Landesarbeitsgericht Hamm: Urteil vom 17.11.2015 – 4 Sa 44/15

Juni 19, 2020

Landesarbeitsgericht Hamm: Urteil vom 17.11.2015 – 4 Sa 44/15

1. Die Kündigung eines Versorgungstarifvertrags können die Tarifparteien von besonderen Voraussetzungen abhängig machen, deren Vorliegen diejenige Partei darzulegen und zu beweisen hat, die sich auf die Wirksamkeit der Kündigung beruft.

2. Die Auslegung einer derartigen Klausel als arbeitgeberseitiger Widerrufsvorbehalt kommt auch in Versorgungstarifverträgen, die vor Inkrafttreten des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung vom 05.10.1994 zum 01.01.1999 geschlossen wurden, regelmäßig nicht in Betracht.

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 25.11.2014 – Az. 1405/14 – abgeändert.

Es wird festgestellt, dass auf das Arbeitsverhältnis der Parteien der Tarifvertrag über die Ruhegeldordnung vom 21.12.1959 in der Fassung vom 30.09.1998 Anwendung findet.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, welcher Tarifvertrag für die dem Kläger zugesagte betriebliche Altersversorgung maßgeblich ist.

Die Beklagte betreibt im F-S-Kreis den öffentlichen Personennahverkehr. Sie ist Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband und unterfiele damit dem Geltungsbereich des Spartentarifvertrags Nahverkehrsbetriebe in Nordrhein-Westfalen (TV-N NW). Für die betriebliche Zusatzversorgung verweist § 19 TV-N auf den Tarifvertrag über die zusätzliche Altersvorsorge der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes vom 01.03.2002 (ATV-K; s. ABl. 22 – 62), aktuell in der Fassung vom 30.05.2011. Danach gilt das für die Zusatzversorgung im Öffentlichen Dienst seit dem 01.01.2001 eingeführte sogenannte Punktemodell.

Der 1963 geborene Kläger ist seit dem 25.02.1991 als Busfahrer bei der Beklagten beschäftigt, derzeit als Betriebsratsvorsitzender freigestellt. Grundlage des Arbeitsverhältnisses der Parteien ist ein Arbeitsvertrag vom 25.02.1991, in dem es unter anderem heißt:
” . . . § 9 Der Anspruch auf Ruhegeld richtet sich nach den Bestimmungen des Tarifvertrages über eine Ruhegeldordnung vom 01. April 1989 und der diesen Tarifvertrag etwa ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträge oder anderweitigen Regelungen in ihrer jeweils gültigen Fassung. . . . “

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Arbeitsvertrags wird auf Aktenblatt 20 und 21 verwiesen.

Der Kläger ist Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di.

Bei der Beklagten galt hinsichtlich der betrieblichen Altersversorgung seit vielen Jahren ein ursprünglich am 21.12.1959 als Haustarifvertrag abgeschlossener “Tarifvertrag über die Ruhegeldordnung”, zuletzt in der Fassung vom 30.09.1998. Darin heißt es unter § 20:
” . . . § 20 Geltungsdauer Diese Ruhegeldordnung tritt am 01.09.1998 in Kraft. Sie kann erstmalig mit einer Frist von drei Monaten zum 31.08.1999 und von da ab mit Drei-Monats-Frist zum 31.08. eines jeden Jahres gekündigt werden, und zwar a) seitens der W, wenn die bei der Erteilung der Versorgungszusage maßgebenden Verhältnisse sich nachhaltig so wesentlich geändert haben, daß der W die Aufrechterhaltung der zugesagten Leistungen, auch unter objektiver Beachtung der Belange der Versorgungsberechtigten, nicht mehr zugemutet werden kann, oder wenn die rechtliche, insbesondere die steuerrechtliche Behandlung der Aufwendungen, die zur planmäßigen Finanzierung der Versorgungsleistungen von der W gemacht werden oder gemacht worden sind, sich so wesentlich ändert, daß der W die Aufrechterhaltung der zugesagten Leistungen nicht mehr zugemutet werden kann; b) seitens der ÖTV mit dem Ziele auf Verbesserung der zugesagten Leistungen. Im übrigen gilt dieser Tarifvertrag gemäß § 4 Absatz 5 TVG solange weiter, bis er durch einen anderen ersetzt wird. Diese Ruhegeldordnung tritt an die Stelle aller bisherigen Bestimmungen über eine zusätzliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung für die Arbeitnehmer in der Verkehrsgesellschaft F-S mbH, und ihrer Vorgängergesellschaften. Die letztgenannten Bestimmungen treten damit außer Kraft. Sollten darin Besserstellungen enthalten sein, gelten sie nur insofern weiter, als dies in diesem Tarifvertrag ausdrücklich geregelt ist. . . . “

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Ruhegeldordnung (RGO) wird auf Aktenblatt 63 bis 72 verwiesen.

Nach der RGO wird den Beschäftigten der Beklagten eine betriebliche Altersversorgung im Wege der sogenannten Gesamtversorgung zugesagt. Die Beklagte hat den Tarifvertrag zum 31.08.2004 gekündigt. Nachfolgend fanden mit der Rechtnachfolgerin der tarifschließenden Gewerkschaft ÖTV, der Ver.di, Verhandlungen statt, die jedoch ohne Ergebnis blieben. Die Beklagte wandte zunächst weiterhin die Bestimmungen der RGO in der Annahme an, sie sei daran im Wege der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG gebunden. Noch bis zum 30.06.2012 wurde neu eintretenden Mitarbeitern eine Versorgungszusage nach Maßgabe der RGO erteilt. Mit Schreiben vom 08.02.2012 wandte sich die Beklagte an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und teilte mit, man beabsichtige nunmehr, mit der Gewerkschaft Ver.di bis zum 30.06.2012 eine Einigung zu erzielen oder anderenfalls ab dem 01.07.2012 den ATV-K anwenden.

Mit Schreiben vom 12.06.2013 teilte die Beklagte dem Kläger unter Berücksichtigung seines bis zum 30.06.2012 erworbenen Besitzstands eine Startgutschrift nach den Bestimmungen des ATV-K mit. Der Kläger legte hiergegen mit Schreiben vom 20.02.2014 Einspruch ein.

Die wirtschaftliche Entwicklung der Beklagten seit dem Jahr 2001 (in EUR) stellt sich wie folgt dar:
2001 2002 2003 2004 2005 2006 Jahresüberschuss/ -fehlbetrag 58.394 -763.732 -2.296.436 -1.015.104 2.929 -3.560 abzüglich einmaliger Ereignisse -7.950 0 Jahresfehlbetrag bereinigt 58.394 -763.732 -2.296.436 -1.015.104 -5.021 -3.560 durchschnittliches Eigenkapital 18.586.435 18.206.016 16.677.380 15.021.610 15.979 15.663 Eigenkapitalendite 0,31 -4,19 -13,77 -6,76 -31,4 -22,8 Verpflichtungsumfang für Ruhegeldzahlungen und Pensionsrückstellungen 9.048.000 9.462.000 10.138.000 10.462.000 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Jahresüberschuss/ -fehlbetrag -1.540 252 -2.102 -2.257 -2.793 -1.427 abzüglich einmaliger Ereignisse 0 -1.228 0 307 -304 629 Jahresfehlbetrag bereinigt -1.540 -976 -2.102 -2.564 -2.489 -2.056 durchschnittliches Eigenkapital 13.113 12.469 11.544 9.558 7.226 5.116 Eigenkapital in % -11,7 -7,8 -18,2 -26,8 -34,4 -40,2 Verpflichtungsumfang für Ruhegeldzahlungen und Pensionsrückstellungen

Wegen der weiteren Einzelheiten wird außerdem auf die Jahresabschlüsse der Beklagten für die Jahre 2001 – 2004 auf ABl. 270 – 273 und 275 – 286 verwiesen.

Der Kläger hat vorgetragen, der vorgenommene Tarifwechsel sei unzulässig. Die gesetzliche Nachwirkung der RGO sei nicht durch eine andere Abmachung, nämlich den ATV-K beendet worden. Die RGO verdränge als spezieller und sachnäherer Tarifvertrag weiterhin den ATV-K. Jener Tarifvertrag sei vor Beginn des Nachwirkungszeitraums abgeschlossen worden, sodass ihm nicht der Wille der Tarifvertragsparteien entnommen werden könne, nachwirkende Firmentarifverträge zu ersetzen. Der Auffassung, dass ein nur noch nachwirkender Tarifvertrag einen unmittelbar und zwingend geltenden anderen Tarifvertrag nicht verdrängen könne, sei nicht zu folgen. Anderenfalls hätte der Arbeitgeber es in der Hand, durch Kündigung eines Haustarifvertrags konkurrierende Tarifverträge anzuwenden. Dies wiederspreche dem Grundgedanken des Art. 9 Abs. 3 GG. Das Kräfteverhältnis solle gewahrt bleiben. Auch die Neufassung des ATV-K vom 14.06.2005 führe nicht zu einer Ersetzung. Abzustellen sei auf den Zeitpunkt des Abschlusses des ATV-K.

Der Kläger hat beantragt:
festzustellen, dass auf sein Beschäftigungsverhältnis weiterhin der Tarifvertrag über die Ruhegeldordnung vom 21.12.1959 in der Fassung vom 30.09.1998 Anwendung findet.

Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, seit 2004 habe sich ihre wirtschaftliche Lage stets verschlechtert. Es habe einen ständigen Eigenkapitalverzehr gegeben. Bereits 2010/2011 sei erkennbar gewesen, dass bei einer Fortschreibung dieser Entwicklung eine Aufzehrung des Eigenkapitals und eine daraus folgende Insolvenzgefahr innerhalb einer Frist von maximal vier Jahren gedroht habe. Ein wesentlicher Faktor in diesem Zusammenhang seien die erforderlichen Rückstellungen für die Anwartschaften gewesen, die auf der Grundlage der RGO zu bilden gewesen seien. Diese seien kontinuierlich angestiegen und hätten das Unternehmensergebnis belastet. Hinzu gekommen seien Belastungen, die durch das Inkrafttreten des Bilanzrechtmodernisierungsgesetzes im Jahr 2010 bewirkt worden seien. Deshalb seien schon im Jahr 2004 Verhandlungen mit der Gewerkschaft Ver.di aufgenommen worden, um eine zeitgemäße und branchenübliche Regelung in Bezug auf die betriebliche Altersversorgung zu finden. Bedauerlicherweise hätten die Verhandlungen nicht zu einem Abschluss geführt. Nachdem 2012 für sie erkennbar gewesen sei, dass die Gewerkschaft Ver.di keinen Argumenten zugänglich sei, habe sie die Verhandlungen für gescheitert erklärt und Versorgungszusagen ab dem 01.01.2013 an den Regelungen des ATV-K ausgerichtet. Die RGO finde keine Anwendung mehr. Sie sei gemäß § 4 Abs. 5 TVG mit Wirkung zum 01.09.2004 durch den ATV-K ersetzt worden. Der Vorrang eines Firmentarifvertrags gegenüber einem Verbandstarifvertrag sei auf seine Laufzeit beschränkt. Ein nur noch nachwirkender Tarifvertrag könne einen unmittelbar und zwingend geltenden Tarifvertrag nicht verdrängen. Jedenfalls dann, wenn es keine Bestrebung mehr gebe, einen neuen Tarifvertrag abzuschließen, oder wenn ein solcher Abschluss durch eine Vertragspartei endgültig abgelehnt werde, sei die Nachwirkung eines Tarifvertrags nach § 4 Abs. 5 TVG ausgeschlossen. Anderenfalls hätte es die Gewerkschaft in der Hand, durch Ablehnung aller Angebote einseitig eine unbefristete Fortdauer des ursprünglichen Tarifvertrags durchzusetzen, was mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar sei. Danach wäre, selbst wenn man eine vorübergehende Nachwirkung annehmen würde, die RGO spätestens zum 30.06.2012 beendet gewesen, weil zu diesem Zeitpunkt die Verhandlungen mit der Ver.di gescheitert gewesen seien. Der Kläger übersehe, dass die RGO spätestens durch den ATV-K in seiner Neufassung vom 14.06.2005 abgelöst worden sei.

Das Arbeitsgericht Hagen hat die Klage durch Urteil vom 25.11.2014 in vollem Umfang abgewiesen. Zur Begründung führt es aus, die Klage sei zulässig, denn der Kläger habe ein rechtliches Interesse an alsbaldiger Feststellung, nach welchem Tarifvertrag sich seine Versorgungsrechte richteten. Da die Beklagte die von ihm geltend gemachten Versorgungsrechte aus der RGO bestreite, sei das betriebsrentenrechtliche Rechtsverhältnis durch eine tatsächliche Unsicherheit gefährdet. Dies begründe ein Bedürfnis an einer alsbaldigen Klärung. Die Klage sei jedoch nicht begründet, denn das vom Kläger zur Entscheidung gestellte Rechtsverhältnis bestehe nicht. Die RGO sei nach Kündigung zum 31.08.2004 nicht mehr anwendbar. Zwar habe dieser Tarifvertrag ursprünglich kraft beiderseitiger Tarifbindung allein und nach Inkrafttreten des ATV-K mit Wirkung zum 01.01.2001 in Anwendung des Grundsatzes der Tarifspezialität gegolten. Die Tarifkonkurrenz habe aber zum 31.08.2004 geendet. Der Vorrang des Haustarifvertrags gegenüber dem Verbandstarifvertrag beschränke sich auf seine Laufzeit. Die durch einen Haustarifvertrag verdrängten Regelungen eines vollwirksamen Verbandstarifvertrags lebten dann wieder auf. § 4 Abs. 5 TVG stehe nicht entgegen. Der Gesetzeszweck sei die Vermeidung von Regelungslücken. Solche Regelungslücken entstünden jedoch nicht, wenn nunmehr ein Verbandstarifvertrag die bisher von dem spezielleren Haustarifvertrag beherrschten Arbeitsverhältnisse erfasse. Der ATV-K stelle sich als eine “andere Abmachung” im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG dar. Nichts anderes folge aus § 20 Abs. 2 RGO. Auch eine bereits zu einem früheren Zeitpunkt getroffene andere Abmachung könne die Nachwirkung ersetzen. § 4 Abs. 5 TVG sei nicht im zeitlichen Sinne, sondern funktional zu verstehen. Jedenfalls müsse die weitere Entwicklung berücksichtigt werden. Die Verhandlungen der Tarifvertragsparteien seien von der Beklagten am 30.06.2012 für endgültig gescheitert erklärt worden. Zumindest dadurch sei der nachwirkende Firmentarifvertrag von dem unmittelbar und zwingend geltenden Verbandstarifvertrag verdrängt worden. Anderenfalls hätte die Gewerkschaft es in der Hand, durch Ablehnung aller Angebote über viele Jahre einseitig eine unbefristete Fortdauer eines Firmentarifvertrags durchzusetzen. Es komme hinzu, dass der ATV-K nach Beendigung der RGO unter Mitwirkung der zuständigen Gewerkschaft Ver.di mehrfach geändert und neu gefasst worden sei. Dennoch hätten die Tarifvertragsparteien eine Einschränkung des persönlichen Geltungsbereichs nicht vorgenommen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Urteils wird auf Aktenblatt 130 bis 146 verwiesen.

Der Kläger hat gegen das ihm am 16.12.2014 zugestellte Urteil mit am 09.01.2015 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 16.03.2015 mit am 16.03.2015 eingegangenem Schriftsatz begründet.

Der Kläger trägt vor, das Arbeitsgericht habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass der Tarifvertrag über die Altersversorgung im Öffentlichen Dienst bereits seit dem Jahr 1967 existiere. Zu dem vom Gericht genannten Datum sei lediglich das System der Gesamtversorgung auf ein Punktemodell umgestellt worden. Damit sei die Bezugnahme im Arbeitsvertrag angesprochen. Die Parteien des Arbeitsvertrags hätten ganz bewusst eine andere als die im Bereich des KAV sonst übliche Altersversorgungsregelung zur Anwendung bringen wollen. Im Arbeitsvertrag werde zwar nicht nur auf die RGO in der Fassung vom 01.04.1989, sondern auch auf ergänzende, ändernde und ersetzende Tarifverträge verwiesen, wobei allerdings Bezugspunkt immer “dieser” Tarifvertrag sei, also die Ruhegeldordnung selbst. Andere Tarifverträge würden mit der Bezugnahmeklausel nicht angesprochen. Schon deshalb hätte seinem Antrag stattgegeben werden müssen. Das Arbeitsgericht habe auch nicht berücksichtigt, dass nach Kündigung der RGO auch für die danach eingestellten Arbeitnehmer der Tarifvertrag bis zum 30.06.2012 weiter voll Anwendung gefunden habe, obwohl die Beklagte in den Jahren 2006 bis mindestens 2010 keine Bemühungen um Abschluss eines Änderungstarifvertrags entfaltet habe. Damit stelle sich die Frage, ob nicht eine betriebliche Übung oder eine Gesamtzusage begründet worden sei oder zumindest ein Anspruch auf Gleichbehandlung bestehe. Weiter sei zu berücksichtigen, dass § 20 Abs. 2 RGO eine von der gesetzlichen Regelung abweichende Regelung enthalte. Nachwirkung gelte danach nämlich, anders als im Gesetz, bis zum Zeitpunkt der Änderung durch einen anderen Tarifvertrag. Es sei also nicht jede Abmachung unabhängig von ihrer Qualität geeignet, die RGO abzulösen. Durch den Verbandstarifvertrag habe dies nicht geschehen können, weil dieser schon vorher existiert habe und nicht darauf ausgerichtet gewesen sei, die RGO abzulösen. Nach § 20 Abs. 2 RGO könne die Nachwirkung nur durch einen unmittelbar auf Ablösung der RGO gerichteten Tarifvertrag entfallen.

Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass § 20 RGO eine Beschränkung des Kündigungsrechts enthalte. Das Vorliegen von Kündigungsgründen werde bestritten. Soweit die Beklagte sich auf eine stets verschlechternde wirtschaftliche Lage berufe, werde dies jedenfalls insoweit bestritten, als hierdurch zum Ausdruck kommen solle, dass die Gewährung der Leistungen der Altersversorgung ihr nicht mehr zuzumuten sei. Nicht nachzuvollziehen sei, dass sie die sinkende Eigenkapitalquote beklagte, aber nicht erläutere, warum die Entwicklung der Eigenkapitalquote wesentlich drastischer ausgefallen wäre, wenn das Versorgungswerk nach der RGO nicht geschlossen worden wäre. Öffentlich-rechtliche Verkehrsunternehmen seien regelmäßig auf Zuschüsse der Trägerkommunen angewiesen. Im Rahmen der Interessenabwägung müsse daher berücksichtigt werden, welche Belastungen den Trägern zumutbar seien, um es nicht zu einer wirtschaftlichen Schieflage kommen zu lassen. Im Übrigen könne von einer Unzumutbarkeit wohl kaum die Rede sein, wenn die Beklagte die gekündigte Regelung auf freiwilliger Basis sogar für Neueinstellungen fortgeführt habe. Offenbar seien die Belastungen in den zehn Jahren nach der Kündigung hinnehmbar gewesen. Wie sich in den Folgejahren gezeigt habe, sei eine Überschuldung oder Insolvenz nicht eingetreten. Die Tarifvertragsparteien hätten in § 20 RGO die sonst übliche Kündigungsmöglichkeit beschränkt. Die Rechtsprechung zum Widerrufsvorbehalt könne auf das Kündigungsrecht nicht übertragen werden. Die Beklagte sei auf die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung zu verweisen. Sonst würde die eingeschränkte Kündigungsmöglichkeit in ihr Gegenteil verkehrt. § 20 Abs. 2 TV-RGO gebe nur die gesetzliche Folge einer Kündigung wieder. Darin einen weiteren Kündigungstatbestand sehen zu wollen, sei verfehlt.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 25.11.2014 – 5 Ca 1405/14 – abzuändern und festzustellen, dass auf das Arbeitsverhältnis der Parteien der Tarifvertrag über die Ruhegeldordnung vom 21.02.1959 i.d.F. vom 30.09.1998 Anwendung findet.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und trägt unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens ergänzend vor, mit § 9 des Arbeitsvertrags mit dem Kläger vom 25.02.1991 hätte bewirkt werden sollen, dass jeweils der Tarifvertrag in Bezug auf die betriebliche Altersversorgung zur Anwendung komme, an den sie kraft Gesetzes unmittelbar und zwingend gebunden sei. Vom Wortlaut erfasst seien ausdrücklich auch die die RGO ersetzende Tarifverträge. Dies habe zur Folge, dass seit dem 01.09.2004 der TV-N NW in Verbindung mit dem ATV-K in ihrer jeweils gültigen Fassung Anwendung finde. § 20 Abs. 2 TV-RGO enthalte keine von der gesetzlichen Regelung des § 4 Abs. 5 TVG abweichende Bestimmung. Unzutreffend sei insbesondere die Ansicht, dass danach die Nachwirkung nur durch einen unmittelbar auf Ablösung der RGO gerichteten Tarifvertrag beseitigt werden könne. Eine betriebliche Übung komme nicht in Betracht. Voraussetzung für deren Entstehen sei, dass Leistungen in einem nicht bereits geregelten Bereich gewährt würden. Im Übrigen entstehe erst Recht keine betriebliche Übung, wenn Leistungen im Glauben erbracht würden, aufgrund einer tariflichen Vereinbarung dazu verpflichtet zu sein. Auch eine entsprechende Gesamtzusage habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Für später eingestellte Arbeitnehmer habe der Tarifvertrag keine Anwendung mehr finden können. Gegenteilige Aussagen in einzelnen Arbeitsverträgen beruhten auf einer fehlerhaften Bewertung der Rechtslage. Mit der Kündigung habe sie das Ziel verfolgt, auch bei ihr auf das Punktesystem analog den Regelungen sonst im öffentlichen Dienst umzustellen. Sie sei aber im Verhandlungsweg bereit gewesen, für ihre Arbeitnehmer im Vergleich zu den Regelungen des ATV-K eine Besserstellung zu vereinbaren.

Entgegen der Ansicht des Klägers habe sie die RGO zum 31.08.2004 wirksam gekündigt. Wenn er erstmalig in der Berufungsinstanz die Wirksamkeit der Kündigung bestreite, setze er sich mit seinen eigenen erstinstanzlichen Ausführungen in Widerspruch. Sein diesbezüglicher Vortrag sei verspätet. Jedenfalls habe sie sich bereits im Jahr 2004 in einer sehr angespannten wirtschaftlichen Lage befunden, in der schon deutlich geworden sei, dass die Aufrechterhaltung der nach der RGO zugesagten Leistungen sie auf Dauer finanziell überfordert hätte. Die objektiven Belange der Versorgungsberechtigten seien hinreichend gewahrt. Mit der Kündigung hätte für die Arbeitnehmer “schlimmstenfalls” das im öffentlichen Dienst allgemein übliche Punktesystem in der betrieblichen Altersversorgung Anwendung gefunden. Zum Zeitpunkt der Kündigung sei sie an die besonderen Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO gar nicht gebunden gewesen. Diese Klausel verstoße gegen höherrangiges Recht. Die Parteien hätten offenkundig an die übliche Formulierung für Widerrufsvorbehalte im Bereich der betrieblichen Altersversorgung anknüpfen wollen und hätten dies mit dem Kündigungsrecht verknüpft. Damit habe dem Versorgungschuldner eine umfassende Leistungsentziehung aus wirtschaftlichen Gründen ermöglicht werden sollen. Mit Urteil vom 17.06.2003 habe das BAG aber entschieden, dass derartige Regelungen nach der ersatzlosen Streichung des Sicherungsfalls der wirtschaftlichen Notlage nach § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 BetrAVG a.F., mit der sich der Versorgungsschuldner vorbehalte, Leistungen zu kürzen oder gänzlich einzustellen, unwirksam seien. Da § 20 Abs. 1 Buchst. a TV-RGO somit unwirksam sei, gelte der allgemeine Grundsatz der freien Kündbarkeit von Tarifverträgen. Dies ergebe sich auch aus § 20 Abs. 2 RGO. Die Regelung mache nur dann Sinn, wenn es eine weitere Kündigungsmöglichkeit gebe, die eine nur teilweise Aufhebung der Leistungsverpflichtung bewirke. Nur dann könne es zu einer Nachwirkung kommen. Bei einer vollständigen Lossagung nach § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO würden alle hieraus erwachsenden Verpflichtungen entfallen und das Bedürfnis für eine Nachwirkung ins Leere laufen. Da sie sich nicht umfassend von der Versorgungszusage habe lossagen wollen, sei ihre Kündigung nicht an den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO zu messen, sondern unterfalle dem allgemeinen Kündigungsrecht nach Abs. 2. Dessen ungeachtet hätten die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO vorgelegen. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung hätten ihre wirtschaftlichen Interessen deutlichen überwogen. Die Formulierung sei nur eine Umschreibung dessen, was aufgrund von § 242 BGB ohnehin gelte. Es sei die Relation zwischen Eingriffsintensität und den veränderten Verhältnissen zu beachten. Je intensiver der Eingriff ausfalle, umso höher seien die Anforderungen an die veränderten Verhältnisse. Ausgangspunkt der Interessenabwägung seien die Folgen für die Versorgungsberechtigten aus der Kündigung der RGO. Ein Eingriff in den Besitzstand oder in die Dynamik sei nicht erfolgt. Die Kündigung habe die leichtest mögliche Beeinträchtigung der Versorgungsberechtigten dargestellt. Demzufolge seien an die veränderten Verhältnisse auf Unternehmensseite nur geringste Anforderungen zu stellen. Mehrere Rentenreformen seit Abschluss der RGO hätten bewirkt, dass das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung stark gesunken sei und die betrieblichen Leistungen im Gegenzug gestiegen seien. Dies habe zu einer stetigen Mehrbelastung geführt und eine Umstellung ihres Versorgungssystems erzwungen. Zum Kündigungszeitpunkt habe sie sich einem erheblichen Verlust an Eigenkapital gegenüber gesehen und damit rechnen müssen, dass ohne Kündigung der RGO das Eigenkapital unter das gezeichnete Kapital absinken würde. Die Entwicklung der Jahre 2001 bis 2003 zeige einen eindeutigen Negativtrend. Sie habe davon ausgehen müssen, dass sich diese Entwicklung in Zukunft fortsetzen werde, was in den nachfolgenden Geschäftsjahren bestätigt worden sei. Auch ihre Eigenkapitalrendite habe sich in einem deutlich negativen Bereich bewegt. Im Jahr 2004 habe sie von einer möglichen Substanzgefährdung ausgehen müssen, hätte sie nicht korrigierend eingegriffen. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur wirtschaftlichen Lage nach § 16 Abs. 1 BetrAVG habe es ihr im Interesse einer Gesundung der wirtschaftlichen Entwicklung zugestanden, durch Kündigung der RGO eine Entlastung im Bereich der Versorgungsverbindlichkeiten anzustreben. Insbesondere habe sie keine weitere Auszehrung ihrer Vermögenssubstanz hinnehmen müssen. Das Eigenkapital wäre noch weiter gesunken, hätte sie die RGO über das Jahr 2012 weiterhin angewandt. Im Jahr 2013 habe die Eigenkapitalauszehrung gestoppt werden können. Auf die vom Kläger angesprochene Rolle der Politik komme es nicht an. Rein hypothetische Einflussnahmen seien ohne Belang.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthaft und wurde form- und fristgerecht eingelegt und begründet.

Die Berufung ist auch begründet. Das Arbeitsgericht Hagen hat zu Unrecht angenommen, dass sich die Versorgungsansprüche des Klägers nach den tariflichen Bestimmungen des ATV-K richten. Tatsächlich gelten weiterhin die Regeln des Tarifvertrags über die Ruhegeldordnung vom 21.02.1959 in der Fassung vom 30.09.1998, weil die Kündigung dieses Tarifvertrags durch die Beklagte zum 31.08.2004 nicht wirksam geworden ist. Im Einzelnen hat die Kammer dazu die nachfolgenden Erwägungen angestellt:

Der Feststellungsantrag des Klägers ist zulässig. Diesbezüglich kann auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil verwiesen werden (§ 69 Abs. 2 ArbGG), die von den Parteien auch nicht angegriffen wurden.

Zutreffend sind außerdem die Ausführungen des Arbeitsgerichts zu der hier vorliegenden Tarifkonkurrenz, die nach dem Spezialitätsgrundsatz dahin aufzulösen ist, dass sich der Haustarifvertrag gegenüber dem Flächentarifvertrag durchsetzt. Auch insoweit stimmen die Parteien mit der erstinstanzlichen Entscheidung überein.

Im vorliegenden Fall bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen dies auch dann noch gilt, wenn der Haustarifvertrag lediglich noch kraft Nachwirkung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG gilt. Der Kläger beruft sich nämlich in zweiter Instanz zu Recht darauf, dass der Tarifvertrag über die Ruhegeldordnung vom 21.12.1959 in der Fassung vom 30.09.1998 bisher nicht wirksam gekündigt wurde. Soweit die Beklagte rügt, dass er erstmals zweitinstanzlich diesen Einwand erhoben hat, während er erstinstanzlich noch ersichtlich von der Wirksamkeit der Kündigung ausging, war er mit diesem Vorbringen nicht präkludiert. Eine Zurückweisung könnte allein auf § 67 Abs. 2 oder Abs. 3 ArbGG gestützt werden. Da der Kläger aber mit der Berufungsbegründung die fehlende Wirksamkeit der Kündigung gerügt hat, trat eine Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits nicht ein. Zwar hat die Kammer Veranlassung gesehen, einen Fortsetzungstermin anzuberaumen. Dies geschah aber zugunsten der Beklagten, weil die Kammer der Auffassung war, dass diese zur Wirksamkeit der Kündigung ihrerseits nicht hinreichend vorgetragen hat, was jedenfalls nicht dem Kläger anzulasten ist.

In der Sache war die von der Beklagten erklärte Kündigung der RGO an den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO zu messen. Danach stand eine Kündigung des Tarifvertrags durch die Beklagte unter der Voraussetzung, dass sich die maßgebenden Verhältnisse nach Erteilung der Versorgungszusage nachhaltig so wesentlich geändert haben, dass ihr eine Aufrechterhaltung der zugesagten Leistungen auch unter objektiver Beachtung der Belange der Versorgungsberechtigten nicht mehr zugemutet werden konnte. Die zweiten Alternative, eine Kündigung wegen wesentlicher Änderungen der rechtlichen, insbesondere steuerrechtlichen Behandlung der Aufwendungen, die zur planmäßigen Finanzierung der Versorgungsleistungen gemacht werden, kann hier unberücksichtigt bleiben, weil die Beklagte dazu keine Tatsachen vorgetragen hat. Die Darlegungs- und Beweislast für die Wirksamkeit der Kündigung liegt nach allgemeinen Grundsätzen bei ihr, weil sie sich auf die Wirksamkeit der von ihr erklärten Kündigung beruft.

Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten ist die Kündigungsklausel in § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO wirksam. Es trifft zwar zu, dass das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 17.06.2003 (3 AZR 396/02 = AP Nr. 24 § 7 BetrAVG Widerruf) angenommen hat, dass seit der Streichung des Sicherungsfalls der wirtschaftlichen Notlage nach § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 BetrAVG a. F. durch das am 01.01.1999 in Kraft getretene Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung vom 05.10.1994 ein Widerruf einer erteilten Versorgungszusage nicht mehr möglich ist und entsprechende Klauseln in Versorgungsordnungen unwirksam sind. Es mag ferner zugunsten der Beklagten angenommen werden, dass sich die Formulierung in § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO an entsprechende Klauseln zum Widerrufsvorbehalt anlehnt. Dennoch betrifft das hier in Frage stehende Kündigungsrecht einen gänzlich anderen Sachverhalt. Hätten die Tarifvertragsparteien der Beklagten ein Widerrufsrecht zubilligen wollen, dann hätten sie dies in der Formulierung zum Ausdruck gebracht. Es darf unterstellt werden, dass ihnen der Unterschied zwischen einem Widerruf und einer Kündigung gerade vor dem Hintergrund der damals noch geltenden Rechtslage bekannt war. Stattdessen haben sie für den Fall der nachhaltigen und wesentlichen Veränderung der maßgeblichen Verhältnisse den Weg der Kündigung unter Beachtung einer Drei-Monats-Frist zum 31.08. einen jeden Jahres gewählt und dies zugleich (deklaratorisch) in § 20 Abs. 2 RGO mit der Anordnung einer Nachwirkung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG verknüpft. Die Kammer verkennt nicht, dass die Beklagte auch der Bestimmung des § 20 Abs. 2 RGO einen anderen Bedeutungsgehalt beimisst, vermag aber auch insofern deren Rechtsstandpunkt nicht zu teilen, was sogleich noch zu erörtern sein wird. Es ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die hier maßgebliche Fassung der RGO vom 30.09.1998 datiert, also einem Zeitpunkt, zu dem feststand, dass demnächst der in § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 BetrAVG noch verankerte Sicherungsfall der wirtschaftlichen Notlage entfallen würde. Dies macht es zusätzlich unwahrscheinlich, dass die Tarifvertragsparteien mit § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO ein arbeitgeberseitiges Widerrufsrecht verankern wollten. Wenn man demgegenüber mit dem Wortlaut eine Kündigungsmöglichkeit zugunsten der Beklagten annimmt, dann stellen sich die von der Beklagten vorgetragenen Wirksamkeitsprobleme nicht, was zusätzlich für die Annahme streitet, dass in § 20 Abs. 1 RGO eben nur die Kündigung des Tarifvertrags behandelt wird und nichts anderes. Die Kammer meint, dass die Beklagte den Sinn und die Schutzrichtung des § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO in sein Gegenteil verkehrt, wenn sie ihn anstatt als Kündigungserschwerung als einseitige Widerrufsmöglichkeit interpretiert.

Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten lässt sich auch nicht aus § 20 Abs. 2 RGO ein weiteres Kündigungsrecht ohne besondere Voraussetzungen ableiten. Die einleitenden Worte “im übrigen” zwingen nicht zu dieser Annahme. Sie lassen sich zwanglos damit erklären, dass die Tarifvertragsparteien deklaratorisch erklären wollten, dass nach einer Kündigung gem. § 20 Abs. 1 RGO “im übrigen” bis zu einer anderweitigen tariflichen Regelung Nachwirkung eintritt. Jedenfalls dann, wenn man nicht das in § 20 Abs. 1 Buchst. a RGO vorgesehene Kündigungsrecht der Beklagten als verunglückte Formulierung eines Widerrufsvorbehalts versteht, wäre es auch unsinnig, neben einem von besonderen Voraussetzungen abhängigen Kündigungsrecht noch ein weiteres voraussetzungsloses Kündigungsrecht vorzusehen, weil dann das spezielle Kündigungsrecht notwendigerweise leer liefe.

Es sprechen auch nicht übergeordnete, allgemeine Grundsätze gegen die hier vereinbarte Erschwerung der Kündigung des Tarifvertrags durch den Arbeitgeber. Sinn und Zweck der Regelung liegt erkennbar darin, die geschaffenen Regelungen über die betriebliche Altersversorgung nach Möglichkeit festzuschreiben und Änderungen oder eine Ablösung des Regelwerks nur im Ausnahmefall zuzulassen. Es entspricht der Natur der Sache, dass eine Versorgungszusage langfristig angelegt ist und das Vertrauen der Arbeitnehmer in deren uneingeschränkten Fortbestand nicht ohne weiteres enttäuscht werden soll, zumal sie mit ihrer Arbeitskraft in Vorleistung treten. Daher ist es nicht zu beanstanden, dass die Tarifvertragsparteien eine Kündigungserschwerung in der RGO installiert haben. Die Modalitäten der Kündigung eines Tarifvertrags können die Tarifvertragsparteien frei festlegen (Löwisch/Rieble, TVG, 3. Auflage 2012, § 1 Rn. 1379). Da die Beklagte selbst Partei des Tarifvertrags ist, muss sie es hinnehmen, dass sie an das gebunden bleibt, was sie zuletzt im Jahr 1998 vereinbart hat.

Nach alledem hat es dabei zu verbleiben, dass die Beklagte die RGO wirksam nur unter den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 kündigen konnte.

Die Beklagte hat die diesbezüglichen Voraussetzungen nicht ausreichend dargelegt. Dazu hätte sie zum einen eine nachhaltige und wesentliche Änderung der bei der Erteilung der Versorgungszusage maßgeblichen Verhältnisse darlegen müssen. Des Weiteren waren die maßgeblichen Umstände für die vorgenommene Interessenabwägung unter objektiver Beachtung der Belange der Versorgungsberechtigten darzulegen. Schließlich war zur fehlenden Zumutbarkeit der Aufrechterhaltung der zugesagten Leistungen vorzutragen.

Hinsichtlich der nachhaltigen und wesentlichen Änderungen der maßgebenden Verhältnisse war ein Vergleich zwischen der Lage “bei der Erteilung der Versorgungszusage” und zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung anzustellen. Da die Ruhegeldordnung nach § 20 Abs. 1 Satz 1 am 01.09.1998 in der hier maßgeblichen Fassung in Kraft getreten ist, kann hinsichtlich des Zeitpunkts der Erteilung der Versorgungszusage aber nicht auf die Vorgängertarifverträge abgestellt werden, vielmehr waren die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beklagten am 01.09.1998 mit jenen zum nicht vorgetragenen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung, spätestens aber zum 31.08.2004, dem vorgesehenen Beendigungszeitpunkt des Tarifvertrags, zu vergleichen. Dazu hat die Beklagte nicht hinreichend vorgetragen. Es fehlt eine substantiierte Darlegung der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der RGO am 01.09.1998. Da dieser Zeitpunkt bezogen auf die erklärte Kündigung weniger als sechs Jahre zurücklag, versteht es sich keineswegs von selbst, dass allein aus den Jahresabschlüssen für die Jahre 2001 bis 2004 eine wesentliche und nachhaltige Veränderung gegenüber dem 01.09.1998 abzuleiten war. Die Beklagte hat lediglich abstrakt steigende Vorsorgelasten unter Berücksichtigung sinkender Rentenleistungen beklagt. Es trifft zu, dass bei einer Gesamtversorgungszusage sinkende Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechende zusätzliche Belastungen bei den Betriebsrenten bewirken. Dennoch hätte die Beklagte schon im Einzelnen vortragen müssen, inwieweit sich diese Belastungen gerade seit dem 01.09.1998 so wesentlich und nachhaltig verschlechtert hatten, dass ihr eine Aufrechterhaltung ihrer Versorgungszusage nicht zuzumuten war. Dies ist aber nicht geschehen, obwohl ihr dazu durch Vertagung der Berufungsverhandlung ausreichend Möglichkeit gegeben wurde. Diesbezüglich genügte es jedenfalls nicht, die nach Zugang der Kündigung eingetretene Entwicklung darzustellen und zwar auch dann nicht, wenn dies nur dazu dienen sollte, die von der Beklagten angestellte Prognose zu verifizieren. Ohnehin konnte die Beklagte bei Ausspruch der Kündigung künftige Entscheidungen des Gesetzgebers, wie die Verabschiedung des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes, auf die die Beklagte sich u.a. beruft, nicht vorhersehen. Dies muss bei ihrer Prognose-Entscheidung daher unberücksichtigt bleiben.

Dessen ungeachtet vermag die Kammer auch den Ausführungen der Beklagten zur Interessenabwägung nicht zu folgen. Die Beklagte möchte die Grundsätze der sog. Drei-Stufen-Theorie zum verschlechternden Eingriff in eine Versorgungsordnung (st. Rechtspr. des BAG, zuletzt Urteil vom 14.07.2015 – 3 AZR 517/13 = AP Nr. 71 § 1 BetrAVG Ablösung) hier anwenden. Nach der Drei-Stufen-Theorie genügen für Eingriffe in dienstzeitabhängige, noch nicht erdiente Zuwachsraten sachlich proportionale Gründe (etwa BAG, Urteil vom 30.09.2014 – 3 AZR 998/12 = NZA 2015, 750 ff.). Die Beklagte schlussfolgert daraus, dass im vorliegenden Fall angesichts des aus ihrer Sicht nur geringfügigen Eingriffs in die Versorgungszusagen im Rahmen der Interessenabwägung ihren Belangen Vorrang einzuräumen sei. Die Kammer braucht nicht darüber zu entscheiden, ob danach im vorliegenden Fall ein Eingriff in die Versorgungsordnung gerechtfertigt wäre. Bei auf tariflicher Grundlage beruhenden Versorgungsordnungen wäre die Drei-Stufen-Theorie des BAG ohnehin nicht anwendbar, vielmehr sind die Tarifvertragsparteien nur an den Eigentumsschutz und an das Rechtsstaatsprinzip gebunden (etwa BAG, Urteil vom 21.07.2007 – 3 AZR 102/06 = NZA 2008, 182 ff.). Die Tarifvertragsparteien haben aber in der RGO erheblich höhere Anforderungen an die Kündigung der Versorgungsordnung gestellt. Dies ergibt sich daraus, dass eben nicht allein eine Interessenabwägung unter objektiver Beachtung der Belange der Versorgungsberechtigten stattfinden muss, sondern darüber hinaus eine wesentliche und nachhaltige Änderung der maßgeblichen Umstände vorliegen muss, die es ihr unzumutbar macht, die zugesagten Leistungen aufrecht zu erhalten. Dies ist im Vergleich zu den “sachlich proportionalen Gründen” für einen Eingriff in noch nicht erdiente Zuwachsraten nach der Drei-Stufen-Theorie eine erhebliche Verschärfung, zu der die Beklagte, wie bereits ausgeführt, nicht ausreichend vorgetragen hat.

Zu dem Merkmal der Unzumutbarkeit hätte nach Auffassung der Kammer die Beklagte konkret anhand der einschlägigen Planzahlen dazu vortragen müssen, wie sich die Versorgungsbelastung voraussichtlich entwickelt hätte, wenn man von der Kündigung der RGO abgesehen hätte. Dazu wäre auch – beim Merkmal der nachhaltigen und wesentlichen Änderung der maßgeblichen Umstände – darzustellen gewesen, inwieweit die Belastungen mit den Versorgungsanwartschaften bereits bei Inkrafttreten der RGO am 01.09.1998 vorhanden bzw. absehbar waren.

Nach alledem sind die Voraussetzungen für eine Kündigung der RGO nicht ausreichend dargetan. Die Kündigung des Tarifvertrags über die Ruhegeldordnung vom 21.12.1959 in der Fassung vom 30.09.1998 von der Beklagten zum 31.08.2004 ist somit nicht wirksam geworden. Da weitere Beendigungstatbestände nicht vorgetragen sind, gelten damit die Bestimmungen der RGO fort, sodass sie weiterhin nach dem Spezialitätsgrundsatz jene des Flächentarifvertrags ATV-K verdrängen. Die Berufung des Klägers ist demnach erfolgreich, denn sein Feststellungsantrag war begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Kammer hat davon abgesehen, von einer Kostenentscheidung nach § 97 Abs. 2 ZPO Gebrauch zu machen, weil die Beklagte ihrerseits zu den Einzelheiten ihrer Kündigung zum 31.08.2004 nicht vorgetragen hat.

Die Kammer hielt es für geboten, die Revision nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.

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Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

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