LAG Hamm, Urteil vom 20.08.2015 – 11 Sa 553/15

Juni 27, 2020

LAG Hamm, Urteil vom 20.08.2015 – 11 Sa 553/15
Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Paderborn vom 01.04.2015 – 4 Ca 316/15 – abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 11.11.2014 zum 30.06.2015 nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand

Der Kläger ist seit dem 01.06.1978 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt zu einem Bruttomonatsgehalt von 3.141,65 € im Bereich der Rollerhead-Anlage in der Vorstufenfertigung.

Der Kläger ist an Morbus Crohn erkrankt. Seit dem Jahr 2000 ist der Kläger wiederholt krankheitsbedingt ausgefallen. Von 2010 bis 2014 sind insbesondere folgende Krankheitszeiten angefallen:

2010 29 Arbeitstage

2011 49 Arbeitstage

2012 80 Arbeitstage

2013 31 Arbeitstage

2014 47 Arbeitstage

Wegen der Art der Erkrankungen des Klägers in den letzten Jahren ab dem 17.08.2011 wird auf den vom Kläger im Berufungsrechtszug vorgelegten “Gesamtauszug Leistungen” der Krankenkasse Bezug genommen (Anlage K 7 Bl. 147 GA). Der Kläger verfügt über einen GdB von 40. Inzwischen ist der Kläger durch Bescheid der Bundesagentur für Arbeit vom 27.04.2015 mit Wirkung ab dem 17.11.2014 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt (Bl. 122 GA).

Der Beklagten entstanden für Krankheitszeiten des Klägers seit 2010 Entgeltfortzahlungskosten i.H.v. 27.405,14 €, die sich wie folgt zusammensetzen:

2010 4.476,15 € für 29 Arbeitstage

2011 7.838,76 € für 49 Arbeitstage

2012 6.543,45 € für 37 Arbeitstage

2013 5.528,85 € für 31 Arbeitstage

2014 3.017,93 € für 17 Arbeitstage

Auf die von der Beklagten insoweit vorgelegten schriftlichen Auswertungen wird ergänzend Bezug genommen (Anlagen B 1 – B 7, Bl. 59 – 65 GA). Aufgrund der häufigen Fehlzeiten des Klägers forderte die Beklagte den Kläger zweifach auf, an der Durchführung eines Eingliederungsmanagements teilzunehmen (Anlage B 8, Bl. 66, 67 GA, Anlage B 10, Bl. 69 GA). Der Kläger lehnte dies ab (Anlage B 9, Bl. 68 GA). Bei der Beklagten bestand bis Ende 2015 die Möglichkeit der Beantragung einer Altersteilzeit. Der Kläger sprach darüber mit dem Personalreferenten der Beklagten, Herrn C. Diese Gespräche haben nicht dazu geführt, dass der Kläger diese Möglichkeit wahrnehmen konnte.

Mit Schreiben vom 03.11.2014 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer krankheitsbedingten Kündigung des Klägers an (Anlage B 12, Bl. 71 ff GA). Mit Schreiben vom 10.11.2014 teilte der Betriebsrat mit, er habe von der beabsichtigten krankheitsbedingten Kündigung Kenntnis genommen. Mit Schreiben vom 11.11.2014 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2015. Mit Schreiben vom 17.11.2014 wies der Kläger die Kündigung wegen Fehlens eines Nachweises über die ordnungsgemäße Vollmacht zurück. Die Kündigung war unterschrieben von Herrn V, einem der Geschäftsführer der Beklagten, und Herrn S aus der Personalabteilung.

Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit der bei Gericht am 26.11.2014 eingegangenen Klage.

Der Kläger hat behauptet, der Beklagten sei bereits seit längerem bekannt, dass er an Morbus Crohn erkrankt sei. Seine Fehlzeiten seien aber nicht nur auf diese Erkrankung sondern unter anderem auch auf einen Bandscheibenvorfall zurückzuführen. Eine betriebliche Beeinträchtigung durch die Krankheitstage bestünde nicht. Bei der Beklagten sei ein Schichtbetrieb eingerichtet und es gebe für ihn, den Kläger, Vertreter. Es könne zudem auch auf Leiharbeitnehmer zurückgegriffen werden. Die entstandenen Lohnfortzahlungskosten stünden zu den übrigen Lohnkosten der Beklagten insgesamt in keinem Verhältnis, so dass auch aufgrund der geleisteten Entgeltfortzahlung keine Beeinträchtigung der Beklagten bestünde.

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 11.11.2014 zum 30.6.2015 beendet worden ist.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet, ihr sei lediglich bekannt gewesen, dass der Kläger eine Darmerkrankung habe. Dass es sich dabei um Morbus Crohn handele, habe sie nicht gewusst. Durch den Ausfall des Klägers sei es in der Vergangenheit bereits zu erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen gekommen. Dies zeige sich zum einen in der für den Kläger in der Zeit seines Krankheitsausfalls angefallenen Entgeltfortzahlungskosten in Höhe von 27.405,14 €. Zudem sei es durch den Ausfall des Klägers zu erheblichen Betriebsablaufstörungen und weiteren Kosten bekommen. Durch seine Tätigkeit in der Vorstufenproduktion habe sein Ausfall auch Auswirkungen auf andere Produktionsabteilungen, da diese das von dem Kläger hergestellte Material für die Produktion benötigten. Ausfälle in der Vorstufenfertigung führten daher zwangsläufig zu Produktionsverzögerungen oder sogar Produktionsstillständen. In dem Arbeitsbereich des Klägers gebe es zwar einen eingesetzten Springer und es sei zusätzlich möglich, über Umbesetzungen innerhalb der Abteilung Urlaub oder Krankheitstage im Normalmaß zu kompensieren. Dies sei jedoch nicht für alle Fälle des Ausfalles des Klägers möglich gewesen. So hätten mindestens sieben Schichten im Jahr 2014 am Arbeitsplatz des Klägers nicht anderweitig besetzt werden können. In einigen Fällen sei es erforderlich gewesen, die für die Produktion notwendigen Mischungen bei anderen Unternehmen zuzukaufen, was mit höheren Kosten verbunden sei. Bei einer Schichtgruppenstärke von 7 Mitarbeitern zuzüglich eines Springers führe der Ausfall des Klägers zu einer Minderleistung von mindestens 10 %. Bei einem kompletten Ausfall der Schichtgruppe sei von einer Minderleistung von mindestens 50 % auszugehen. Direkte Schäden, welche durch die hohen Fehlzeiten des Klägers aufgetreten seien, seien zum einen der Totalausfall der Schichtgruppenleistungen in einer Größenordnung von mehr als 192.000 € sowie eine Minderleistung durch reduzierte Schichtgruppenleistungen in einer Größenordnung von mehr als 209.000 €. Zudem hätten die generell hohen Abwesenheitszeiten des Klägers dazu geführt, dass Mitarbeiter aus seiner Abteilung Urlaub hätten verschieben bzw. Schichtgruppen hätten tauschen müssen. Dies führe zu Unmut innerhalb der Abteilung und erschwere die tägliche Arbeit des Abteilungsleiters extrem.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 01.04.2015 abgewiesen. Die Kündigung sei nicht nach § 174 BGB unwirksam, da der Geschäftsführer die Kündigung unterschrieben habe. Die Kündigung sei sozial gerechtfertigt gemäß § 1 Abs. 2 KSchG. Eine negative Gesundheitsprognose sei aufgrund der Fehlzeiten der Vergangenheit begründet. Die prognostizierten Fehlzeiten führten zu einer erheblichen Belastung der Beklagten. Die Beklagte müsse für die Zukunft mit erheblichen außergewöhnlichen Entgeltfortzahlungskosten rechnen, die jährlich jeweils einen Zeitraum von sechs Wochen überschritten. Im Durchschnitt der Jahre 2011 bis 2014 errechne sich ein Wert von 33,5 entgeltfortzahlungspflichtigen Krankheitstagen im Jahr. Soweit die Beklagte weitere Kosten als Folge des Ausfalls des Klägers geltend mache, sei ihr Vortrag für eine derartige Feststellung nicht ausreichend. Betriebsablaufstörungen habe die Beklagte nicht ausreichend substantiiert vorgetragen. Die Interessenabwägung verlaufe zu Gunsten der Beklagten. Für den Kläger seien zwar eine Betriebszugehörigkeit von 37 Jahren und ein Lebensalter von mittlerweile 58 Jahren sowie ein GdB von 40 zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite seien 15 Jahre von insgesamt 37 Jahren durch häufige krankheitsbedingte Ausfallzeiten des Klägers geprägt. Das wiederholt angebotene betriebliche Eingliederungsmanagement habe der Kläger nicht angenommen. Der Beklagten sei eine weitere Hinnahme der Beeinträchtigungen nicht zuzumuten.

Das Urteil ist dem Kläger am 10.04.2015 zugestellt worden. Der Kläger hat am 16.04.2015 Berufung eingelegt und die Berufung zugleich begründet.

Der Kläger wendet ein, entgegen der Entscheidung des Arbeitsgerichts sei die Kündigung sozial ungerechtfertigt. Nur ein Teil der jährlichen Entgeltfortzahlungstage sei auf Morbus Crohn zurückzuführen (EFZ aufgrund Morbus Crohn: 0 Tage in 2012, 8 Tage in 2013, 17 Tage in 2014). Insgesamt seien in 2014 weniger als 30 entgeltfortzahlungspflichtige Tage aufgetreten. In 2013 habe es nur 31 entgeltfortzahlungspflichtige Tage gegeben. Dabei sei es in 2013 zu 5 Krankheitstagen wegen “Störung der Vestibularfunktion” und zu 18 Krankheitstagen wegen “Akuter Infektion der oberen Atemwege” gekommen. Beide Erkrankungen seien vollständig ausgeheilt, was der von der Schweigepflicht entbundene behandelnde Arzt bestätigen könne. Damit fehle es an einer negativen Prognose. Das Arbeitsgericht habe nicht berücksichtigt, dass er nun zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement bereit sei. Die Beklagte habe keinen anderen Schaden als die Entgeltfortzahlungskosten dargelegt. Der Vortrag zu Betriebsablaufstörungen sei unsubstantiiert und werde bestritten. Die Beklagte habe seine jahrzehntelange Arbeitsleistung in 37 Jahren Betriebszugehörigkeit nicht ansatzweise gewürdigt. Seine Tochter sei schwerkrank, habe einen GdB von 80 und habe eine begonnene Ausbildung krankheitsbedingt abbrechen müssen. Außerdem schulde er seiner Ehefrau Unterhalt. Bei der Alterszeit habe ihn Herr C falsch beraten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des ArbG Paderborn vom 01.04.2015 aufzuheben und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 11.11.2014 zum 30.06.2015 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts. Entgegen der Darstellung des Klägers seien auch die nun angeführten 5 und 18 Krankheitstage in 2013 für die Prognose zu berücksichtigen (weitere Einzelheiten S.2, 3 der Berufungsbeantwortung, Bl. 138, 139 GA). Gegebenenfalls sei ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. Die Bereitschaft zum betrieblichen Eingliederungsmanagement sei erst nach Zugang der Kündigung erklärt worden und deshalb hier ohne Belang. Für das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen reichten alleine erhebliche Lohnfortzahlungskosten aus. Sonstige Betriebsablaufstörungen müssten nicht hinzukommen. Sie habe diese lediglich ergänzend vorgetragen. Alle bisherigen Entgeltfortzahlungskosten seien auf chronische Erkrankungen zurückzuführen. Die Interessenabwägung des Arbeitsgerichts sei zutreffend. Sie habe in den letzten 15 Jahren mit dem Ausspruch einer Kündigung gewartet. Innerhalb dieser 15 Jahre sei der Kläger an insgesamt 570 Arbeitstagen arbeitsunfähig krank gewesen (Fehlzeitenquote von 17,6 %). Seit 2010 habe sie allein 27.405,14 € Entgeltfortzahlung geleistet.

Ergänzend wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.
Gründe

I. Die Berufung des Klägers ist statthaft und zulässig gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, Abs. 2 c) ArbGG. Der Kläger hat die Berufung form- und fristgerecht entsprechend den Anforderungen der §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO eingelegt und begründet.

II. Auf die Berufung des Klägers war das Urteil des Arbeitsgerichts abzuändern. Es war festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die angegriffene Kündigung vom 29.03.2010 aufgelöst worden ist. Die Kündigung vom 30.05.2012 ist nach § 1 Abs. 1, Abs. 2 KSchG sozial ungerechtfertigt und deshalb rechtsunwirksam.

1. Die Kündigung ist an den Vorschriften des KSchG zu messen. Die Voraussetzungen der §§ 1 Abs.1, 23 Abs.1 KSchG für das Eingreifen des allgemeinen gesetzlichen Kündigungsschutzes sind unstrittig erfüllt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien bestand im Zeitpunkt der Kündigung länger als 6 Monate. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig (weit) mehr als zehn Arbeitnehmer. Der Kläger hat die Kündigung fristgerecht innerhalb der dreiwöchigen Klagefrist des § 4 KSchG gerichtlich angegriffen.

2. Die Kündigung ist entgegen der Entscheidung des Arbeitsgerichts nicht wegen häufiger Erkrankungen des Klägers gerechtfertigt. Die Voraussetzungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts an die soziale Rechtfertigung einer krankheitsbedingt ausgesprochenen Kündigung zu stellen sind, sind nicht erfüllt.

a) Die soziale Rechtfertigung einer Kündigung wegen wiederholter Erkrankungen ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG in drei Stufen zu prüfen (zu diesen Grundsätzen: BAG 08.11.2007 AP KSchG 1969 Personenbedingte Kündigung Nr. 29; BAG 07.11.2002 AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 40; BAG 20.01.2000 AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 38 Krankheit; ErfK-Oetker, 14.Aufl. 2014, § 1 KSchG Rn. 138-151; APS-Dörner/Vossen, 4.Aufl. 2012, § 1 KSchG Rn. 138 ff; KR-Griebeling, 10.Aufl. 2013, § 1 KSchG Rn. 319 ff, insb. 325 ff).

aa) Die drei Prüfungsstufen sind:

(1) Zunächst ist eine negative Gesundheitsprognose erforderlich. Aufgrund bislang aufgetretener Krankheitszeiten muss davon auszugehen sein, dass der Arbeitnehmer auch zukünftig über erhebliche Zeiträume krankheitsbedingt ausfallen wird. Aus Häufigkeit und Dauer der Erkrankungen des Arbeitnehmers mit jeweils gleichartigen Krankheitsursachen in vorausgegangenen Jahren kann auf eine entsprechende Prognose für die Zukunft zu schließen sein. Das gilt nicht, wenn die Krankheiten nur einmalig aufgetreten oder ausgeheilt sind. Ebenfalls aus der Betrachtung auszunehmen sind Ausfallzeiten, die auf unfallbedingt eingetretene Gesundheitsbeeinträchtigungen zurückzuführen sind; auch diese sind nicht prognoserelevant. Als erheblich im Sinne einer negativen Gesundheitsprognose kommen wiederholte Fehlzeiten in Betracht, die jährlich den Sechswochenzeitraum für die Entgeltfortzahlung nach dem EFZG übersteigen.

(2) In der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob die bisherigen und nach der Prognose zu erwartenden krankheitsbedingten Fehlzeiten die betrieblichen Interessen des Arbeitgebers erheblich beeinträchtigen. Erhebliche Beeinträchtigungen können dabei durch schwerwiegende Störungen im Produktionsprozess (Betriebsablaufstörungen) oder durch wirtschaftliche Belastungen hervorgerufen werden. Eine erhebliche wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers kann insbesondere auch in vergangenen und zukünftig zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten liegen, die vom Arbeitgeber jährlich jeweils für einen Zeitraum von mehr als 6 Wochen aufzuwenden sind.

(3) In der dritten Stufe, bei der Interessenabwägung, ist zu untersuchen, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen. Die Beeinträchtigung des Arbeitgebers ist dem Interesse des Arbeitnehmers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses gegenüber zu stellen. Zu berücksichtigen ist einerseits das Ausmaß der Beeinträchtigung des Arbeitgebers, ob etwa nur Betriebsablaufstörungen oder ausschließlich hohe wirtschaftliche Belastungen zu erwarten sind oder ob aus beiden Gesichtspunkten Belastungen zu besorgen sind. Auf der Seite des Arbeitnehmers sind demgegenüber insbesondere die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Alter, der Familienstand und etwaige Unterhaltspflichten von Belang. Daneben kann es beispielsweise darauf ankommen, ob die Erkrankungen u.U. auf betriebliche Ursachen zurückzuführen sind.

bb) Bei der Prüfung der Belastung durch Entgeltfortzahlungskosten sind auf der zweiten und dritten Prüfungsstufe die nachfolgenden weiteren Grundsätze von Belang: Es ist zwischen der Erheblichkeit der Entgeltfortzahlungskosten für den zweiten Prüfungsschritt und der nötigen Unzumutbarkeit für den dritten Prüfungsschritt zu unterscheiden (Gallner/Mestwerdt/Nägele, Kündigungsschutzrecht, 5. Aufl. 2015, § 1 KSchG Rn. 569 [Gallner/Denecke] mwN). Beschränkt sich die erhebliche Beeinträchtigung ganz oder im Wesentlichen auf den Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten, so setzt die soziale Rechtfertigung der krankheitsbedingten Kündigung außergewöhnlich hohe Entgeltfortzahlungskosten voraus, die den gesetzlichen Fortzahlungszeitraum des § 3 EFZG deutlich überschreiten (BAG 08.11.2007 AP KSchG 1969 § 1 Personenbedingte Gründe Nr. 29; BAG 05.07.1990 AP KSchG 1969 Krankheit Nr. 26). Sind jährliche Entgeltfortzahlungskosten von mehr als 6 Wochen zu prognostizieren, so liegt eine erhebliche wirtschaftliche Beeinträchtigung im Sinne der zweiten Prüfungsstufe vor. Auf der dritten Prüfungsstufe müssen dann nach der Rechtsprechung des BAG die Entgeltfortzahlungskosten außergewöhnlich bzw. extrem hoch sein, um die weitere Beschäftigung wegen der Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten nicht hinnehmbar und damit das Auflösungsinteresse des Arbeitgebers überwiegend erscheinen zu lassen (BAG 15.07.1990 – 2 AZR 154/90 – AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 26 unter II 2 a BAG 13.06.1990 – 2 AZR 527/89 – unter III 1; ). So hat das Bundesarbeitsgericht das Interesse des Arbeitgebers an einer Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses in einem Fall als vorrangig angesehen, in dem der dortige Kläger jährlich 45 entgeltfortzahlungspflichtige Arbeitstage zu erwarten hatte, erst knapp 25 Jahre alt war und im zweiten Beschäftigungsjahr stand (BAG 06.09.1989 AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr.21). In dem bereits zitierten Urteil vom 05.07.1990 hat das BAG ausgeführt, es sei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht den Sechs-Wochen-Zeitraum um das Doppelte überschreitende Lohnfortzahlungskosten im Rahmen der Interessenabwägung als außerordentlich hoch angesehen habe (BAG 05.07.1990 AP KSchG 1969 Krankheit Nr. 26). In einem weiteren Urteil vom 20.10.2000, bei dem der – schwerbehinderte – Arbeitnehmer in den letzten drei Kalenderjahren vor Ausspruch der Kündigung 66, 68 und 102 entgeltfortzahlungspflichtige Arbeitstage aufwies, hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts für eine Wirksamkeit der Kündigung aufgehoben und den Rechtsstreit zur abschließenden Entscheidung über die Interessenabwägung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen (BAG 20.01.2000 AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 38). In einem Urteil aus dem Jahr 2002 hat das Bundesarbeitsgericht außergewöhnliche, besonders hohe Belastungen und eine soziale Rechtfertigung der krankheitsbedingten Kündigung in einem Fall bejaht, in dem der Arbeitnehmer über einen Zeitraum von 3 Jahren und knapp 10 Monaten mehr als 60 Wochen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall erhalten hatte (BAG 07.11.2002 -2 AZR 493/01-). Bram vertritt die Auffassung, zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen zum EFZG seien zu erwartende Entgeltfortzahlungskosten, die den Sechs-Wochen-Zeitraum nicht um mindestens 50% überstiegen, nicht außergewöhnlich hoch und damit nicht erheblich (BBDK-Bram, Kommentar zum KSchG, Stand: Mai 2013, § 1 KSchG Rn.133). Andere Autoren lehnen es ab, generell auf eine bestimmte Quote von beispielsweise jährlich 15% oder 25% der jährlichen Arbeitstage oder eine Entgeltfortzahlungsquote von 25% über dem Sechswochenzeitraum als Grenze für die Belastbarkeit des Arbeitgebers abzustellen (APS-Dörner, 4.Aufl. 2012, § 1 KSchG Rn. 170; KR-Griebeling, 10.Aufl. 2013, § 1 KSchG Rn.342, 347; v. Hoyningen-Huene-Krause, KSchG, 15.Aufl. 2013, § 1 KSchG Rn. 410,411; Stahlhacke-Preis-Vossen, 11.Aufl. 2015, Rn. 1256, 1266 ).

b) Den unter 1. dargestellten Anforderungen genügt die zu überprüfende Kündigung nicht. Die zu prognostizierenden zukünftigen Beeinträchtigungen der Beklagten sind nicht so erheblich, dass die Beklagte zur Kündigung berechtigt wäre. Die Abwägung der Interessen auf der dritten Prüfungsstufe fällt zugunsten des Klägers aus. Das gilt auch dann, wenn man zugunsten der Beklagten alle vergangenen Krankheitszeiträume als prognoserelevant zugrunde legt.

aa) Es besteht dann eine negative Zukunftsprognose im Sinne der ersten Prüfungsstufe. Der Kläger versäumte seit 2011 Jahr für Jahr krankheitsbedingt mehr als 30 Arbeitstage, zumeist sogar deutlich mehr als 30 Arbeitstage. Es errechnet sich für den Zeitraum Januar 2011 bis November 2014 ein Durchschnittswert von etwa 54 krankheitsbedingt versäumten Arbeitstagen im Jahr.

bb) Bei unterstellter Prognoserelevanz aller Krankheitstage sind auch die Anforderungen der zweiten Prüfungsstufe erfüllt.

(1) Für den Zeitraum Januar 2011 – November 2014 ergeben sich insgesamt 134 Arbeitstage mit Entgeltfortzahlungspflicht. Für die Jahre 2011 – 2013 errechnet sich ein Durchschnittswert von jährlich 39 Tagen mit Entgeltfortzahlungspflicht. Bei Einbeziehung von 10,5 Monaten aus 2014 mit 17 entgeltfortzahlungspflichtigen Arbeitstagen sinkt der Durchschnittswert auf etwa 35 entgeltfortzahlungspflichtige Tage. Eins solche Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten ist erheblich im Sinne der zweiten Prüfungsstufe

(2) Davon abgesehen ist allerdings festzuhalten, dass die Beklagte in der Vergangenheit eingetretene und zukünftig zu besorgende Betriebsablaufstörungen und daraus etwaig resultierende weitere wirtschaftliche Belastungen nicht in einer für die soziale Rechtfertigung einer Kündigung zureichenden Weise aufgezeigt hat. Schwerwiegende Störungen im betrieblichen Ablauf sind nur dann als Kündigungsgrund geeignet, wenn sie nicht durch mögliche Überbrückungsmaßnahmen vermieden werden können. Können und werden Ausfallzeiten durch den Einsatz eines Arbeitnehmers aus einer vorhandenen Personalreserve oder durch Neueinstellung einer Aushilfskraft überbrückt, so liegt bereits objektiv keine Betriebsablaufstörung und damit insoweit kein zur sozialen Rechtfertigung geeigneter Grund vor (BAG 02.11.1989 – 2 AZR 23/89 – unter B.I. 2.a). Ist eine Betriebsablaufstörung mit den geschilderten Mitteln nicht zu vermeiden, so gehört zum Kündigungsgrund, dass die verursachte Störung erheblich ist (BAG aaO unter B.I.2.a). Im Kündigungsschutzprozess hat der Arbeitgeber im einzelnen substantiiert aufzuzeigen, dass gerade der Ausfall des gekündigten Arbeitnehmers nicht oder nur in unwesentlichem Umfang in der geschilderten Art überbrückt werden konnte. Dies ist jeweils bezogen auf die einzelnen Ausfallzeiten des gekündigten Arbeitnehmers darzulegen (BAG aaO unter B.III; APS-Dörner, 4 .Aufl. 2012, § 1 KSchG Rn. 156). Hier hat die Beklagte nicht aufgezeigt, zu welchen tatsächlichen Beeinträchtigungen im betrieblichen Ablauf es bezogen auf die einzelnen Krankheitszeiten des Klägers jeweils gekommen ist. Konkret eingetretene Störungen wie Maschinenstillstände, Produktionsausfälle, Materialverluste o.ä. hat die Beklagte für die einzelnen Krankheitsperioden nicht dargelegt. Ebenfalls hat die Beklagte nicht nachvollziehbar aufgeführt, dass sie in den einzelnen Krankheitsperioden aus betriebsorganisatorischen Gründen zusätzliche finanzielle Belastungen hat tragen müssen. Dies hat bereits das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt (S. 9 -11 des erstinstanzlichen Urteils). Darauf kann verwiesen werden. Insoweit hat die Beklagte im zweiten Rechtszug keine Einwände erhoben und auch keine neuen Tatsachen dargelegt.

cc) Die Interessenabwägung der dritten Prüfungsstufe fällt zugunsten des Klägers aus. Die erhebliche Beeinträchtigung der Beklagten beschränkt sich nach ihren prozessualen Darlegungen ganz oder zumindest im Wesentlichen auf den Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten. Angesichts des langjährigen Bestandes des Arbeitsverhältnisses seit 1978 und damit seit mehr als 35 Jahren, angesichts des vorgerückten Lebensalters des Klägers und seiner sonstigen sozialen Situation genügen die auf der dargestellten Grundlage zu prognostizierenden zukünftigen Belastungen nicht den Anforderungen der Rechtsprechung. Die zu prognostizierenden Entgeltfortzahlungskosten liegen nur um wenige Tage über dem Sechswochenzeitraum des EFZG. Sie sind nicht außergewöhnlich hoch im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung. Das gilt auch, wenn man berücksichtigt, dass das Arbeitsverhältnis nicht nur in den letzten zwei oder drei Jahren sondern bereits seit 2000 mit deutlich überdurchschnittlichen Krankheitszeiten und erheblichen Entgeltfortzahlungskosten belastet ist. In diesem Zusammenhang ist zusätzlich von Bedeutung, dass bei der Krankheitsentwicklung keine zunehmende Tendenz zu verzeichnen ist. Im Jahr der Kündigung ist der sechswöchige Entgeltfortzahlungszeitraum sogar deutlich unterschritten worden (17 Arbeitstage bis zum 11.11.2014) und auch im Jahr 2013 ist der Sechswochenzeitraum nur um einen Arbeitstag überschritten (31 Arbeitstage). Insgesamt weist die Anzahl der entgeltfortzahlungspflichtigen Tage seit 2011 eine durchgängig abnehmende Tendenz auf: 49 – 37 – 31 – 17. An der Interessenabwägung zugunsten des Klägers ändert auch der Umstand nichts, dass der Kläger das von der Beklagten angebotene betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM / § 84 Abs. 2 SGB IX) abgelehnt hat. Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, am BEM mitzuwirken. Das Unterlassen des BEM ist “kündigungsneutral” (BAG 24.03.2011 – 2 AZR 170/10 – AP ArbGG 1979 Nr. 6 = NZA 2011, 993; Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, 4. Aufl. 2014, § 84 SGB IX Rn. 61 [Düwell]).

III. Die unterlegene Beklagte hat gemäß § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine über den entschiedenen Einzelfall hinausgehende grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG. Das Urteil der Kammer weicht nicht von einer Entscheidung der in § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG genannten Gerichte ab.

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Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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