BGH, Beschluss vom 07. November 2018 – IV ZR 189/17

April 14, 2019

BGH, Beschluss vom 07. November 2018 – IV ZR 189/17

vorgehend OLG Koblenz, 22. Juni 2017, 2 U 929/16
vorgehend LG Trier, 12. Juli 2016, 11 O 329/15
Tenor
Auf die Beschwerde des Beklagten wird die Revision gegen das Urteil des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 22. Juni 2017 zugelassen.
Das vorbezeichnete Urteil wird nach § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 100.000 € festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt als Pflichtteilsberechtigte nach ihrer am 21. April 2015 kinderlos verstorbenen Tochter (im Folgenden: Erblasserin) den Beklagten, deren Alleinerben und Lebensgefährten, auf Zahlung in Anspruch.
Wenige Monate vor ihrem Tod trat die Erblasserin an die Klägerin heran mit der Bitte um Abschluss eines Pflichtteilsverzichtsvertrages. Zur Beurkundung des notariell vorbereiteten Vertragsentwurfs kam es nicht.
Mit ihrer Klage macht die Klägerin einen Teilbetrag von 100.000 € nebst Zinsen aus einer auf 152.731,49 € bezifferten Gesamtsumme geltend. Der Beklagte hat unter anderem eingewandt, die Klägerin habe während eines Telefonats vom 22. April 2015, das die Zeugen Z. und S. mit Einwilligung der Klägerin mitgehört hätten, und am Tag der Beerdigung, dem 29. April 2015, auf ihre Ansprüche verzichtet.
Das Landgericht hat nach Anhörung der Parteien und Vernehmung der von ihnen benannten Zeugen einen Erlassvertrag als erwiesen erachtet und die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat den Beklagten auf die Berufung der Klägerin nach erneuter Parteianhörung, ohne jedoch die Zeugen selbst zu vernehmen, antragsgemäß verurteilt.
II. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, der Pflichtteilsanspruch sei nicht durch einen Erlassvertrag erloschen. Es könne zu Gunsten des Beklagten unterstellt werden, dass die Klägerin geäußert habe, “nichts haben” zu wollen von dem, was sich die Erblasserin und der Beklagte “erarbeitet” hätten. Diese Äußerungen könnten nicht nur im Sinne eines umfassenden Verzichts, sondern auch dahin gedeutet werden, dass die Klägerin lediglich auf konkrete “erarbeitete” Vermögensgegenstände, etwa den von der Erblasserin aufgebauten Taxibetrieb oder das dazugehörige Grundstück, keinen Anspruch habe erheben wollen. Für ein solches Verständnis spreche insbesondere die vom Beklagten bei seiner Anhörung in zweiter Instanz erwähnte zusätzliche Erklärung der Klägerin am Tag der Beerdigung (“Wir werden uns schon einig”). Jedenfalls könne ein auf Pflichtteilsansprüche gerichteter Verzichtswille aber unter Berücksichtigung sämtlicher Begleitumstände nicht angenommen werden. Dagegen spreche bereits, dass die Klägerin den ihr unter Vorlage eines notariellen Vertragsentwurfs angetragenen Pflichtteilsverzicht wenige Monate zuvor – unstreitig – eindeutig abgelehnt habe. Nachvollziehbare Gründe dafür, warum die Klägerin von ihrer unwiderlegt nach reiflicher Überlegung getroffenen Entscheidung, einen Pflichtteilsverzicht nicht zu erklären, weniger als ein halbes Jahr später abgewichen sein solle, seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Das erscheine auch vor dem Hintergrund der familiären Situation nicht wahrscheinlich.
III. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Dieses hat den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
1. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 ZPO von einer erneuten Zeugenvernehmung abgesehen hat, obwohl es die Aussagen der Zeugen im Ergebnis anders gewürdigt hat als das Landgericht.
a) Auch wenn die erneute Vernehmung von Zeugen grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts steht, ist es verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es seine Glaubwürdigkeit anders als der Erstrichter beurteilen oder die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (Senatsbeschlüsse vom 21. März 2018 – IV ZR 248/17, VersR 2018, 1023 Rn. 10; vom 10. November 2010 – IV ZR 122/09, VersR 2011, 369 Rn. 6; BGH, Beschluss vom 2. August 2017 – VII ZR 155/15, NJW-RR 2017, 1101 Rn. 14; jeweils m.w.N.). Würdigt das Berufungsgericht eine Zeugenaussage anders als das erstinstanzliche Gericht, ohne den Zeugen erneut selbst zu vernehmen, so verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei (Senatsbeschluss vom 10. November 2010 aaO m.w.N.). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (Senatsbeschlüsse vom 21. März 2018 aaO; vom 10. November 2010 aaO; BGH, Beschluss vom 21. Juni 2011 – II ZR 103/10, NZG 2011, 997 Rn. 7; jeweils m.w.N.).
b) Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen. Das Landgericht ist nach Vernehmung der Zeugen zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin die streitigen Erklärungen abgegeben und sich hiermit auf Pflichtteilsansprüche bezogen habe und dass der bereits am 22. April 2015 geschlossene Erlassvertrag mit der Vorgeschichte vereinbar sei. Dabei hat sich das Landgericht unter anderem auf die Bekundung der Zeugin S. gestützt, der Pflichtteilsverzicht sei zu Lebzeiten der Erblasserin nur deshalb nicht zustande gekommen, weil es einen Streit um eine Wiese gegeben habe.
Soweit das Berufungsgericht es demgegenüber für möglich halten wollte, die streitigen Erklärungen nur auf konkrete “erarbeitete” Gegenstände zu beziehen, und einen auf Pflichtteilsansprüche bezogenen Verzichtswillen der Klägerin als unwahrscheinlich erachtet hat, durfte es von einer erneuten Vernehmung der Zeugen nicht deshalb absehen, weil es die vom Beklagten behaupteten Äußerungen als abgegeben unterstellt hat. Zu den Voraussetzungen einer zulässigen Wahrunterstellung gehört, dass die Behauptung so übernommen wird, wie die Partei sie aufgestellt hat (BGH, Urteil vom 15. März 2017 – VIII ZR 270/15, NJW 2017, 1474 Rn. 26 m.w.N.). Das Berufungsgericht hat seiner Würdigung jedoch allein den äußeren Wortlaut der Erklärungen, nicht aber das dazugehörige – vom Landgericht als erwiesen erachtete – Vorbringen des Beklagten zu den sinngebenden und begleitenden Umständen zugrunde gelegt. Damit hat es nicht lediglich eine vom Landgericht abweichende Auslegung der erstinstanzlich festgestellten Erklärung vom 22. April 2015 vorgenommen (vgl. hierzu Senatsurteil vom 10. Mai 1989 – IVa ZR 66/88, NJW-RR 1989, 1282 unter 2 f. [juris Rn. 9 ff.]; BGH, Urteil vom 8. September 1997 – II ZR 55/96, NJW 1998, 384 unter II 2 [juris Rn. 7]).
Der Verpflichtung zur erneuten Zeugenvernehmung konnte sich das Berufungsgericht auch nicht dadurch entziehen, dass es von einer eingehenden Auseinandersetzung mit der landgerichtlichen Beweisaufnahme und -würdigung abgesehen und seine Entscheidung in erster Linie auf unstreitige Umstände, insbesondere das Scheitern des Pflichtteilsverzichtsvertrages und die familiäre Situation, gestützt hat (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2002 – VIII ZR 151/01, NJW-RR 2002, 1649 unter II 2 b [juris Rn. 12]). Hat das erstinstanzliche Gericht zu streitigen Äußerungen und den Umständen, unter denen sie abgegeben worden sind, Zeugen vernommen und ist es aufgrund einer Würdigung der Aussagen zu einem bestimmten Ergebnis gekommen, so kann das Berufungsgericht diese Auslegung nicht ohne weiteres verwerfen und zum gegenteiligen Ergebnis kommen, ohne zuvor die Zeugen gemäß § 398 Abs. 1 ZPO selbst vernommen zu haben (Senatsbeschluss vom 21. April 2010 – IV ZR 172/09, juris Rn. 5; BGH, Urteil vom 28. November 1995 – XI ZR 37/95, NJW 1996, 663 unter III 3 [juris Rn. 19]). Dementsprechend war es unzulässig, einen Verzichtswillen der Klägerin ohne erneute Zeugenvernehmung allein mittels einer Gesamtbetrachtung zu verneinen, zumal unter den gegebenen Umständen der Übergang zwischen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Würdigung fließend ist (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 14. Juli 2004 – VIII ZR 164/03, BGHZ 160, 83, 88 f. [juris Rn. 14 ff.]) und die vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen nur den Schluss zulassen, dass es den Aussagen und Eindrücken der Zeugen S. und Z. anders als das Landgericht keine Bedeutung beimessen wollte (vgl. hierzu auch BGH, Beschlüsse vom 21. März 2012 – XII ZR 18/11, NJW-RR 2012, 704 Rn. 9 f.; vom 21. Juni 2011 – II ZR 103/10, NZG 2011, 997 Rn. 8; Urteil vom 3. April 2001 – XI ZR 223/00, NJW-RR 2001, 1430 unter II 1 c [juris Rn. 13]).
2. Die Gehörsverletzung ist entgegen der Auffassung der Klägerin entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich das Berufungsgericht im Fall der gebotenen Zeugenvernehmung vom Zustandekommen eines Erlassvertrages überzeugt hätte.
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Bei der Zuwendung von 45.000 € noch zu Lebzeiten der Erblasserin, die die Klägerin in ihre vom Berufungsgericht ausdrücklich in Bezug genommene Anspruchsberechnung vom 17. Januar 2016 eingestellt hat, handelt es sich nicht um einen bloßen Rechnungsposten. Eine solche Minderung des Vermögens vor dem in § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB bezeichneten Zeitpunkt ist vielmehr – wovon das Landgericht in seinem Hinweis vom 5. Januar 2016 zutreffend ausgegangen ist – anhand von § 2325 BGB zu beurteilen. Bislang fehlt es an einer Bestimmung dahingehend, wie sich der eingeklagte Teilbetrag von 100.000 € auf die prozessual selbständigen Ansprüche (vgl. Senatsurteile vom 8. März 2006 – IV ZR 263/04, ZEV 2006, 265 Rn. 14; vom 24. Juni 1998 – IV ZR 159/97, BGHZ 139, 116, 117 [juris Rn. 7]) verteilen soll und in welcher Reihenfolge sie zur Entscheidung des Gerichts gestellt werden sollen (vgl. BGH, Urteil vom 6. Mai 2014 – II ZR 217/13, NJW 2014, 3298 Rn. 13 m.w.N.).
b) Sollte sich das Berufungsgericht nach Vernehmung der Zeugen vom Zustandekommen eines Erlassvertrages nicht überzeugen, wird es sich mit dem Parteivorbringen zum Nachlasswert sowie der angeblichen Zuwendung im Einzelnen befassen und den Parteien hierzu sowie zur Pflichtteilsquote (§ 1925 Abs. 3, § 2303 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 BGB) Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme geben müssen.
Mayen Felsch Harsdorf-Gebhardt
Prof. Dr. Karczewski Dr. Götz

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