Landesarbeitsgericht Hamm: Urteil vom 29.04.2016 – 13 Sa 1552/15

Juni 19, 2020

Landesarbeitsgericht Hamm: Urteil vom 29.04.2016 – 13 Sa 1552/15

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bocholt vom 25.09.2015 – 2 Ca 884/15 – abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 10.06.2015 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.

Der 1958 geborene, verheiratete Kläger trat mit Wirkung ab 15.03.1986 als Industriemechaniker zu einer durchschnittlichen Bruttomonatsvergütung von zuletzt 4.400,– € in die Dienste der Beklagten, bei der ca. 350 Arbeitnehmer beschäftigt sind.

Ab Frühjahr 1994 bis Mai 2015 war er Vorsitzender des im Betrieb bestehenden Betriebsrates und zugleich von seiner beruflichen Tätigkeit freigestellt. Bei einer außerhalb des regelmäßigen Rhythmus durchgeführten Wahl am 18.05.2015 wurde er nicht wieder in den Betriebsrat gewählt.

Zuvor war er in seiner Eigenschaft als Betriebsratsvorsitzender verantwortlich für die Führung und Verwaltung der Konten des Betriebsrates. Hierbei handelt es sich um ein Sparbuch und ein Girokonto, die beide unter dem Namen des Klägers liefen.

Bei der Beklagten sind fünf Warmgetränkeautomaten aufgestellt. Dort werden Getränke und Suppen zum Preis von 0,30 € (bis August 2013) und ab dem Zeitpunkt zum Preis von 0,40 € an die Beschäftigten der Beklagten abgegeben. Eigentümer der Automaten ist die Firma N E GmbH, die auch Lieferantin der Portionswaren ist, mit denen die Automaten bestückt werden. Diese verfügen über zwei Zähler, die die verkauften Wareneinheiten dokumentieren. Es gibt einen veränderbaren Zähler und einen nicht veränderbaren Lebenszeitzähler.

Der bei der Beklagten als Schwerbehindertenvertreter fungierende Mitarbeiter S bzw. seine Urlaubs- und Krankheitsvertretungen sind dafür zuständig, die Automaten zu bestücken und regelmäßig ca. 14-tägig die Geldbestände der Automaten zu entleeren. Das entnommene Hart- und Scheingeld wird – ungezählt – in einem Tresor eingeschlossen, der im Betriebsratsbüro aufgestellt ist.

In der Vergangenheit war es die Aufgabe des Klägers, das im Tresor gesammelte Geld zu entnehmen und auf das von ihm für den Betriebsrat geführte Girokonto einzuzahlen. Dies geschah regelmäßig freitags vor der Mittagspause des Klägers. Er entnahm lediglich das Hartgeld, während er die Geldscheine zunächst in eine schwarze Geldmappe legte. Ab Mitte Mai 2014 verbrachte er diese zum Teil auch in ein separat abschließbares Fach im Tresor.

Über das Sparbuch führte der Kläger Kassenberichte, die alljährlich einer Kassenprüfung unterzogen wurden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vom Kläger erstellten Kassenberichte der Jahre 2010 bis 2013 Bezug genommen (Bl. 21 ff. d. A.). Zwei freiwillige Mitarbeiter aus unterschiedlichen Abteilungen wurden jeweils ausgewählt, um eine Überprüfung vorzunehmen.

Am 03.11.2014 stellte der Mitarbeiter S gemeinsam mit den damaligen Betriebsratsmitgliedern C (jetzt Betriebsratsvorsitzender) und T Strafanzeige gegen den Kläger. Ausweislich der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Münster (Az: 81 Js 3262/14) gab der Arbeitnehmer S an, ihm sei im Sommer 2014 anlässlich einer Kassenprüfung aufgefallen, dass der vom Kläger in seinem Kassenbericht angegebene Überschussbetrag für die Getränkeautomaten für das Jahr 2013 mit 2.150,– € sehr gering war. Dies sei Anlass für ihn gewesen, die Einnahmen und Ausgaben zu überprüfen. Er sei zu dem Ergebnis gekommen, dass seit dem Jahr 2008 ca. 70.000,– € fehlten.

Im Zuge der Ermittlungen forderte die Kriminalpolizei bei der Firma N E GmbH Daten über tatsächliche Lieferungen, dafür erhobene Preise und die anhand der Zählerwerke der Automaten dokumentierten abgegebenen Becher-Einheiten an.

Am 25.02.2015 wurde der Kläger von der Kriminalpolizei in E1 als Beschuldigter vernommen. Direkt im Anschluss machte er von dem Sachverhalt dem Personalchef der Beklagten, Q, persönlich Mitteilung. Fast zeitgleich informierten die Arbeitnehmer S, C und T die Mitgeschäftsführerin der Beklagten, U, darüber, dass sie wegen fehlender Gelder Strafanzeige gegen den Kläger erstattet hätten.

Mit Schreiben vom 27.02.2015 bat die Beklagte durch ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten bei der Staatsanwaltschaft Münster um Einsicht in die Strafakte. Zur Begründung wird darin u.a. ausgeführt:
“… Nach den unserer Mandantin (= Beklagte) vorliegenden Informationen wird dem Angeschuldigten (= Kläger) vorgeworfen, in seiner Funktion als freigestelltes Mitglied des Betriebsrates unserer Mandantin Gelder des Betriebsrates bzw. der Belegschaft unserer Mandantin in erheblichem Umfang über Jahre unterschlagen bzw. veruntreut zu haben. Sollte sich dieser Verdacht bestätigen, wird auch unsere Mandantin zumindest mittelbar geschädigt bzw. betroffen, weil ein derartig schwerwiegendes Verhalten bei der Wahrnehmung von Aufgaben als Betriebsrat auch auf das Arbeitsverhältnis durchschlagen und einen Grund für eine außerordentliche und fristlose Kündigung – die bei Betriebsräten allein mögliche Kündigung – rechtfertigen kann. Mittelbar ist unsere Mandantin auch deshalb geschädigt, weil ihr als Arbeitgeberin eine Fürsorgepflicht obliegt, die Vermögensinteressen ihrer Arbeitnehmer zu schützen. …”

Nachdem in der Folgezeit keine Aktenübersendung erfolgte, bat die Beklagte mit Schreiben vom 13.05.2015 erneut um Akteneinsicht. Dem Antrag gab die ermittelnde Staatsanwaltschaft einen Tag nach Eingang statt.

Aufgrund der Erkenntnisse aus der Ermittlungsakte nahm die Beklagte am 29.05.2015 eine ergänzende Befragung der Mitarbeiter S, C und T vor. Dabei erklärten diese ihr gegenüber Folgendes:

Nachdem man im September 2014 den Verdacht geschöpft habe, der Kläger habe Geld entwendet, habe man über einen Zeitraum von mehreren Monaten, konkret zwischen dem 09.09.2014 und dem 27.02.2015, das aus den Automaten jeweils entnommene Geld gezählt und anschließend in den Tresor gelegt. Man habe dann in den darauffolgenden Abenden jeweils kontrolliert, ob das Geld noch vollständig im Tresor gelegen habe, was jeweils der Fall gewesen sei. Da der Kläger das Geld regelmäßig freitags zur Bank bringe, habe man noch einmal jeweils freitagsmorgens gegen 06.30 Uhr, als der Kläger noch nicht im Haus gewesen sei, kontrolliert, ob das Geld noch vollständig im Tresor gewesen sei, was jeweils der Fall gewesen sei. Tatsächlich eingezahlt worden sei dann aber jeweils ein deutlich geringerer Betrag. Es seien an elf Tagen Differenzen in Höhe von insgesamt 13.685,94 € festgestellt worden. Dazu überreichten die Mitarbeiter eine Aufstellung (Bl. 25 d. A,), auf die im Übrigen verwiesen wird.

Daraufhin hörte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 01.06.2015 (Bl. 44 ff. d. A.) an, worauf sich der Kläger sodann mit Schreiben vom 05.06.2015 (Bl. 48 ff. d. A.) einließ.

Unter dem 09.06.2015 hörte man sodann den Betriebsrat schriftlich zur beabsichtigten außerordentlichen Tat- und Verdachtskündigung des Klägers an. Dabei äußerte man den Verdacht, der Kläger habe in erheblichem Umfang Gelder, die der Belegschaft zustünden, veruntreut, indem er Einnahmen aus dem Überschuss der Warmgetränkeautomaten für sich verwendet habe. Wegen des weiteren Inhalts des Anhörungsschreibens wird verwiesen auf die mit Beklagtenschriftsatz vom 08.07.2015 eingereichte Kopie (Bl. 33 ff. d. A.).

In einer außerordentlichen Sitzung vom 09.06.2015 beschloss der Betriebsrat einstimmig, der Kündigung zuzustimmen, was er der Beklagten mit Schreiben vom selben Tag (Bl. 38 d. A.) mitteilte.

Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger mit Schreiben vom 10.06.2015 (Bl. 8 d. A.) außerordentlich und fristlos.

Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit seiner Klage.

Er hat behauptet, im Safe werde eine Wechselkasse im Tresor mit 100,– bis 150,– € Hartgeld vorgehalten. Dieses Wechselgeld habe er den im Safe gelagerten Einnahmen aus den Automaten entnommen.

Mindestens vier Personen hätten Schlüssel zu den Getränkeautomaten. Für den Tresor in seinem Büro habe es zwei Schlüssel gegeben, die beide in einer während der Arbeitszeit unverschlossenen Schublade in seinem Schreibtisch aufbewahrt worden seien. Anfang des Jahres 2015 sei ihm dann aufgefallen, dass ein Schlüssel verschwunden sei.

In seinem Schreibtisch habe auch der Schlüssel für das abschließbare Fach im Safe gelegen.

Die Mitarbeiter S und C – und zuvor S und S1 – hätten einen Schlüssel für sein Büro gehabt. Teilweise seien diese in der unverschlossenen Werkbank aufbewahrt worden. Außerdem gebe es einen Generalschlüssel.

Für die Schreibtischschublade hätten drei Schlüssel existiert. Diese hätten sich bei ihm und den Mitarbeitern S und C befunden.

Sein Büro sei von 07.00 Uhr bis 15.45 Uhr zugänglich gewesen, wobei er mittags rund eine Stunde Pause gemacht habe, ohne Büro und Schreibtisch zu verschließen. Dementsprechend hätte sich werktags ab 07.00 Uhr praktisch jedermann im Betrieb Zutritt zu seinem Büro verschaffen können und dort aus der unverschlossenen Schublade die entsprechenden Schlüssel für den Safe nehmen können.

Ab Mitte des Jahres 2014 sei das Scheingeld mehr geworden. Er habe dies im Oktober oder November 2014 erstmals gezählt und Banderolen angebracht. Seither seien hiervon Jubiläums-, Hochzeits- oder Abschiedsgeschenke an die Belegschaft bezahlt worden. Diese Zahlungen habe er stets genau dokumentiert.

Das Münzgeld habe er ungezählt bei der Bank abgegeben. Auch hier sei es erst in seiner Abwesenheit gezählt worden. Er habe eine Blankoquittung unterzeichnet und den vollständigen Beleg mit dem Ergebnis erst zwei Wochen später erhalten.

Die auf den von ihm erstellten Kassenberichten aufgeführte Position “Überschuss aus Warmgetränkeautomat” sei der Betrag gewesen, den er pro Jahr der Kasse, also letztlich dem Safe entnommen habe, um Zuwendungen an Mitarbeiter vorzunehmen. Diese seien dann erneut unter “Ausgaben” berücksichtigt worden. Dabei sei immer ein höherer Betrag aufgeführt, weil im Safe gar nicht genug Geld zur Verfügung gewesen sei, um die zahlreichen Zuwendungen zu decken. Fehlende Beträge seien dann dem Sparbuch entnommen worden. In den Überschüssen seien außerdem noch Einnahmen aus Provisionen von Automatenaufstellern enthalten gewesen, weshalb es sich um “krumme Beträge” gehandelt habe.

Die Position “Überschuss aus Warmgetränkeautomat” sei daher nie ein buchhalterischer Gewinn gewesen. Dies verdeutliche, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe auf fundamentalen Irrtümern fußten.

Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, auf welche Zählerstände der Lieferant sich bei der Auskunft gegenüber der Staatsanwaltschaft bezogen habe.

Im Dezember 2014 habe er rund 650,– bis 700,– € weiter im Safe vorgehalten.

Die Angaben des Herstellers zu den verkauften Wareneinheiten müssten mit Nichtwissen bestritten werden – ebenso wie die von der Beklagten ermittelten Fehlbeträge der Jahre 2010 bis 2013 sowie die Angaben in der Aufstellung der Mitarbeiter S, T und C.

Während seiner mehrmonatigen Krankschreibung seien auch durch den Mitarbeiter S1 keine vom Durchschnitt abweichenden Einzahlungen erfolgt.

Der Kläger hat auch die ordnungsgemäß Anhörung des Betriebsrates sowie die Einhaltung der Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB gerügt.

Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 10.06.2015 beendet worden ist, sondern zu unveränderten Arbeitsbedingungen über den 10.06.2015 hinaus fortbesteht.

Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie hat Bezug genommen auf die Angaben der Firma N E GmbH hinsichtlich der verkauften Becher-Einheiten. Daraus sei der Schluss zu ziehen, dass es in den Jahren 2010 bis 2013 zu erheblichen Differenzen zwischen den tatsächlich erzielten Verkaufserlösen und den vom Kläger ermittelten Überschüssen gekommen sei. Hinsichtlich der Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Ausführungen im Beklagtenschriftsatz vom 08.07.2015 nebst Anlagen (Bl. 15 ff. d. A.).

Für den Tresor habe es nur einen Schlüssel gegeben, der in einem verschlossenen Schrank im Betriebsratsbüro deponiert gewesen sei. Zu dem Schrank hätten lediglich der Kläger und der Mitarbeiter S einen Schlüssel besessen. Während der Abwesenheit des Klägers sei das Betriebsratsbüro verschlossen gewesen.

Der Kläger habe die aufgetretenen erheblichen Gelddifferenzen nicht erklären können.

So hätte das im Tresor deponierte Scheingeld, wäre es tatsächlich dort verblieben, aufgefunden werden müssen. Da laut Kassenbericht des Klägers für das Jahr 2014 – unstreitig – Jubiläumsausgaben im Umfang von 6.199,81 € angefallen sind und diese darüber hinaus teilweise auch durch Abbuchung vom Konto des Betriebsrates erfolgten, was ebenfalls nicht im Streit steht, hätte sich ein erheblicher Überschuss – rechnerisch in Höhe von 11.685,– € – an Scheingeld im Tresor befinden müssen.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 25.09.2015 die Klage abgewiesen. Hinsichtlich der Begründung wird verwiesen auf die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit der Berufung.

Er bringt zum Ausdruck, dass er bei der Führung der Belegschaftskasse mit den Getränkeeinnahmen weder Arbeits- noch Amtspflichten wahrgenommen habe. Schon deshalb scheide eine außerordentliche Kündigung aus.

Davon abgesehen seien nicht einmal Gründe für einen Verdacht gegeben, dass er im Rahmen der Verwaltung der Einnahmen aus den Getränkeautomaten Gelder veruntreut habe. So hätten z.B. unterschiedliche Personen Zugriff auf die Waren und/oder Geldeinnahmen gehabt. Es gebe auch diverse falsche Grundeinnahmen als Basis für die erhobenen Vorwürfe gegen ihn. So müssten auch die von den Zeugen S, C und T ermittelten angeblichen Kontrollergebnisse bestritten werden, ganz abgesehen davon, dass die genannten drei Beschäftigten auch als Täter in Betracht kämen.

Davon abgesehen sei auch die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten worden. Insofern ist der Kläger der Ansicht, dass die Beklagte nicht alles ihr zumutbare zur Aufklärung des Sachverhalts getan habe, namentlich die Ermittlungen nicht mit der gebotenen Eile durchgeführt habe.

Unverändert müsse auch die ordnungsgemäße Beteiligung des Betriebsrates bestritten werden.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Bocholt vom 25.09.2015 – 2 Ca 884/15 – abzuändern und festzustellen, dass das zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 10.06.2015 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf ihr erstinstanzliches Vorbringen sowie die aus ihrer Sicht zutreffenden erstinstanzlichen Gründe. Ergänzend weist sie darauf hin, dass das dem Kläger vorgeworfene Fehlverhalten auf das bestehende Arbeitsverhältnis durchschlage.

In der Sache erkläre der Kläger an keiner Stelle den Verbleib der unstreitig im Zeitraum von September 2014 bis Februar 2015 aufgetretenen erheblichen Fehlbeträge. Auch im Übrigen werde von diesem kein plausibler Geschehensablauf für das Abhandenkommen umfangreicher Geldbeträge aufgezeigt.

Im Vorfeld des Ausspruchs der außerordentlichen Kündigung sei der Kläger ordnungsgemäß angehört worden.

Der Hinweis auf § 626 Abs. 2 BGB gehe ins Leere, weil sie, die Beklagte, erst nach Einsicht in die Ermittlungsakte einen Verdacht gegen den Kläger gerichtet habe, wobei sich dieser nach Anhörung der Zeugen S, C und T zu einem dringenden Verdacht verdichtet habe.

Wegen des weiteren umfangreichen Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.

Denn entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts ist die außerordentliche Kündigung vom 10.06.2015 schon deshalb unwirksam, weil die Beklagte dabei nicht den Anforderungen des § 626 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 BGB gerecht geworden ist.

I. Gemäß § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB kann eine außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt nach § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt.

Dies ist nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (z.B. 31.07.2014 – 2 AZR 407/13 – […]; 21.02.2013 – 2 AZR 433/12 – AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 51; 23.10.2008 – 2 AZR 388/07 – AP BGB § 626 Nr. 217; 01.02.2007 – 2 AZR 333/06 – NZA 2007, 744 [BAG 01.02.2007 – 2 AZR 333/06] ) dann der Fall, wenn der Arbeitgeber eine zuverlässige und möglichst vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die sachgerechte Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht.

Allerdings hat der Kündigungsberechtigte, der bislang nur Anhaltspunkte für einen kündigungsrelevanten Sachverhalt hat, zur Wahrung der Ausschlussfrist alle nach pflichtgemäßem Ermessen notwendigen Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts mit der gebotenen Eile zu ergreifen, um den Lauf der zweiwöchigen Frist nicht länger als notwendig hinauszuschieben ( BAG, 27.01.2011 – 2 AZR 825/09 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 49; 05.06.2008 – 2 AZR 25/07 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 45; 28.11.2007 – 5 AZR 952/06 – NZA-RR 2008, 344; zust. z.B. ErfK/Müller-Glöge, 16. Aufl., § 626 BGB Rn. 178). Denn für den betroffenen Arbeitnehmer muss rasch Klarheit darüber herrschen, ob sein Arbeitgeber einen Sachverhalt zum Anlass für eine außerordentliche Kündigung nehmen will ( BAG, 05.06.2008 – 2 AZR 25/07 – AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 45).

Diesen Anforderungen ist die Beklagte entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts nicht gerecht geworden.

II. Die Arbeitgeberin wurde in Person ihres Personalchefs Q in der Mittagszeit des 25.02.2015 vom Kläger, der am Morgen im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung im Zuge des gegen ihn eingeleiteten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens erstmals mit dem Vorwurf der Entwendung von Geldern aus der “Betriebsratskasse” konfrontiert worden war, von diesem Sachverhalt unterrichtet. Fast zeitgleich wurde die Mitgeschäftsführerin der Beklagten, U, von den Arbeitnehmern S, C und T, die das Ermittlungsverfahren mit einer Strafanzeige vom 03.11.2014 in Gang gesetzt hatten, darüber informiert, dass sie wegen fehlender Gelder Anzeige gegen den Kläger erstattet hätten.

Daraufhin hat die Beklagte – mit der gebotenen Eile – reagiert und schon zwei Tage später am 27.02.2015 über ihren Prozessbevollmächtigten, gestützt auf § 406e StPO bei der ermittelnden Staatsanwaltschaft Akteneinsicht beantragt. In dem Schreiben wird zur Begründung u.a. ausgeführt, nach den vorliegenden Informationen würde dem Kläger vorgeworfen, über Jahre Gelder in erheblichem Umfang “unterschlagen bzw. veruntreut” zu haben. Weiterhin wird dargelegt, dass ein Grund für eine außerordentliche, fristlose Kündigung gegeben sein könnte, wenn sich der Verdacht bestätigen sollte.

Aus diesem Geschehensablauf wird deutlich, dass die Beklagte am 25./27.02.2015 ausreichend Anhaltspunkte für einen kündigungsrelevanten Sachverhalt hatte, um sodann mit der gebotenen Eile alle weiteren notwendigen Schritte zur Aufklärung des Sachverhalts ergreifen zu können. Dem ist sie aber in der Folgezeit nicht in gebührendem Umfang gerecht geworden.

So hat sie nach dem 27.02.2015 über einen Zeitraum von fast elf Wochen in der Sache keinerlei weitere Maßnahmen ergriffen, obwohl doch aus ihrer Sicht gravierende, für eine außerordentliche Kündigung relevante Pflichtverletzungen im Raum standen. Weil sie die in dieser Situation nachvollziehbare Entscheidung getroffen hatte, Einsicht in die Strafakte zu beantragen, hätte es nahegelegen, sich zeitnah bei der Staatsanwaltschaft über den Sachstand zu erkundigen und ggf. deren Entscheidung herbeizuführen, weshalb die beantragte Akteneinsicht versagt wird (vgl. § 406e Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 StPO.

Stattdessen hat die Beklagte bis zum 13.05.2015 zugewartet, bevor sie schriftlich erneut um Akteneinsicht bat, die dann von Seiten der Staatsanwaltschaft umgehend verfügt wurde.

Der Kläger blieb dadurch unzumutbar lange im Ungewissen darüber, ob die Arbeitgeberin den Sachverhalt, den er aus seiner Sicht umgehend nach Kenntnisnahme am 25.02.2015 dem Personalchef Q geschildert hatte, zum Anlass für die außerordentliche Kündigung eines über 29 Jahre bestandenen Arbeitsverhältnisses nehmen wollte.

Nach alledem ist die Kündigung schon wegen Verstoßes gegen § 626 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 BGB unwirksam, ohne dass von der Kammer auf die Gründe für die streitbefangene Kündigung einzugehen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben.

Schlagworte

Warnhinweis:

Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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