 bekannt gegeben bekommen.

Mir wurden mit der Bekanntgabe keine weiteren Informationen zuteil.

Das Nachlassgericht übersandte mir schlicht eine Abschrift des Testaments. […]

Ich hatte jedoch daraus nicht den Schluss gezogen, dass ich ihre Erbin sein könnte.

Da ich seit vielen Jahren überhaupt nicht in Kontakt zu der Erblasserin stand, nahm ich an, sie hätte vielleicht eine weitere Person zu ihrer Erbin bestimmt, vielleicht deren Schwester.

Möglicherweise war mir die Verfügung […] nur bekannt gegeben worden, weil hierin ein Zahlungsanspruch zu meinen Gunsten erwähnt ist.


Ich sah mich aus diesen Gründen nicht veranlasst irgendetwas zu unternehmen.


Erst als ich das Schreiben des Nachlassgerichts vom 28.4.2022 erhielt und mit dem zuständigen Rechtspfleger am 9.5.2022 telefonierte, erfuhr ich, dass ich aus dem Testament hätte schließen sollen, dass ich gesetzliche Erbin geworden bin.

Die Frist zur Ausschlagung einer Erbschaft […] war bislang nicht bekannt. […]


Die angefallene Erbschaft schlage ich aus jedem Berufungsgrunde aus, einerlei ob der Anfall aufgrund gesetzlicher Erbfolge erfolgt oder auf einer Verfügung von Todes wegen […] beruht.

Hilfsweise fechte ich die Annahme der Erbschaft durch Fristversäumnis aus den og Gründen an.

Hätte ich nach Erhalt der Post vom 22.2.2022 […] gewusst, dass ich als Erbin in Betracht komme und diese Erbenstellung ausschlagen kann, hätte ich dies unmittelbar getan.“


Dieses Protokoll ging am 17.5.2022 beim zuständigen Nachlassgericht ein. Mitte Juni 2022 teilte das AG Köpenick – Nachlassgericht – der Vermieterin der Erblasserin mit, dass alle bekannt gewordenen Erben die Erbschaft ausgeschlagen hätten bzw. ausschlagen würden und Mittel zur Begleichung ihrer Ansprüche dem Nachlass (derzeit) nicht zur Verfügung stünden.


Ende Juni 2022 wurde die Antragstellerin sodann mündlich und schriftlich von dem ehemaligen Betreuer der Erblasserin darüber benachrichtigt, dass der Wert des Nachlasses etwa 350.000 EUR betrage.

Seinem Rat folgend focht sie am 19.7.2022 die Ausschlagung der Erbschaft vor dem AG Köpenick an.

Sie erklärte wiederum wörtlich zu Protokoll:


„Ich habe in Unkenntnis über den Wert des Nachlasses am 13.5.2022 die Annahme der Erbschaft angefochten, nachdem ich mit Schreiben vom 22.2.2022 von Tod [sic] meiner Mutter durch Übersendung einer Abschrift des Testamentes informiert worden bin,

Mit dem Schreiben des Gerichts konnte ich nichts anfangen.

Die Ausschlagung erfolgte ohne Begründung aus allen Berufungsgründen, weil ich mit der Sache nichts zu tun haben wollte. […]

Im Übrigen verweise ich auf meine Stellungnahme, die als Anlage zum Protokoll genommen werden soll. […]“


In der Anlage heißt es auszugsweise:


„Dabei [bei der Ausschlagung] bin ich davon irrtümlich ausgegangen, dass der Nachlass überschuldet ist.

Mit meiner Mutter hatte ich schon lange keinen Kontakt, hatte also keine Kenntnis davon, was im Nachlass enthalten sein könnte. […]

Am 9.5.2022 telefonierte ich mit dem Rechtspfleger R., der mir mitteilte, aus diesen Unterlagen könne er ersehen, dass Mietrückstände bestünden und weitere Kosten für die Wohnung und deren Räumung anfallen würden.

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Es sei auch ein Kontoauszug der Volks-/Raiffeisenbank dabei, aus dem ein Kontostand um die 200 EUR im Haben ersichtlich sei, was aber nicht ausreiche, um die angeführten Kosten zu decken.

Er empfahl mir, die Erbschaft auszuschlagen wegen des überschuldeten Nachlasses.

Dies tat ich dann am 13.5.2022 vor dem AG Brandenburg.


Am 28.6.2022 erhielt ich einen Anruf von einem Rechtsanwalt B. […]

Daraufhin teilte er mir mit, dass meine Mutter zum Zeitpunkt ihres Todes über Vermögen iHv etwa 350.000 EUR verfügte, und zwar als Bankeinlagen. […]


Die Bankeinlagen fallen in den Nachlass.

Damit ist der Nachlass werthaltig.

Hiermit erkläre ich, die Anfechtung der Erbschaftsausschlagung wegen Irrtums und nehme die Erbschaft nach meiner Mutter ausdrücklich an“.


Der Rechtspfleger hielt in einem Vermerk vom selben Tage fest, noch nie jemandem empfohlen zu haben, das Erbe auszuschlagen.


Die Antragstellerin strebt die Erteilung eines Erbscheins an, wonach die Erblasserin allein von ihr beerbt wird.


Das AG Köpenick – Nachlassgericht – hat mit Beschluss vom 15.3.2023 den Erbscheinsantrag zurückgewiesen.

Die Antragstellerin sei nicht gesetzliche Erbin, ihre Anfechtung der Annahme der Erbschaft wirksam.

Insbesondere liege kein Inhaltsirrtum vor.

Die Ausschlagung sei erfolgt, weil die Antragstellerin „mit der Sache nichts zu tun haben zu wollte“.

Sie habe zudem ohne Weiteres die Möglichkeit gehabt, sich über den Nachlasswert zu informieren, etwa durch eigene Nachforschungen bei dem Betreuungsgericht.

Zwar müssten ihr zu diesem Zeitpunkt bereits Gläubigeranfragen vorgelegen haben.

Darauf sei die Antragstellerin, die sich gerade nicht auf eine Überschuldung des Nachlasses bezogen habe, jedoch mit keinem Wort eingegangen.


Gegen diesen, der Antragstellerin am 23.3.2023 zugestellten Beschluss richtet sich ihre Beschwerde vom 28.3.2023, die am 31.3.2023 bei dem AG Köpenick eingegangen ist.

Die Antragstellerin verweist darauf, vom Rechtspfleger am 9.5.2022 mündliche Informationen erhalten zu haben, die auf eine Überschuldung des Nachlasses hindeuten konnten, weswegen sie die Ausschlagung, hilfsweise die Anfechtung der Annahme der Erbschaft erklärt habe.

Der Rechtspfleger sei für die Bescheidung des Erbscheinsantrags unzuständig gewesen.

Die Ausschlagungsfrist sei vor ihrer Ausschlagungserklärung bereits abgelaufen gewesen, die Anfechtung der Annahme unwirksam.

Jedenfalls habe sie nach Kenntnis der Zusammensetzung des Nachlasses eine etwaige Anfechtung der Annahme wirksam angefochten.

Sie habe sich darüber geirrt, dass nachträglich bekanntgewordenes Nachlassvermögen zu berücksichtigen sei.


Das Nachlassgericht hat mit Beschluss vom 7.6.2023 der Beschwerde nicht abgeholfen.

Es stehe außer Frage, dass das gemeinschaftliche Testament nach dem ersten Erbfall erschöpft gewesen sei, weswegen die gesetzliche Erbfolge gelte.

Es möge zutreffen, dass das Gericht am Telefon von einem seinerzeit bekannten Guthaben gesprochen habe.

Der Antragstellerin habe nur der aus der Akte erkennbare Verfahrensstand bzw. Nachlasswert mitgeteilt werden können.

Es liege kein Motivirrtum vor, da die Antragstellerin bei Kenntnis ihrer Erbenstellung das Erbe sofort ausgeschlagen hätte.


II.

Kammergericht Berlin 6 W 31/23 – Anfechtung der Erbausschlagung bei Irrtum über werthaltigen Nachlassgegenstand

Die Beschwerde der Antragstellerin ist gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässig, sie ist insbesondere form- und fristgerecht bei dem Nachlassgericht eingegangen.


Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Denn die Antragstellerin ist alleinige gesetzliche Erbin der Erblasserin; eine entgegenstehende testamentarische Verfügung liegt nicht vor, der Rechtspfleger war für das Verfahren zuständig (unter 1).

Zwar hat die Antragstellerin das Erbe zunächst nach §§ 1942 ff. BGB ausgeschlagen mit der Wirkung, dass der Anfall der Erbschaft gemäß § 1953 Abs. 1 BGB als nicht erfolgt galt (unter 2).

Sodann hat sie ihre Ausschlagungserklärung jedoch wirksam angefochten, so dass ihre Anfechtung gemäß § 1957 Abs. 1 BGB als Annahme gilt (unter 3).

Bereits ursprünglich war die Antragstellerin als Adoptivtochter der Erblasserin (zu angenommenen Kindern siehe Weidlich in: Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 1924 Rn. 10) nach gesetzlicher Erbfolge gemäß § 1924 Abs. 1 BGB Alleinerbin.

Eine entgegenstehende testamentarische Verfügung liegt nicht vor.

Das gemeinschaftliche Testament vom 10./11.7.1997 war mangels Schlusserbeneinsetzung nach dem ersten Erbfall erschöpft; die Antragstellerin stützt ihr Begehren auf Erteilung eines Erbscheins entsprechend auch auf gesetzliche Erbfolge (anders als die Beschwerdeführerin in dem von der Antragstellerin zitierten Beschluss des OLG München vom 28.4.2021, 31 Wx 154/21), weswegen der Rechtspfleger für das Erbscheinsverfahren funktionell zuständig war.

Zunächst hat die Antragstellerin das Erbe nach §§ 1942 ff. BGB ausgeschlagen mit der Wirkung, dass der Anfall der Erbschaft gemäß § 1953 Abs. 1 BGB als nicht erfolgt galt.

Ihre gemäß § 1945 BGB formgerecht vor dem AG Brandenburg an der Havel, Abteilung für Nachlasssachen, zu Protokoll erklärte Ausschlagung erfolgte auch – anders als die Antragstellerin selbst meint – binnen der sechswöchigen Ausschlagungsfrist des § 1944 Abs. 1 BGB.

Diese Frist beginnt erst mit der Kenntniserlangung des Erben von dem Anfall und Grunde der Berufung zu laufen (§ 1944 Abs. 2 BGB).

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Diese maßgebliche „Kenntnis“ des Betroffenen setzt nach gefestigter Rechtsprechung – schon des Reichsgerichts – ein zuverlässiges Erfahren der in Betracht kommenden Umstände voraus, aufgrund dessen ein Handeln von ihm erwartet werden kann

(BGH Entscheidung v. 19.2.1968, III ZR 196/65, Rn. 26 mwN).

Dem Erben müssen die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände in so zuverlässiger Weise bekannt geworden sein, dass von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, in die Überlegungen über Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft einzutreten

(vgl. OLG Zweibrücken Beschl. v. 23.2.2006 – 3 W 6/06, Rn. 17 ff.;

BayObLG Beschl. v. 26.8.1993 – 1Z BR 80/93, Rn. 12 mwN).


Erforderlich ist, dass der Erbe Kenntnis vom Tod des Erblassers hat und bestimmt weiß, dass er entweder aufgrund Gesetzes oder Verfügung von Todes wegen Erbe geworden sei.

Nach herrschender Meinung, die auch der Senat teilt, ist bei gesetzlicher Erbfolge Kenntnis des Berufungsgrundes dann anzunehmen, wenn dem gesetzlichen Erben die Familienverhältnisse bekannt sind und er nach den Gesamtumständen keine begründete Vermutung hat oder haben kann, dass eine ihn ausschließende letztwillige Verfügung vorhanden sei.

Bei abgerissener Familienbande ist der Ausschluss als gesetzlicher Erbe auch als naher Angehöriger nicht unwahrscheinlich. Dagegen hindert die bloße Unkenntnis vom Fristbeginn sowie der Ausschlagungsmöglichkeit den Fristbeginn nicht

(siehe dazu Krätzschel in: Krätzschel ua, Nachlassrecht, 12. Aufl. (2022), § 16 Rn. 16 mwN;

Weidlich, aaO, § 1944 Rn. 3 f. mwN;

OLG Zweibrücken, aaO, Rn. 19;

OLG Celle Beschl. v. 7.2.2022 – 6 W 188/21, Rn. 6;

OLG Schleswig Beschl. v. 20.6.2016 – 3 Wx 96/15, Rn. 16 f.).

Der Erbe muss also auch wissen, dass er selbst Erbe geworden ist und aus welchem konkreten erbrechtlichen Tatbestand sich die rechtliche Folge seiner Berufung ergibt; ein Kennenmüssen oder eine (grob) fahrlässige Unkenntnis seiner Erbenstellung steht einer Kenntnis nicht gleich, auf Verschulden kommt es nicht an

(vgl. Weidlich, aaO, § 1944 Rn. 2 mwN).


Danach ist es zwar irrelevant, dass der Antragstellerin die Frist zur Ausschlagung einer Erbschaft nicht bekannt war.

Sie hatte jedoch nicht schon aufgrund der schlichten Übersendung des eröffneten Testamentes vom 10./11.7.1997 die erforderliche Kenntnis ihrer Erbenstellung.

Vielmehr konnte sie angesichts der Gesamtumstände, insbesondere infolge des lange abgebrochenen Kontakts zu der Erblasserin annehmen, es gebe noch eine testamentarische Erbeinsetzung einer der Erblasserin näher stehenden Person.

Die Antragstellerin war vom Nachlassgericht auch nicht als (potenzielle) gesetzliche Erbin angeschrieben worden.

Ihre Annahme, die Verfügung vom 10./11.7.1997 sei ihr nur deswegen bekannt gegeben worden, weil hierin ein Zahlungsanspruch zu ihren Gunsten erwähnt sei, ist vor diesem Hintergrund – zumal weil sie offenkundig rechtsunerfahren ist – plausibel.

Erst mit dem Anschreiben des Nachlassgerichts vom 28.4.2022 sind ihr die tatsächlichen bzw. rechtlichen Umstände in so zuverlässiger Weise bekannt geworden, dass von ihr erwartet werden konnte, in die Überlegungen über Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft einzutreten.

Denn es gibt keinen Anhalt, dass die Antragstellerin vor Zugang dieses Schreibens durch anderweitige Informationen von ihrer Erbenstellung zuverlässige Kenntnis erhalten haben könnte.

Die zunächst wirksame Ausschlagungserklärung hat die Antragstellerin jedoch am 19.7.2022 wirksam angefochten, so dass ihre Anfechtung gemäß § 1957 Abs. 1 BGB als Annahme gilt.


Die Anfechtungserklärung erfolgte an diesem Tage formgerecht nach § 1955 BGB vor dem Nachlassgericht und auch innerhalb der sechswöchigen Anfechtungsfrist des § 1954 Abs. 1 BGB.

Die Antragstellerin hat erst Ende Juni 2022 durch schriftliche und mündliche Mitteilung des ehemaligen Betreuers der Erblasserin erfahren, dass zum Aktivnachlass auch Sparvermögen in ganz erheblichem Umfang gehörte, der Nachlass also nicht überschuldet war.

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Entgegen der Ansicht des Nachlassgerichts stand der Beteiligten auch ein Anfechtungsrecht nach § 119 Abs. 2 BGB zu:


Die Ausschlagung der Erbschaft kann nur nach den allgemeinen Vorschriften über Willenserklärungen unter Lebenden gemäß §§ 119 ff. BGB angefochten werden

(vgl. etwa BGH Beschl. v. 22.3.2023 – IV ZB 12/22, Rn. 14;

Weidlich, aaO, § 1954 Rn. 1 mwN).

Die irrtümliche Annahme, der Nachlass sei überschuldet, stellt nach der herrschenden Meinung, die auch der Senat teilt, nur dann einen Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses iSd § 119 Abs. 2 BGB dar, wenn er auf einer unrichtigen Vorstellung über die Zusammensetzung des Nachlasses beruhte, wenn also der Erbe nur deshalb von einer Überschuldung ausging, weil er keine Kenntnis von einem weiteren werthaltigen Nachlassgegenstand hatte

(ständige Rechtsprechung des Senats, siehe etwa: Beschl. v. 20.2.2018 – 6 W 1/18;

vgl. auch BGH Urt. v. 8.2.1989 – BGHZ 106, 359;

OLG Düsseldorf Beschl. v. 31.1.2011 – I-3 Wx 21/11, juris Rn. 16 mwN).

Dagegen liegt kein die Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB begründender Irrtum vor, wenn die Ausschlagung unabhängig von Grund und Höhe der Erbschaft oder aufgrund befürchteter Überschuldung des Nachlasses auf der Grundlage ungenauer zeitferner Informationen erfolgte

(OLG Düsseldorf, aaO, juris Rn. 18 ff.;

OLG Hamburg Beschl. v. 7.3.2018 – 2 W 31/16, juris 26 f.).

Wer nicht aufgrund einer Bewertung ihm bekannter oder (relevanter) zugänglicher Fakten zu dem Ergebnis gelangt war, die Erbschaft ausschlagen zu wollen, sondern seine Entscheidung auf spekulativer Grundlage getroffen hatte, kann sich nicht auf einen Anfechtungsgrund berufen

(OLG Düsseldorf Beschl. v. 17.10.2016 – I-3 Wx 155/15, juris Rn. 19).


Unabhängig vom Wortlaut der Ausschlagungserklärung ist es ausreichend, aber auch notwendig, dass die angefochtene Erklärung tatsächlich auf einem entsprechenden Irrtum beruhte und dass dies aufgrund der Umstände des Einzelfalles zur notwendigen Überzeugung des Gerichts festgestellt werden kann

(vgl. Senat Beschl. v. 20.2.2018, 6 W 1/18; Beschl. v. 3.8.2018, 6 W 23/18).

Daher teilt der Senat nicht die Ansicht des Nachlassgerichts, ein entsprechender Irrtum der Antragstellerin könne schon deshalb nicht festgestellt werden, weil diese in ihrer Ausschlagungserklärung angegeben habe, sie hätte ihre Erbenstellung unmittelbar nach Erhalt der Post vom 2.2.2022 ausgeschlagen, wenn sie gewusst hätte, als Erbin in Betracht zu kommen, bzw. weil sie im Rahmen ihrer Anfechtungserklärung am 19.7.2022 zu Protokoll erklärte, die Ausschlagung sei erfolgt, weil sie „mit der Sache nichts zu tun haben wollte“.

Denn die in den Blick zu nehmenden Gesamtumstände führen zu der Überzeugung des Senats, dass die Ausschlagung tatsächlich auf den aktuellen mündlichen Mitteilungen des Nachlassgerichts zur Zusammensetzung des Nachlasses beruhte.


Die Antragstellerin hat in der Anlage zu Protokoll ihrer Anfechtungserklärung erklärt, der Rechtspfleger habe ihr telefonisch mitgeteilt, aus den ihm vorliegenden Unterlagen könne er ersehen, dass Mietrückstände der Erblasserin bestünden und weitere Kosten für die Wohnung und deren Räumung anfallen würden.

Weiterhin sei einem Kontoauszug der Volks-/Raiffeisenbank zu entnehmen, dass das vorhandene Guthaben die angeführten Kosten nicht decken könne.

Der Rechtspfleger hat diese Mitteilungen für möglich gehalten, auch wenn er den weiter von der Antragstellerin behaupteten Rat zur Ausschlagung für ausgeschlossen hält.

Danach ging die Antragstellerin im Zeitpunkt der Ausschlagung infolge aktueller Informationen, die sie vom Nachlassgericht erhalten hatte, von einer Überschuldung des Nachlasses aus.

Wenn sie vor diesem Hintergrund zu Protokoll erklärte, sie hätte das Erbe in Kenntnis ihrer Erbenstellung unmittelbar ausgeschlagen, heißt das nicht, dass ihr dabei der Wert des Nachlasses gleichgültig war.

Vielmehr spricht die Vehemenz ihrer Aussage dafür, dass sie einen überschuldeten Nachlass im Sinn hatte.

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Anderenfalls hätte sie sich vom Nachlassgericht auch nicht über einzelne Positionen des Nachlasses informieren lassen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus ihrer protokollierten Erklärung, „mit der Sache nichts zu tun haben“ zu wollen.

Denn auch diese ist in dem vorbeschriebenen Kontext zu bewerten, was die Antragstellerin durch die vorzitierten Ausführungen in der der Erklärung beigefügten Anlage selbst zum Ausdruck gebracht hat.


Danach ist bei Berücksichtigung der Gesamtumstände ohne Zweifel davon auszugehen, dass sich die Antragstellerin bei Abgabe ihrer Ausschlagungserklärung am 13.5.2022 über die Zusammensetzung und damit eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses geirrt hat, weil sie von den werthaltigen Bankeinlagen erst durch die schriftlichen und mündlichen Informationen des ehemaligen Betreuers der Erblasserin erfahren hat.


Dieser Irrtum war auch kausal für ihre Ausschlagungserklärung.

Die Kausalität des Irrtums für eine angefochtene Ausschlagungserklärung ist danach zu beurteilen, ob der Erklärende bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falles die Ausschlagung nicht erklärt hätte

(vgl. OLG Düsseldorf Beschl. v. 16.11.2016 – I-3 Wx 12/16, juris Rn. 17).

Dies ist hier anzunehmen, da die Antragstellerin im Falle der Kenntnis des vorhandenen Sparvermögens nicht von einer Überschuldung des Nachlasses ausgegangen wäre.

Vielmehr hätte sie einen sechsstelligen Betrag vor Augen gehabt, mit dem sie nicht nur die noch ausstehenden Schulden der Erblasserin begleichen, sondern auch die Räumung der Wohnung durch Dritte leicht finanzieren konnte.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.

Gerichtskosten fallen für das erfolgreiche Rechtsmittel nicht an, §§ 22 Abs. 1, 25 Abs. 1 GKG.

Ihre außergerichtlichen Kosten muss die Antragstellerin mangels eines Verfahrensgegners ohnehin selbst tragen.


Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 S. 1 FamFG nicht vorliegen.

Die grundsätzlichen Rechtsfragen sind in der Rechtsprechung geklärt.

Der Senat weicht von dieser nicht ab.

Im Übrigen handelt es sich um eine Entscheidung, die auf der Würdigung des Sachverhalts im Einzelfall beruht.

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Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

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Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

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