LAG Hamm, Urteil vom 20.07.2011 – 2 Sa 422/11

Juli 27, 2020

LAG Hamm, Urteil vom 20.07.2011 – 2 Sa 422/11
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn vom 22.02.2011 – 2 Ca 2127/10 – aufgehoben.
Die Sache wird an das Arbeitsgericht Iserlohn zur weiteren Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, zurückverwiesen.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die Beklagte.
Der am 20.01.1958 geborene, verheiratete und gegenüber einem Kind unterhaltspflichtige Kläger ist seit dem 02.05.1986 bei der Beklagten als Werkspolier-/Asphalt-Einbaumeister zu einem monatlichen Bruttoeinkommen von zuletzt ca. 5.000,00 € beschäftigt.
Die Beklagte, bei der ein Betriebsrat gewählt ist, beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer. Der Kläger war bis einschließlich März 2010 Betriebsratsvorsitzender.
Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 22.09.2010 (Bl. 3, d. A.), das dem Kläger spätestens am 27.09.2010 zuging, erklärte die Beklagte die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Gegen diese Kündigung wehrt sich der Kläger mit der am 04.10.2010 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, dass die Kündigung mangels Vorliegens eines Kündigungsgrundes unwirksam sei. Darüber hinaus hat der Kläger die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestritten.
In der Güteverhandlung vom 28.10.2010 wurde die Sach- und Rechtslage erörtert, ohne dass eine gütliche Einigung erzielt werden konnte. Das Arbeitsgericht hat daraufhin einen Kammertermin auf den 01.02.2011 anberaumt und zunächst der Beklagten aufgegeben, die Wirksamkeit der Kündigung sowie die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats unter Vorlage der schriftlichen Anhörungsunterlagen abschließend unter Beweisantritt darzulegen.
Nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 30.11.2010 eine Verlängerung der ihr gesetzten Schriftsatzfrist beantragt hat, hat das Arbeitsgericht die Frist bis zum 10.12.2010 verlängert, ohne dass die Beklagte vor dem Kammertermin vom 01.02.2011 eine Stellungnahme eingereicht hat.
Im Kammertermin vom 01.02.2011 hat der Beklagtenvertreter keinen Antrag gestellt. Daraufhin hat der Kläger beantragt,
nach Aktenlage zu entscheiden,
hilfsweise,
gegen die Beklagte das Versäumnisurteil zu erlassen.
Das Arbeitsgericht verkündete am Ende der Sitzung einen Beschluss, mit dem es Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 22.02.2011 anberaumte. Am 22.02.2011 verkündete das Arbeitsgericht ein Urteil, mit dem die Unwirksamkeit der Kündigung der Beklagten vom 22.09.2010 festgestellt wurde.
Das Arbeitsgericht hat angenommen, dass es nach §§ 331 a Satz 1, 251 a Abs. 2 ZPO berechtigt gewesen sei, eine Entscheidung nach Aktenlage zu treffen. Denn Sinn und Zweck der Möglichkeit einer Entscheidung nach Aktenlage sei es, der Gefahr vorzubeugen, dass eine Partei unter Inkaufnahme des relativ ungefährlichen Versäumnisurteils in Verschleppungsabsicht dem Termin fernbleibe oder keinen Antrag stelle. Da die Beklagte bis zum Verkündungstermin trotz Bestreitens des Klägers die Tatsachen, die einen wichtigen Kündigungsgrund begründen könnten, sowie die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats nicht dargelegt habe, sei von einer Unwirksamkeit der Kündigung auszugehen gewesen.
Gegen das am 24.02.2011 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Beklagte am 14.03.2011 Berufung eingelegt und diese nach antragsgemäßer Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 26.05.2011 am 26.05.2011 begründet.
Die Beklagte vertritt in erster Linie die Ansicht, dass das Arbeitsgericht zu Unrecht eine Entscheidung nach Aktenlage getroffen habe. Denn eine solche Entscheidung ist nur dann zulässig, wenn zuvor in einer mündlichen Verhandlung Anträge gestellt worden seien. Diese Voraussetzung liege nicht vor, wenn lediglich in der Güteverhandlung die Sach- und Rechtslage erörtert worden sei.
Darüber hinaus ist die Beklagte der Ansicht, dass das Arbeitsgericht zu Unrecht die Unwirksamkeit der fristlosen Kündigung angenommen habe. Denn der Kläger habe als verantwortliche Polier- und Kolonnenführer am 08.07.2010 an einem Arbeitszeitbetrug sowie an einer Schwarzarbeit des Arbeitnehmers S1 mitgewirkt, so dass ein wichtiger Kündigungsgrund im Sinne des § 626 BGB vorliege, zu dem der Betriebsrat ordnungsgemäß am 21.09.2010 angehört worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn aufzuheben und den Rechtsstreit gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 6 ZPO an das Arbeitsgericht Iserlohn zurückzuverweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger verteidigt die nach Aktenlage getroffene Entscheidung des Arbeitsgerichts. Darüber hinaus ist der Kläger der Ansicht, dass die Beklagte, die in der ersten Instanz die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung nicht dargelegt habe, in der Berufungsinstanz mit einem Sachvortrag ausgeschlossen sei. Jedenfalls rechtfertige auch das Vorbringen der Beklagten in der Berufungsinstanz die ausgesprochene fristlose Kündigung nicht.
Wegen des Parteienvorbringens im Übrigen wird auf den vorgetragenen Inhalt der Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Gründe
I.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückweisung des Rechtsstreits an das Arbeitsgericht entsprechend § 538 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 6 ZPO.
1. Das Arbeitsgericht war zu einem Urteil nach Aktenlage nicht berechtigt.
a. Das Arbeitsgericht hat zwar keinen Beschluss darüber gefasst, dass eine Entscheidung nach Aktenlage getroffen wird und dies auch der Entscheidungsformel nicht zu entnehmen ist. In den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils wird jedoch ausdrücklich ausgeführt, dass es sich um ein Urteil nach Aktenlage handelt. Diese Entscheidung war jedoch nicht zulässig.
b. Nach §§ 331 a, 251 a Abs. 2 Satz 1 ZPO darf ein Urteil nach Aktenlage nur dann ergehen, wenn in einem früheren Termin bereits mündlich verhandelt worden ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
aa. In dem Gütetermin vom 22.02.2011 wurden keine Sachanträge gestellt. Es wurde lediglich die Sach- und Rechtslage mit den Parteien erörtert.
Es wird zwar teilweise die Ansicht vertreten, dass im arbeitsgerichtlichen Verfahren im ersten Kammertermin ein Urteil nach Aktenlage gemäß §§ 251 a, 331 a ZPO gefällt werden kann, wenn eine Güteverhandlung stattgefunden hat, in der die Sach- und Rechtslage erörtert worden ist (so: LAG Berlin, Urteil v. 03.02.1997 – 9 Sa 133/96, LAGE § 251 a ZPO Nr. 1; LAG Hessen, Urteil v. 31.10.2000 – 9 Sa 2072/99, MDR 2001, 517; Korinth in Schwab/Weth, 3. Aufl. 2011, § 59 ArbGG Rdnr.53; Lepke DB 1997, 1564 ff.). Die Kammer schließt sich jedoch der wohl überwiegend vertretenen Gegenansicht an, nach der die Erörterung der Sach- und Rechtslage im Gütetermin keine mündliche Verhandlung im Sinne des § 251 a Abs. 2 Satz 1 ZPO ist, so dass ein Urteil nach Aktenlage nicht ergehen darf (so LAG Hamm, Urteil v. 04.03.2011 – 18 Sa 907/10, juris; LAG Hessen, Urteil v. 05.11.2010 – 3 Sa 602/10, juris; LAG Bremen, Urteil v. 25.06.2009 – 2 Sa 67/03, juris; Creutzfeld in Bader/Creutzfeld/Friedrich, 5. Aufl. 2008, § 55 ArbGG Rdnr. 9; Helmel in Hauck/Hellmel/Bibel, 4. Aufl. 2011, § 55 ArbGG Rdnr. 32; Koch in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 11. Aufl. 2011 = ErfK/Koch § 55 ArbGG Rdnr. 4; Kloppenburg/Ziemann in Düwell/Lipke, 2. Aufl. 2005, § 55 ArbGG Rdnr. 32 und Germelmann in Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge, 7. Aufl. 2009, § 55 ArbG Rdnr. 17).
Eine systematischteleologische Auslegung des § 251 a Abs. 2 Satz 1 ZPO ergibt, dass die Parteien nur dann mündlich im Sinne dieser Vorschrift verhandelt haben, wenn in einem vorherigen Termin Anträge gestellt worden sind (vgl. Thomas/Putzo, 31.Aufl. 2010, § 251 a Rdnr. 3; Gehrlein in Münchener Kommentar zur ZPO, 3. Aufl. 2008, § 251 a ZPO Rdnr. 16; Roth in Stein/Jonas, 22. Aufl. 2005, 251 a ZPO Rdnr. 13; LAG Bremen, Urteil v. 25.06.2003 – 2 Sa 67/03; LAG Hessen, Urteil v. 15.11.2010 – 3 Sa 602/10, juris).
Im Gesetze systematischer Hinsicht ist gemäß zunächst § 187 Abs. 1 ZPO zu beachten: Die mündliche Verhandlung wird dadurch eingeleitet, dass die Parteien ihre Sachanträge stellen. § 297 ZPO sieht vor, dass die Anträge aus den vorbereiteten Schriftsätzen zu verlesen sind, zu Protokoll erklärt werden oder dass die Parteien auf Schriftsätze Bezug nehmen, die die Anträge enthalten. Diese Vorschriften tragen der Notwendigkeit Rechnung, den Gegenstand des Prozesses durch eine konkrete Antragstellung zu bestimmen. Denn das Gericht ist nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist (§ 308 Abs. 1 ZPO). Dem Antragserfordernis wird durch eine bloße streitige Erörterung der Sach- und Rechtslage nicht Genüge getan werden (BAG, Urt. v. 01.12.2004 – 5 AZR 121/04, juris). Vielmehr bedarf es aus Gründen der prozessualen Klarheit und wegen der Notwendigkeit, die Sachentscheidungsbefugnis des Gerichts abzugrenzen, jedenfalls grundsätzlich einer konkreten, auf die Sachentscheidung des Gerichts ausgerichteten Antragstellung. Ob die ausdrückliche Antragsstellung auch auf Seiten der beklagten Partei zwingende Voraussetzung für ein Verhandeln im Sinne des § 333 ZPO ist, bedarf vorliegend keiner Entscheidung (dagegen BAG, Urt. v. 23.01.2007 – 9 AZR 492/06, MDR 2007, 1025). Denn auch gegen die beklagte Partei kann eine Sachentscheidung bei Fehlen eines Antrags nur dann ergehen, wenn sich das Verhalten der beklagten Partei als derartige Teilnahme am Prozessgeschehen darstellt, das sie auf eine bestimmte Entscheidung des Gerichts in der Sache gerichtet ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die beklagte Partei durch ihr Auftreten im Verhandlungstermin und ihre bisherige Beteiligung am Rechtsstreit für Gericht und Gegenpartei auch ohne Antragstellung im Rahmen einer mündlichen Kammerverhandlung unzweifelhaft klargestellt hat, dass sie sich gegen die beantragte Verurteilung zur Wehr setzen will (vgl. BAG, Urt. v. 23.01.2007 – 9 AZR 492/06, MDR 2007, 1025). Nur dies entspricht auch dem Sinn und Zweck des § 251 a Abs. 2 Satz 1 ZPO. Mit der Voraussetzung der mündlichen Verhandlung bezweckt die Vorschrift, dass die Parteien ihre Standpunkte wenigstens einmal mündlich vortragen konnten und das Gericht Gelegenheit zur Ausübung seines Fragerechts hatte (vgl. LAG Hamm, Urteil v. 04.03.2011 – 18 Sa 907/10, juris; LAG Hessen, Urteil v. 05.11.2010 – 3 Sa 602/10, juris).
Der Zweck des § 251 a Abs. 2 Satz 1 ZPO ist im Streitfall nicht erreicht worden. Die Beklagte hat bis zum Kammertermin keine Tatsachen vorgetragen, die die ausgesprochene Kündigung rechtfertigen könnten. Das Gericht und insbesondere die ehrenamtlichen Richter, die in der Güteverhandlung nicht beteiligt waren, konnten dem- entsprechend auch von ihrem Fragerecht keinen Gebrauch machen.
bb. § 54 Abs. 1 Satz 1 ArbGG rechtfertigt keine abweichende Beurteilung.
Nach dieser Vorschrift beginnt die mündliche Verhandlung im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren mit einer Verhandlung vor dem Vorsitzenden zum Zwecke der gütlichen Einigung der Parteien. § 54 Abs. 1 Satz 1 ArbGG berechtigt jedoch das Arbeitsgericht nicht dazu, nach vorausgegangener Güteverhandlung bei Säumnis einer Partei im Kammertermin ein Urteil nach Aktenlage zu erlassen. Denn diese Vorschrift stellt lediglich klar, dass in Abgrenzung zu § 137 Abs. 1 ZPO zu Beginn der Güteverhandlung keine Anträge zu stellen sind, damit eine ungehinderte Erörterung der Sache mit dem Ziel einer gütlichen Einigung erfolgen kann. Vor diesem Hintergrund ordnet auch § 54 Abs. 2 Satz 1 ArbGG an, dass die Klage bis zum Stellen der Anträge im Kammertermin ohne Einwilligung der beklagten Partei zurückgenommen werden kann. Die Befugnis, ein Urteil nach Lage der Akte zu erlassen, richtet sich ausschließlich nach der Vorschrift des § 251 a Abs. 2 Satz 1 ZPO, die auch für das arbeitsgerichtliche Verfahren gemäß §§ 46 abs. 2 Satz 1 ArbGG, 495 ZPO gilt.
Soweit es nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ankommt, ist für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren anerkannt, dass insoweit auf die streitige Verhandlung im Kammertermin und nicht auf die Güteverhandlung abzustellen ist. § 54 Abs. 2 Satz 3 ArbGG ordnet dies ausdrücklich an im Hinblick auf die Zuständigkeit des Gerichts infolge rügeloser Verhandlung (§ 39 Satz 1 ZPO) und im Hinblick auf Rügen, die die Zulässigkeit der Klage betreffen (§ 282 Abs. 3 Satz1 ZPO). Das Gleiche gilt hinsichtlich der Rechtswegrüge und der vermuteten Einwilligung in die Klageänderung gemäß § 267 ZPO (Schumann in Stein/Jonas, 21. Aufl., § 267 ZPO Rdnr. 6). Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist damit der Mündlichkeitsgrundsatz besonders ausgeprägt und eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren nach § 128 Abs. 2 ZPO gemäß § 46 Abs. 2 Satz 2 ArbGG nicht möglich. Dass im Rahmen des § 251 a Abs. 2 Satz 1 ZPO bereits die Güteverhandlung als mündliche Verhandlung anzusehen sein soll, lässt sich auch nicht mit dem besonderen Beschleunigungsgrundsatz für arbeitsgerichtliche Streitigkeiten plausibel begründen. Denn das Arbeitsgericht hat die Möglichkeit, das Verfahren zu beschleunigen, in dem es Ausschlussfristen gemäß §§ 56 Abs. 2, 61 a Abs. 5 ArbGG setzt. Der prozessual zulässigen Flucht in die Säumnis kann begegnet werden, in dem ein Versäumnisurteil erlassen und nach Eingang der Einspruchsschrift zeitnah terminiert wird.
2. Die unzulässige Entscheidung des Arbeitsgerichts nach Lage der Akten führt zur Zurückweisung des Rechtsstreits entsprechend § 538 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 6 ZPO.
a. Die Sonderregelung des § 68 ArbGG steht einer grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 538 Abs. 2 ZPO im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht entgegen.
aa. Nach § 68 ArbGG ist zwar die Zurückverweisung wegen eines Mangels im Verfahren des Arbeitsgerichts unzulässig. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass eine Zurückverweisung stets zu erfolgen hat, wenn der erstinstanzliche Verfahrensmangel vom Berufungsgericht nicht mehr korrigiert werden kann (BAG, Urt. v. 04.05.2011 – 7 AZR 252/10, NZA 2011, 1178; Urt. v. 26.06.2008 – 6 AZR 478/07, DB 2009, 797; ErfK/Koch § 68 ArbGG Rdnr. 3; Vossen in GK-ArbGG, § 68 ArbGG Rdnr. 12; Pfeiffer in Natter/Gross, § 68 ArbGG Rdnr. 4; Germelmann in Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge § 68 ArbGG Rdnr. 4 m.w.N.). Diese Einschränkung folgt aus einer teleologischen Reduktion des Wortlauts des § 68 ArbGG vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich verankerten Rechtsschutzgarantie (Pfeiffer in Natter/Gross, § 68 ArbGG Rdnr. 3; Schwab in Schwab/Weth, § 68 ArbGG Rdnr. 38). Liegt dagegen kein Verfahrensfehler vor, so greift die Sonderregelung des § 68 ArbGG, die die Zurückweisung grundsätzlich abweichend von § 538 Abs. 2 Nr.1 ausdrücklich ausschließt, nicht ein. Eine Zurückweisung kommt allerdings nur unter den Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 Nr. 2 bis 7 ZPO in Betracht bzw. in den Fällen, in denen die Sachlage den in § 538 Abs. 2 ZPO aufgeführten Fällen sehr ähnlich ist, sodass eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift geboten ist (vgl. BAG, Urt. v. 21.11.2000 – 9 AZR 665/99, NZA 2001, 1093, BAG, Urt. v. 15.07.1969 – 2 AZR 498/68, AP Nr. 17 zu § 794 ZP; ErfK/Koch § 68 ArbGG Rdnr. 1).
bb. Im Streitfall liegt zum einen ein wesentlicher Mangel vor, der in der Berufungsinstanz nicht zu beheben ist. Das Arbeitsgericht hat eine Entscheidung in der Sache getroffen, obwohl bisher keine Erörterung der Sach- und Rechtslage vor einer vollbesetzten Kammer stattgefunden und die Beklagte bisher überhaupt keine Anträge gestellt hat, sodass kein streitiges Urteil, sondern nur ein Versäumnisurteil hätte ergehen dürfen. Die Versäumnisentscheidung, die erstinstanzlich prozessual richtig gewesen wäre, kann in der Berufungsinstanz nicht mehr ergehen (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 04.03.1997 – 6 Sa 1235/96 unter Hinweis auf den Rechtsgedanken des § 336 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Dieser Mangel ist nicht nach § 295 ZPO heilbar (BAG, Urteil vom 04.12.2002 – 5 AZR 556/01).
Dadurch, dass das Arbeitsgericht ein Urteil nach Lage der Akten erlassen hat, ist der Beklagten die Möglichkeit genommen worden, in der ersten Instanz sachgerecht zu handeln. Ihr wurde durch das Urteil nach Aktenlage der Rechtsbehelf des Einspruchs gemäß § 59 ArbGG und die Möglichkeit der Verhandlung von einer voll besetzten Kammer abgeschnitten.
Eine Sachentscheidung durch das Berufungsgericht wäre dem Einwand ausgesetzt, dass überhaupt noch keine zweiseitige Verhandlung vor der vollbesetzten Kammer des Arbeitsgerichts stattgefunden hat und der Beklagten insoweit eine Instanz genommen würde (vgl. BAG, Urteil vom 04.12.2002 – 5 AZR 556/01 zu den entsprechenden Erwägungen aus Sicht der Revisionsinstanz). Die Beklagte hat sich vor dem Arbeitsgericht nicht damit einverstanden erklärt, dass eine instanzabschließende Entscheidung ergeht. Weder die Erörterung der Sach- und Rechtslage in der Güteverhandlung noch die unterbliebene Antragsstellung im Kammertermin lassen sich prozessual als ein Einverständnis der Beklagten interpretieren, dass über die Kündigungsschutzklage erstinstanzlich ohne Erörterung der Sach- und Rechtslage vor der vollbesetzten Kammer abschließend entschieden werden soll (LAG Bremen, Urteil vom 25.06.2003 – 2 Sa 67/03). Im Gegenteil. Dadurch, dass im Kammertermin trotz Anwesenheit des Beklagtenvertreters keine Erörterung der Sach- und Rechtslage vor der vollbesetzten Kammer stattgefunden und der Beklagtenvertreter erklärt hat, dass er nicht auftreten werde, hat er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die Beklagte mit einer Sachentscheidung ohne eine mündliche Verhandlung vor der vollbesetzten Kammer nicht einverstanden ist. Dementsprechend hat die Beklagte auch folgerichtig zweitinstanzlich nur hilfsweise Sachanträge gestellt und vorrangig ausdrücklich die Zurückverweisung an das Arbeitsgericht unter Hinweis darauf beantragt, dass eine Entscheidung nach Aktenlage nicht hätte ergehen dürfen.
cc. Der zu entscheidende Sachverhalt ist jedenfalls den in § 538 Abs. 2 Nr. 2 und Nr.6 ZPO geregelten Fallkonstellationen sehr ähnlich. Nach § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO kann das Berufungsgericht die Sache an das Arbeitsgericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen, wenn durch das angefochtene Urteil ein Einspruch als unzulässig verworfen werden ist. Nach § 538 Abs. 2 Nr. 6 ZPO kommt eine Zurückverweisung in Betracht, wenn das angefochtene Urteil ein Versäumnisurteil ist. Kennzeichnend für die in § 538 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 6 ZPO geregelten Fälle ist, dass es zu einer eigentlichen Sachentscheidung in erster Instanz nicht oder jedenfalls nicht aufgrund einer streitigen Verhandlung gekommen ist, was auch bei § 538 Abs. 2 Nr. 3 ZPO der Fall ist. Durch die Zurückweisung in den Fällen des § 538 Abs. 2 Nr. 2 bis 7, in denen die Sonderregelung des § 68 ArbGG nicht eingreift, soll also verhindert werden, dass den Partien bei einer unrichtigen Säumnis- oder Prozessentscheidung eine Tatsacheninstanz verloren geht (vgl. BAG, Urt. v. 15.07.1969 – 2 AZR 498/68, AP Nr. 17 zu § 794 ZPO).
Im vorliegenden Fall lag im Kammertermin vor dem Arbeitsgericht eine Säumnissituation vor, die auch den Hintergrund der Regelung des § 538 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 6 ZPO bildet. Im Verfahrensstadium der ersten Kammerverhandlung nach gescheiterter Güteverhandlung stellt sich die Entscheidung nach Aktenlage als verdeckte Säumnisentscheidung dar, gegen die nicht mehr in erster Instanz vorgegangen werden kann. Vorliegend hat das Arbeitsgericht in einer an sich gegebenen Säumnissituation ohne jeglichen Sachvortrag der darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten in der Sache selbst entschieden, obwohl es selbst nach den Erörterungen im Gütetermin ein Vorbringen der Beklagten zur Sache für erforderlich hielt und aus diesem Grunde auch eine entsprechende Auflage der Beklagten erteilt hat. Dadurch, dass das Arbeitsgericht der Beklagten die Möglichkeit der grundsätzlich zulässigen Flucht in die Säumnis und die erstmalige Erörterung der Sach- und Rechtslage vor der vollbesetzten Kammer abgeschnitten, die Unwirksamkeit der Kündigung unter Hinweis darauf festgestellt hat, dass die Beklagte zur Rechtfertigung der Kündigung keine Tatsachen vorgetragen hat, und ein die 1. Instanz beendendes streitiges Urteil erlassen hat, liegt ein Sachverhalt vor, der den in § 538 Abs. 2 Nr. 2 und 6 geregelten sehr ähnlich ist. Denn auch im vorliegenden Fall wird die erste Instanz beendet und die abwesende Partei wird auf das Rechtsmittel der Berufung beschränkt, so dass der streitgegenständliche Sachverhalt ebenso zu bewerten ist, wie die gesetzlich in § 538 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 6 ZPO geregelten Tatbestände. Eine Zurückverweisung an das Arbeitsgericht aufgrund einer Ermessenentscheidung ist damit bei vorliegender Fallkonstellation möglich ist (LAG Hamm, Urteil v. 04.03.2011 – 18 Sa 907/10, juris; LAG Bremen, Urteil v. 25.06.2002 – 2 Sa 67/03, juris; Vossen in GK-ArbGG, Stand: April 2010, § 68 ArbGG Rdnr. 23; ErfK/Koch § 68 ArbGG Rdnr. 1, 4).
Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung des Rechtsstreits nach § 538 Abs. 2 ZPO liegen somit einschließlich des entsprechenden Zurückweisungsantrags der Beklagten, der zwingende Voraussetzung für eine Zurückweisung ist (vgl. Zöller/Heßler, 28. Aufl. 2010, § 538 ZPO Rdnr. 56 m. w. N.), vor.
Nach § 538 Abs. 2 ZPO steht die Zurückverweisung im Ermessen des Berufungsgerichts (Zöller/Heßler § 538 ZPO Rdnr. 6 ff.). Im Streitfall führt die Ausübung des Ermessens zur Zurückverweisung.
Die Sach- und Rechtslage ist bisher jedenfalls noch nicht vor einer Kammer des Arbeitsgerichts unter Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter eingehend unter Berücksichtigung der von der Beklagten behaupteten Kündigungsgründe erörtert worden, was die Beklagte aber aufgrund ihrer ausdrücklichen Antragsstellung begehrt. Die Tatsachen, die die Kündigung nach dem Vorbringen der Beklagten rechtfertigen sollen, sind ebenso streitig wie die Frage der Darlegung der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrates, sodass insoweit der Sachverhalt durch das Arbeitsgericht, gegebenenfalls durch eine Beweisaufnahme durch eine Vernehmung der insoweit benannten Zeugen, die bei der Beklagten tätig sind und daher ohne Weiteres von dem ortsnäheren Arbeitsgericht vernommen werden können, geklärt werden konnte. Darüber hinaus war auch zu berücksichtigen, dass das Arbeitsgericht die Sach- und Rechtslage mit den Parteien zwar in dem Gütetermin erörtert hat, dem Protokoll entnommen werden kann, inwieweit eine Erörterung der Kündigungsgründe und der Frage der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrates überhaupt möglich war und erfolgt ist, weil im dem Protokoll insoweit keine genauen Feststellungen zu entnehmen sind und im Anschluss an den Gütetermin nur ein recht allgemeiner Auflagenbeschluss ergangen ist. Bei der unterbliebenen Zurückweisung würde somit den Parteien, und insbesondere der darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten eine Tatsacheninstanz verloren gehen, was diese trotz der damit möglicherweise verbundenen Prozessverzögerung im Interesse einer vollständigen Sachverhaltsaufklärung unter Ausschöpfung des Instanzenzuges erreichen will. Die Interessen des Klägers werden dabei nicht unangemessen beeinträchtigt, weil die Beklagte, die die Zurückweisung beantragt hat, das wegen des Streits über die Wirksamkeit der Kündigung verbundene Annahmeverzugsrisiko trägt.
II.
Die Entscheidung über die Kosten der Berufung hat das Arbeitsgericht zu treffen. Die Gerichtskosten für das Berufungsverfahren sind gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG nicht zu erheben.
Die Revision ist gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 ArbGG zugelassen worden. Der Rechtsstreit wirft eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf, die in der landesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt wird. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob eine Zurückverweisung an das Arbeitsgericht in Betracht kommt, wenn das Arbeitsgericht nach Lage der Akten urteilt, ohne dass zuvor in mündlicher Verhandlung Anträge gestellt worden sind.

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