Vorliegen eines Gehörsverstoßes – BGH VI ZR 98/22

Juli 22, 2023

Vorliegen eines Gehörsverstoßes – BGH VI ZR 98/22 Beschluss vom 28.02.2023 wegen abweichender Würdigung einer Zeugenaussage

Zusammenfassung von RA und Notar Krau:

In dem Beschluss BGH VI ZR 98/22 vom 28.02.2023 geht es um einen Gehörsverstoß.

Das Berufungsgericht wertete eine Zeugenaussage anders als die Vorinstanz, ohne die Zeugin erneut zu hören.

Das führte zur Aufhebung des Urteils und Rückverweisung an das Berufungsgericht wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).

Inhaltsverzeichnis:

I. Zusammenfassung

  • Gehörsverstoß im Beschluss BGH VI ZR 98/22 vom 28.02.2023
  • Berufungsgericht wertet Zeugenaussage anders, ohne erneute Vernehmung

II. Tenor

  • Aufhebung des Urteils des Oberlandesgerichts Koblenz
  • Zurückverweisung an das Berufungsgericht
  • Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde

III. Gründe

A. Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld nach Skiunfall

B. Landgerichtsentscheidung: Verurteilung des Beklagten mit 75 % Haftungsquote

C. Berufungsgericht: Klageabweisung ohne eigene Beweisaufnahme

D. Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erfolgreich

E. Verletzung des rechtlichen Gehörs

F. Anwendung von § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 Abs. 1 ZPO

G. Entscheidungserheblicher Gehörsverstoß

H. Aufhebung des Urteils und Rückverweisung

I. Hinweise für das weitere Verfahren

Zum Entscheidungstext:



Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes wegen abweichender Würdigung einer Zeugenaussage durch das Berufungsgericht gegenüber der Vorinstanz, ohne den Zeugen erneut zu vernehmen.

Tenor


Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 24. Februar 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 35.000 €

Vorliegen eines Gehörsverstoßes – BGH VI ZR 98/22 – Gründe


I.

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Skiunfall in Anspruch.

Am 8. Februar 2020 befuhr der Kläger im Skigebiet Ellmau/Wilder Kaiser, Tirol, die Skipiste 97b in Richtung Talstation. Der Beklagte befuhr die Skipiste 98b, einen Ziehweg, der vom Berg aus gesehen rechts in die Piste 97b einmündet, und überquerte dann die Piste 97b. Im Einmündungsbereich des Ziehwegs steht ein Stoppschild. Kurz bevor der Beklagte die Piste 97b vollständig überquert hatte, prallte er vom Berg aus gesehen am linken Pistenrand mit dem Kläger zusammen. Dieser erlitt unter anderem einen Trümmerbruch des rechten Oberschenkels.

Das Landgericht hat den Beklagten nach Vernehmung einer Unfallzeugin auf der Grundlage einer Haftungsquote von 75 % zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld verurteilt und die Ersatzpflicht des Beklagten für 75 % der noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden festgestellt. Die weitergehende Klage hat das Landgericht abgewiesen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage ohne eigene Beweisaufnahme insgesamt abgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

Vorliegen eines Gehörsverstoßes – BGH VI ZR 98/22

Das Berufungsgericht hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe den Unfall durch seine zu schnelle, den konkreten und ihm bekannten Gegebenheiten auf der Piste nicht angepasste Fahrweise allein verursacht. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger die relativ steile Hauptpiste 97b mit erheblicher Geschwindigkeit befahren habe, während der Beklagte diese langsam überquert habe. Der Kläger habe gegen die FIS-Regeln Nr. 1, 2 und 3 verstoßen, indem er keinen Anlass gesehen habe, seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Er hätte nach FIS-Regel Nr. 3 seine Fahrspur so wählen müssen, dass er unterhalb fahrende Skifahrer nicht gefährde, die uneingeschränkten Vorrang genießen würden.

Der Kläger, der den einmündenden Ziehweg und ein mögliches Fehlverhalten der diesen Weg nutzenden Skifahrer gekannt habe und eine im rechten Bereich der Piste stehende, seine Sicht behindernde Skifahrergruppe wahrgenommen habe, hätte nach FIS-Regeln Nr. 1 und 2 auch im linken Pistenteil nur mit einer Geschwindigkeit fahren dürfen, die es ihm erlaubt hätte, vor plötzlich auftauchenden Hindernissen noch rechtzeitig anzuhalten.

Da er den langsam die Hauptpiste querenden Beklagten erst einen Meter vor der Kollision aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen habe, habe er weder das Sichtfahrgebot noch die ihn treffende Beobachtungs- und Rücksichtnahmepflicht beachtet. Außerdem streite aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und der unstreitigen Bewegungsrichtung der Beteiligten der Beweis des ersten Anscheins für eine Unfallverursachung des Klägers. Ein Mitverschulden des Beklagten könne hingegen nicht festgestellt werden.

III.

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

Das Berufungsgericht hat die erstinstanzlich vernommene Zeugin entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 Abs. 1 ZPO nicht erneut vernommen, obwohl es deren Aussage anders gewürdigt hat als das Landgericht. Diese rechtsfehlerhafte Anwendung des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009 – VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291 Rn. 4 mwN).

Vorliegen eines Gehörsverstoßes – BGH VI ZR 98/22

a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009 – VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291 Rn. 5 mwN). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.

b) Das Landgericht hat in seinem Urteil festgestellt, die Zeugin – von der es überzeugt war, dass sie die Wahrheit gesagt habe – habe ausgesagt, der Beklagte sei in den Kläger “rein gefahren”. Die Zeugin habe ihre Geschwindigkeit mit schnell angegeben und die Geschwindigkeit des Beklagten ebenfalls mit schnell. Auf der Grundlage dieser Zeugenaussage hat das Landgericht angenommen, dass der Beklagte sich bei der Kollision auf der Skipiste 97b nicht schon unterhalb des Klägers befunden habe, sondern der Beklagte von der Seite in den Kläger hineingefahren sei. Es hat weiter angenommen, dass der Beklagte mit den damaligen Verhältnissen nicht angepasster Geschwindigkeit gefahren sei.

Auch das Berufungsgericht hat seinem Urteil die Zeugenaussage zugrunde gelegt. Es hat allerdings angenommen, dass der Kläger die Hauptpiste mit erheblicher Geschwindigkeit befahren habe, während der Beklagte diese langsam überquert habe. Außerdem war es ausgehend von der Darstellung der Zeugin überzeugt davon, dass sich der Kläger dem Beklagten vor der Kollision von oben kommend genähert habe, sich also vor der Kollision räumlich oberhalb des Beklagten befunden habe. Das Berufungsgericht hat der Zeugenaussage damit einen anderen Aussagegehalt entnommen als das Landgericht. Es hat die Aussage der Zeugin abweichend vom Landgericht gewürdigt, ohne sich durch erneute Vernehmung der Zeugin einen eigenen Eindruck zu verschaffen.

c) Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugin erneut vernommen hätte.

Vorliegen eines Gehörsverstoßes – BGH VI ZR 98/22

Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Die Annahme des Berufungsgerichts, der Beweis des ersten Anscheins streite aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und der unstreitigen Bewegungsrichtung der Beteiligten für eine Unfallverursachung durch den Kläger, ist rechtsfehlerhaft. Ein Anscheinsbeweis kommt zwar in Betracht, wenn ein typischer Geschehensablauf feststeht, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten rechtfertigt (vgl. Senatsurteile vom 13. Februar 1996 – VI ZR 126/95, NJW 1996, 1405, 1406, juris Rn. 14; vom 19. Januar 2010 – VI ZR 33/09, NJW 2010, 1072 Rn. 8).

Eine solche Typizität ergibt sich aber nicht allein aus den örtlichen Gegebenheiten und der unstreitigen Bewegungsrichtung der Beteiligten im Streitfall. Den vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen (OLG München, r+s 2017, 660, juris Rn. 16 ff.; OLG Brandenburg, Beschluss vom 4. Februar 2020 – 12 U 112/19, juris Rn. 4) liegen dem Streitfall nicht vergleichbare Sachverhalte zugrunde.

b) Das Berufungsgericht wird bei seiner erneuten Befassung Gelegenheit haben, sich mit der Frage zu befassen, ob der Beklagte – zumal angesichts des Stoppschilds auf dem Ziehweg – das Queren der Piste 97b erst fortsetzen durfte, nachdem er freie Sicht auf die linke Seite der Piste hatte und sich vergewissert hatte, dass sich ihm dort von oben kein Skifahrer näherte. Dies gilt umso mehr, als nach den tatrichterlichen Feststellungen des Landgerichts “im Kreuzungsbereich in der Mitte und auf der rechten Seite, aus welcher der Beklagte kam, viele Skifahrer waren und zum Teil standen, die Übersicht in und auf der Kreuzung dort somit schwierig war”.

c) Das Berufungsgericht wird außerdem Gelegenheit haben, sich mit der Frage zu befassen, ob die FIS-Regel Nr. 3, nach der ein von hinten kommender Skifahrer seine Fahrspur so wählen muss, dass er vor ihm fahrende Skifahrer nicht gefährdet, nur zwischen Skifahrern gilt, die auf derselben Piste talabwärts fahren, oder auch im Streitfall, in dem ein Skifahrer auf einem mit einem Stoppschild versehenen Ziehweg fährt und eine andere Piste quert (vgl. OLG München, OLGR 1994, 97, juris Rn. 5).

Seiters

von Pentz

Klein

Allgayer

Linder

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Schlagworte

Warnhinweis:

Die auf dieser Homepage wiedergegebenen Gerichtsentscheidungen bilden einen kleinen Ausschnitt der Rechtsentwicklung über mehrere Jahrzehnte ab. Nicht jedes Urteil muss daher zwangsläufig die aktuelle Rechtslage wiedergeben.

Einige Entscheidungen stellen Mindermeinungen dar oder sind später im Instanzenweg abgeändert oder durch neue obergerichtliche Entscheidungen oder Gesetzesänderungen überholt worden.

Das Recht entwickelt sich ständig weiter. Stetige Aktualität kann daher nicht gewährleistet werden.

Die schlichte Wiedergabe dieser Entscheidungen vermag daher eine fundierte juristische Beratung keinesfalls zu ersetzen.

Für den fehlerhaften juristischen Gebrauch, der hier wiedergegebenen Entscheidungen durch Dritte außerhalb der Kanzlei Krau kann daher keine Haftung übernommen werden.

Verstehen Sie bitte die Texte auf dieser Homepage als gedankliche Anregung zur vertieften Recherche, keinesfalls jedoch als rechtlichen Rat.

Es soll auch nicht der falsche Anschein erweckt werden, als seien die veröffentlichten Urteile von der Kanzlei Krau erzielt worden. Das ist in aller Regel nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um einen allgemeinen Auszug aus dem deutschen Rechtsleben zur Information der Rechtssuchenden.

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